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ES GESCHAH.../012: Der Anekdotenkammer zwölfte Tür (SB)


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Prinzipienreiter nennen wir einen Menschen, der bei allen Gelegenheiten auf Grundsätze schwört, bis sie, abgenutzt und zu Tode gehetzt, nur mehr Verdruß bereiten. Solch ein schwadronierender Maulheld möchte am liebsten alles in eine Regel packen. Doch vieles begleitet uns gleichsam wie ein Schatten durchs Leben und genießt nicht mehr Wertschätzung als eine Binsenwahrheit. Erst wenn einer Gewohnheit, einem simplen Spiel aus Zufall und Laune, starre Gewalt angetan wird, sie also beginnt, das Leben zu bevormunden, entblößt sich hinter dem Prinzip der eigentliche Geist der Besserwisserei.

Auch im Schachspiel gibt es Fälle von Pathos und Penetranz. Aus einer einfachen Spielregel wird dann in den Händen eines abgefeimten Interesses ein Gesinnungsstandpunkt mit weitreichenden Konsequenzen, sobald sich die Regel auf das Leben wirft. Alle Figuren auf dem Brett sind gleich. Das ist keine Romantik oder Gleichmachermystik. Der sogenannte Wert der Figuren hat bloß akademischen Charakter und soll, so verstanden und darauf beschränkt, lediglich verhindern, daß ein laienhafter Spieler den Abtausch der Figuren willkürlich vornimmt.

Ohne triftigen Grund soll also niemand einen Turm für einen Springer oder einen Läufer für einen Bauern hergeben, weil damit das provisorische Konzept eines Gleichgewichts der Kräfte einseitig verschoben wird. Und doch sind Situationen auf dem Schachbrett denkbar, wo eine Dame den Wert eines Bauern nicht im mindesten aufwiegt, weil ebendieser Bauer beispielsweise in vorgerückter Position zur Brechkante für das Mattsetzen des gegnerischen Königs dienen kann.

Alten Schachfüchsen ist damit nichts Neues gesagt. Ein Wert ist immer wandelbar und hängt von der jeweiligen Situation seines Nutzens ab. Wird der Wert jedoch zu einem unantastbaren Prinzip erhoben und als Sinnbild auf das menschliche Miteinander übertragen, ergeben sich daraus gefährliche Verwechslungen, wie zu ersehen in der heutigen Anekdote der zwölften Tür.

Die Unverletzlichkeit des Königs, also die Regel, daß dieser Spielstein niemals geschlagen und damit vom Brett entfernt werden darf, hat in der allegorischen Literatur des Mittelalters merkwürdige Blüten getragen. In der Überbewertung des königlichen Standes diente es als Paradebeispiel für eine "von Gottes Gnaden" bevorrechtete Position des Königs gegenüber seinen "Untertanen". Immer schon haben Apologeten gesellschaftlicher Mißstände Zuflucht genommen zu Begründungen, die im Nachhinein ins Wirken der Natur, in den Lauf der Sterne oder ins Regelwerk der Spiele hineininterpretiert wurden.

So hat sich diese Königsregel im Kreise ritterlicher Tugenden gerne als etwas aufgeplustert, was es weder im Spiel selbst noch in der Wirklichkeit darstellte. Die innere Verwobenheit von Sprache, Gesellschaft und zivilen Lebensstrukturen machte es möglich, daß Anekdoten und Erzählungen im bunten Fabulierstil niedergeschrieben wurden, deren innewohnende Funktion sich in der Überhöhung des Herrschaftsgedankens durch sakrale oder profane Ausschmückungen erschöpfte.

Eine solche Fehlplazierung des Königsgedankens finden wir in der "Geschichte und Chronik der Normandie", die auf das Jahr 1589 datiert wird. Die Begebenheit, von der zu erzählen sein wird, stammt indes aus dem Jahre 1119. Zur Geschichtskenntnis sei gesagt, daß die historische Provinz den dänischen Normannen seit dem 9. Jahrhundert als Durchzugs- und Siedlungsgebiet diente. Im Jahre 911 belehnte König Karl der Einfältige von Frankreich den Normannenherzog Rollo mit dem Gebiet um die untere Seine. Mit der Vasallentreue hielten es die Normannen indes nicht so genau, und als Herzog Wilhelm 1066 mit seinen Truppen nach England übersetzte und sich dort zum König ausrufen ließ, entbrannte auf dem europäischen Kontinent der Streit zwischen Frankreich und dem normannischen Mutterland.

Als die Franzosen im Jahre 1119 nach einer empfindlichen Niederlage bei Brenneville vor dem Herzog der Normandie flüchteten, geriet der Kapetinger und König der Franzosen Ludwig der Dicke in einen Hinterhalt. In die Enge getrieben, faßte ein normannischer Ritter das Pferd des Königs am Zügel und rief siegesgewiß aus: "Der König ist gefangen!"

Allein, diesen Vorwitz bezahlte er mit dem Leben, denn Ludwig der Dicke, in Schachdingen offenbar gewandter als in der Kriegskunst, entgegnete auf diese Anmaßung: "Weißt du denn nicht, daß der König nicht einmal im Schachspiel gefangen werden kann?"

Vielleicht hatte der normannische Krieger über die Bedeutung dieses Ausspruchs einen Augenblick zu lang nachgegrübelt, denn ehe er den Sinn der Worte begriff, spaltete ihm der Streitkolben des französischen Königs den Schädel. Ludwig der Dicke entkam in die Freiheit, und unter der Fahne von Philipp II. eroberten die Franzosen im Jahre des Herrn 1204 das normannische Lehen zurück. Während des 100jährigen Krieges kam die Normandie von 1417 bis 1450 erneut unter normannische Oberhoheit, ehe sie bis auf den heutigen Tag in französischer Hand blieb.


Erstveröffentlichung am 09. Januar 1996

06. März 2007


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