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ES GESCHAH.../013: Der Anekdotenkammer dreizehnte Tür (SB)


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Als die beduinischen Horden in der Mitte des 7. Jahrhunderts in das persische Großreich einfielen und innerhalb eines Dezenniums den letzten Widerstand brachen, blieb in der Folgezeit der islamischen Kolonialisierung nicht aus, daß die beiden Völker, deren gegenseitiges Tuchfühlen bis dahin eher in gelegentlichen Grenzplünderungen zum Ausdruck gekommen war, sich in Kultur, Religion und Weltanschauung aufeinander zubewegten. In der Vergangenheit hatte die Wüste die Araber vor persischem Hegemonialstreben geschützt, wie andersherum die Zerstrittenheit der Beduinenstämme die Perser vor einer arabischen Heimsuchung bewahrte.

Nachdem Arabien jedoch unter der grünen Fahne des Propheten geeint war, drangen die Kamelreiter über die weiten Wüsten hinaus in die Nachbarländer, eroberten Palästina, Syrien und Ägypten in einem Handstreich, probten den Überfall auch gegen das Byzantinische Reich, das den Angriffswellen allerdings wacker standhielt, und überrannten schließlich das seinerzeit längst morsch gewordene persische Großreich, wo sich der Islam in einem schismatischen Konflikt später in die schiitische Glaubensrichtung verzweigte.

Der Eroberung folgte aufs unvermeidlichste die politische Durchdringung auf den Fuß, zumal die abbasidische Sippe, verwandt mit der Prophetenfamilie, von 750 bis 1258 eine Kalifendynastie in Bagdad errichtete, indem sie sich mit einem altpersischen Adelsgeschlecht die Herrschaft teilte.

Die Enklave arabischer Herrscher regierte Persien mit strenger Hand, denn das Land war stolz und doch voller Widersprüche. Durch Persien liefen seit jeher vieler Handelsrouten wie die Seidenstraßen, und so hatte sich im Zweistromland ein buntgemischtes Glaubenskonglomerat eingenistet. Der Islam, der nur die Buchreligionen der Thora und des Evangeliums neben sich duldete, bekämpfte die andersartigen Kosmologien und Lebensgemeinschaften wie beispielsweise die Manichäer mit Feuer, Schwert und blutigem Ingrimm. Auch das Alltagsleben erfuhr eine nachhaltige Zäsur nach den Buchstaben des Koran.

Der Islam verabscheut das Glückspiel nicht weniger als den Götzendienst, weil es die Gebote Allahs gleichsam mit satanischen Einflüsterungen entweihe. Zufall und Würfelglück heben in den Augen strenggläubiger Muslime das Kismet oder, in abendländischer Zunge gesprochen, die Vorherbestimmung auf.

Wie in jeder Religion lag dem säkularisierten Verbot ursprünglich eine weise Entscheidung zugrunde. Der Prophet Mohammed mußte erkennen, daß die Spielleidenschaft die Menschen zuweilen bis an den Bettelstab verarmen ließ, worunter vorwiegend die Frauen und Kinder zu leiden hatten. Zu ihrem Schutz und weil in der Stadt des Propheten, in Medina, die Bereicherung des einzelnen gegenüber der Gemeinschaft, der umma, undenkbar gewesen wäre, fielen alle Glücksspiele unter den prophetischen Bannspruch.

Die Perser besaßen zwei vornehme Spiele, als die Araber sich die fruchtbare Tiefebene zwischen Euphrat und Tigris unterwarfen. Das Nardspiel, eine Art Brettspiel mit Würfeln, und das in Indien einst beheimatete, von den Persern jedoch zur Reife gebrachte Schachspiel, das in späteren Jahrhunderten von den Arabern über Spanien und Sizilien ins Abendland gelangte, wo es in der Renaissancezeit abermals eine Verfeinerung der Regeln erfuhr.

Zunächst nahmen die Araber das Schachspiel ebenso ungnädig auf wie das Nardspiel, von dem in unseren Tagen nur noch wenige Quellen erhalten sind. Nun darf man nicht voreingenommenerweise glauben, die Araber wären rohe, blut- und raublustige Horden gewesen, bar jeder Kultur und Schicklichkeit. In der heiligen Stadt Mekka hatte sich früh in der Geschichte ein feingeschliffener Adel herausgebildet, kaufmannstüchtig und gewitzt und mit einer poesievollen Zunge begabt. Und was die Zunge an Weisheiten hervorbrachte, bewahrte der Papyrus für spätere Generationen.

Gelehrsamkeit war ihr Erbteil, und als sie Persien dem Islam gefügig machten, unterzog man auch die persische Kultur einer kritischen Überprüfung. Die Araber waren ein geradezu lernbeflissenes Volk und begierig darauf, sich fremde Wissensschätze einzuverleiben. Man erinnere sich, die griechischen Klassiker und Philosophien sind wesentlich über die arabische Kultur auf uns gekommen. Sie besaßen nicht bloß Tempel oder Moscheen zur Verherrlichung Allahs, sondern übten sich auch mit Hingabe an der Auslegung von Texten und Schriftrollen, die ihnen beispielsweise in Ägypten zuhauf in die Hände fielen. Der erste Appell im Koran, dem heiligen Buch des Islam, lautet daher auch: Lese! Lerne!

Das Schachspiel kennt keine Würfel, und das war sein Glück, denn nachdem sich die islamischen Gelehrten und geistlichen Führer von der Unbedenklichkeit des Königlichen Spiels überzeugt hatten, duldeten sie es nicht nur mit einem gefälligen Augenzwinkern, sie stürzten sich vielmehr mit einer so wilden Leidenschaft darauf, die den Propheten, hätte er zu dieser Zeit noch gelebt, erzürnt und wohl zu einer Untersagung des Schachspiels bewogen hätte.

Die Araber spielten das Schach nach den alten Regeln. Bis auf den Turm und den Springer zogen die Figuren, vom heutigen Schach aus betrachtet, in weniger langschrittigen Arten. Insbesondere das Problemschach, also die Enträtselung einer Stellung hin zur schnellstmöglichen Mattfolge, stand bei ihnen in hoher Blüte.

Versunken in die Tiefgründigkeit einer Position, konnten arabische Adlige und Kaufleute, denn nur solchen war die Verschwendung der Tageszeit möglich, Stunde um Stunde am Schachbrett brüten und grübeln, sich die Stirn mäanderhaft runzeln oder sich die Haare vor Verzweiflung raufen. Das Spiel war ihnen geradezu wissenschaftliche Lust und Herausforderung, um es bis ins tiefste Wesen hinein zu ergründen, und dieser Ansporn ließ viele den Kopf verlieren, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.

So mancher Kaufmann verspielte in einer einzigen Nacht beim Figurenrücken Hab und Gut, auch wenn Wettspiele Allahs Geboten eigentlich zutiefst zuwiderliefen. Doch Leidenschaft duldet weder Gebot noch Mäßigung. Das Schachspiel machte die Menschen reich an Erfahrung, aber zuweilen auch arm an Vermögen. Und mancher bezahlte die Spiellust mit seinem Leben. Wer kein Wettgeld aufbringen konnte, schwor zum Ehrenpfand eben auf sein Blut.

Nun trug es sich zu, daß ein wohlhabender Kaufmann in Damaskus eines Tages Besuch erhielt von einem Reisenden in einem härenen Gewand. Gemäß orientalischer Sitte lud ihn der Hausherr zu Trank und Speise ein. Gastfreundschaft gehört seit jeher in diesem Kulturkreis zu den höchsten Tugenden. Außerdem bot sich so die Gelegenheit, Wissenswertes aus fremden Ländern zu erfahren.

Nachdem Hunger und Durst gestillt waren, fragte der Kaufmann, der ein versierter Schachspieler war, seinen Gast, ob er nicht Lust habe, Seele und Gemüt an einer Schachpartie zu erquicken. Auch sei er bereit, so verkündete er mit einem verschmitzten Lächeln, ein erkleckliches Sümmchen auf seinen Sieg zu setzen, denn er gab viel auf seine Schachkunst.

Da der Reisende jedoch außer seinem schäbigen Gewand nichts Wertvolles bei sich hatte, wehrte er das Ansinnen des Kaufmanns mit vielerlei Gesten und Gebärden ab. Der Kaufmann besann sich jedoch auf eine List und sprach: "Lieber Freund, laßt Eure Armut nicht zwischen unserem Vergnügen stehen. Verliere ich, so erhaltet Ihr einen Beutel Gold von mir, und gewinne ich, so seid auf einen Monat mein Gesellschafter."

Der Reisende war von diesem Vorschlag sehr angetan und schlug in die Wette ein. Auf einen Wink hin trugen schwarzhäutige Diener ein reichverziertes Brett und Figuren aus Elfenbein herein. Der Kaufmann und sein Gast setzten sich gegenüber und erprobten die Stärke des anderen mit Finten und Winkelzügen. Als der Reisende schließlich nach etlichen Datteln und Krügen voller Kamelmilch "Schachmatt" ausrief, fielen dem Kaufmann beinah die Augen aus den Höhlen. Sein Gast war ohne Zweifel ein seltener Virtuose des Schachspiels.

Der Beutel Gold wechselte den Besitzer. Als sich der Reisende von seinem Kissen erheben wollte, um seinen Weg fortzusetzen, hielt ihn der Kaufmann am Ärmel fest und forderte eine Revanche. Die Verzögerung in der Gebärde seines Gastes bemerkend, schlug er ihm einen neuerlichen Wettpreis vor: "Euer Beutel und ein Monat Eures Lebens gegen den zehnfachen Lohn." Die Leidenschaft hatte den Kaufmann an den Haaren gepackt.

Sein Gast gab nach, setzte sich nieder und gewann nach zwei Dutzend Zügen abermals. Nun schlich sich Verärgerung in die Miene des Kaufmanns. Sein Sieg war, so wollte er es in seiner Eitelkeit glauben, nur um die Breite eines Haares verpatzt worden. Um den Reisenden zu einer dritten Partie zu bewegen, erhöhte er den Siegespreis auf eine schwindelerregende Summe: "Alles, was Ihr an Gold gewonnen habt, und ein Monat Eures Lebens gegen meine Karawanen."

Die Augen des Reisenden funkelten wie lodernde Diamanten in seinem von der Wüstensonne gegerbten Gesicht. Doch auch die dritte Partie ging für den Kaufmann verloren. "Mein Haus und all meine Besitztümer gegen Euren Wettgewinn und einen Monat Eures Lebens!" Erneut mußte sich der Kaufmann geschlagen geben. "Mein Harem für eine weitere Partie, nur laßt mir meine Lieblingsfrau, damit sie mich trösten kann, sollte ich wieder verlieren. Mein Herz ist ihr sehr zugetan."

Der Reisende nickte. Inzwischen war es Nacht geworden, und eine Unzahl von Fackeln und Kerzen warf flackerndes Licht auf das Schachbrett. Die Aufregung hatte sich im Haus wie eine Krankheit ausgebreitet, und die Dienerschaft, besorgt um ihren Herrn, der Partie um Partie sein ganzes Vermögen verspielte, war zu seiner Lieblingsgattin gerannt, um Nachricht zu geben von dem schweren Unglück, das über das Haupt des Kaufmanns gekommen war.

Dillaram hieß die Zauberhafte. Sanfte Augen aus saphirenem Licht ruhten in einem milchigglänzenden Gesicht. Ängstlich eilte sie zu ihrem Herrn, doch als sie seine Gemächer betrat, wurde sie Zeuge, wie ihr Herr sein Letztes gab für eine weitere Partie: "Nehmt meine Seele als Pfand. Sollte mich das Unglück auch in der letzten Partie nicht aus seinen Fängen lassen, gewinnt Ihr Dillaram, mein Herzjuwel. Sie setze ich gegen mein verlorenes Vermögen. Verwehrt mir diese Bitte nicht. Nun ist es an Euch, gnädig zu sein."

Der Reisende lächelte über die Mundwinkel, als er die Schöne erblickte, und machte seinen Zug. Dillaram setzte sich an die Seite ihres Gemahls und verfolgte mit bangen Blicken den Werdegang der Partie. Schon senkte sich der Schatten der Niederlage auf den Kaufmann, als seine Gattin, ehe er die falsche Figur ergriff, dazwischenrief: "Opfert die Türme und rettet Euer Weib!"

Geschwind zog der Kaufmann wie befohlen, und wahrlich, der Sieg war sein. Ein Felsen stürzte in die Tiefe und ließ ihn von Herzen aufatmen. Nahe am Abgrund hatte ihn die Weisheit seiner Gattin zurückgerissen. Der Reisende lächelte und sprach: "Eure Gattin hat einen scharfen Verstand und ein treues Herz. Sie hat mich besiegt, obwohl Ihr mein Gegner ward. Ich bin ein Derwisch auf Wanderschaft und weltlicher Besitz ist mir verhaßt, so nehmt Eure Güter zurück und schenkt mir eine letzte Gunst. Erlaßt mir den Monat meines Lebens, der Euch zustünde, damit ich noch heute weiterziehen kann."

"Friede sei mit Euch, Derwischbaba", erwiderte der Kaufmann mit vor Freude bebender Stimme. Derwischbaba, so nennen die Muslime ehrfurchtsvoll einen Wahrheitssucher. Der Kaufmann sollte nie wieder gegen Fremde Schach spielen. Nur mit Dillaram, seiner schönen und gescheiten Gattin, teilte er fortan die Mußestunden am Brett.


Erstveröffentlichung am 23. März 1996

7. März 2007


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