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ES GESCHAH.../019: Der Anekdotenkammer neunzehnte Tür (SB)


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Der Schweizer Schachmeister Henry Grob war von Berufswegen Buchhändler und Maler. In Zürich besaß er einen kleinen Laden , wo man auch seltene Bücher erwerben konnte. Wie ein Magnet wirkte dieser Laden auf Bibliomanen, denen Bücher und das geschriebene Wort verstorbener Schriftsteller, dieses Vermächtnis dahingeflossener Gedanken und tiefster Einsichten mehr bedeuteten als der mattglänzende Widerschein des Alltags.

Der Buchladen war eine eigene Welt des Geheimnisvollen, in die Meister Grob hinabtauchte wie ein Perlenfischer auf den Meeresgrund, um sich dort in fast andächtiger Keuschheit jenen Geistern verwandt zu fühlen, die die Vergänglichkeit durch das Wort zu überwinden suchten, weil sie in ihrem Eifer für die Zukunft schrieben. Unsterblichkeit der Gedanken, ja, ein jedes Buch atmete diese Hoffnung, diesen Dunst.

Und lag es daher nicht nahe, daß ein Buchhändler sich dem Schachspiel mit derselben flammenden Leidenschaft widmete? Gewiß doch, schließlich strebte ein Schachmeister stets dahin, das Verborgene zu entdecken. Jede Partie, von einem Meister gespielt, war zugleich auch ein Trotzen gegen die vergängliche Welt.

In Schachkreisen geriet Meister Grob jedoch in Mißkredit, da er sich insbesondere für die Spielbarkeit des später nach ihm benannten Eröffnungssystems 1.g2-g4!? einsetzte. Nicht wenige Kritiker sahen im Grobschen Angriff einen Wahnsinnszug, der so fernab der Integrität der Theorie lag, daß dieser sich zuweilen die gehässigsten Bemerkungen und spottlustigsten Blicke seiner Zunftgenossen gefallen lassen mußte.

Dabei war Meister Grob alles andere als ein gedankenwirrer Kauz. Immerhin gewann er 1937 das Turnier in Ostenede gemeinsam mit Reuben Fine und Paul Keres. Und auf der Seite der von ihm Bezwungenen standen so ruhmbekränzte Häupter wie Efim Bogoljubow, Jacques Mieses, Jan Hein Donner, Paul Keres und Miguel Najdorf.

Auch als findiger und tiefgründiger Autor half er mit, das Schach mit literarischer Feder populärer zu machen. Reizvoll und an Hintergrundwissen nicht arm schrieb er sein Werk "Die Eröffnungen in der Schachpartie unter Anwendung des Kampfplanes" - ein Muß für lesevergnügte Stunden.

Seine besondere Hingabe galt jedoch dem Fernschach, wo er einen wertvollen Beitrag leistete zur Erforschung auch der stiefmütterlich verschmähten Kindern der Schachtheorie. So brachte er es mit unermüdlichem Fleiß in 33 Korrespondenzjahren zum stattlichen Weltrekord von 3614 gespielten Fernpartien, und zwar mit sichtlichem Erfolg. In 2703 Begegnungen ging er als Sieger hervor, 481 Partien endeten mit einem Remis und nur 430mal mußte er die Briefe mit den Worten 'ich gebe auf' signieren.

Die Begebenheit, welche hinter der neunzehnten Tür der Anekdotenkammer ans Licht drängt, trug sich 1936 in Ostende zu, einem belgischen Fischereihafen und Seebad an der Ysermündung. Meister von hohem Rang waren zu dem Turnier erschienen, unter denen Meister Grob sich vorkommen mußte wie ein ungeschliffener Stein unter lauter Diamanten. Erst im Jahr darauf sollte er den Wettkampf in Ostende gewinnen und sich 1939 zum Schweizer Landesmeister aufschwingen.

Bisher war Meister Grob nicht sonderlich in Erscheinung getreten. Sein Spiel war zwar ohne Erfindungswitz nicht. Doch fehlte seinen Partien der großmeisterliche Elan. Etwas schwerfällig und knöchern schleppte sich seine Partiekonzeption zuweilen dahin. Und nicht allzu häufig berührte ihn die Muse des Schöpferglücks. Nichtsdestotrotz gab Meister Grob sein Letztes und Äußerstes, um den unbehauenen Stoff stiller, brachliegender Gedanken immer wieder in jene Regionen zu peitschen, wo die Genien ihre Wohnstatt hatten.

Dieser Wille lag wie ein dunkler Schatten auf seiner Gestalt, auf seiner Miene, auf seinen Gesten. Man sah ihm an, daß er schlechterdings um das Höchste rang. Gerade beugte sich Meister Grob in einer Turnierpartie tief über das Schachbrett und sann mit starrer Verbissenheit darüber nach, wie er das entstandene Turmendspiel, von dem er überzeugt war, daß es für ihn auf Gewinn stand, fortführen sollte. Da bemerkte er aus den Augenwinkeln plötzlich einen adrett gekleideten Herrn, der mit fiebernder Neugierde das Endspiel verfolgte. Meister Grob begann sich ein wenig unwohl zu fühlen in seiner Haut. "Was beäugt mich dieser Kiebitz nur so hartnäckig", dachte er bei sich und kreuzte kurz die Blicke mit dem Unbekannten.

In dessen Augen lag eine unendliche Ruhe, ein Wissen, so tief und unerschütterlich, daß der Schweizer Meister unwillkürlich zusammenzuckte. Schon glitt ein Lächeln, wie es kein Augure auflegen konnte, auf das feingeschnittene Gesicht des anderen.

Meister Grob wandte ein wenig durchschaudert den Blick von ihm ab und widmete sich erneut mit feuriger Entschlossenheit dem Spiel seiner Türme, die je und je in die gegnerische Stellung hineindrangen, Drohungen aufwarfen, die kaum zu parieren waren, aber eben nur kaum, denn was Meister Grob auch an Spitzfindigkeiten ersann, auf dem Brett schlich sich immer wieder das ihm so verhaßte Gleichgewicht der Kräfte ein.

Unruhig geworden, suchte sein Blick das Auge des Unbekannten, der wie ein Säulenheiliger dastand, stolz, unnahbar in einem Wissen, das Meister Grob offenbar zu fehlen schien. Sich räuspernd gab der Schweizer zu erkennen, daß er die Blicke des Zaungastes für aufdringlich hielt und nichts sehnlicher wünschte, als mit seinen Gedanken alleingelassen zu werden. Der Kiebitz dachte jedoch nicht im Traum daran, das Weite zu suchen, stand weiterhin wie ein Felsblock da, als erwarte er ein ganz bestimmtes Ergebnis.

So zog sich die Partie erneut eine geschlagene Stunde hin, und die Abendsonne senkte sich bereits mit trägen Flügeln gegen den Horizont, aber der Unbekannte wich nicht von seinem Platz. Schließlich trat ein anderer Meister zu ihm, und beide flüsterten sich Vertraulichkeiten zu.

Unwirsch wandte Meister Grob den Blick ab und eine gelinde Verzweiflung bemächtigte sich seiner, denn noch immer hatte er das siegreiche Manöver nicht gefunden, von dessen irgendwo in dieser Stellung verborgenen Existenz er insgeheim überzeugt war.

Nach einer Weile gesellte sich ein Freund zu Meister Grob und flüsterte ihm mit einem Seitenblick auf den neugierigen Kiebitz zu, daß die Stellung, mit der er sich so hoffnungslos abmühte, tot und remis sei. Das habe dieser Herr gesagt, murmelte ihm sein Freund ins Ohr und ging wieder.

Meister Grob schnaubte und wischte den Einwand ärgerlich beiseite. Das wird ja immer bunter, grollte er in sich hinein, wenn nun auch schon irgendein Schlauberger von Kiebitz mit seiner Meinung hausieren ging.

Nun gelang es Meister Grob jedoch trotz reichlich vergossenen Gedankenschweißes nicht, das Turmendspiel zu einem Sieg zu führen. Nach 104 Zügen und etlichen durchquälten Stunden einigte er sich mit seinem Gegner auf ein Unentschieden. Im selben Augenblick sah Meister Grob, und seine Verärgerung wuchs ins Maßlose, wie sich der Unbekannte zufrieden die Hände rieb.

Sein Blut kochte, und schon war er drauf und dran, sich diesen Herrn vorzuknöpfen, als ihm sein Freund in den Weg trat und, ihn am Arm ziehend, beiseitezog. Warum, fragte dieser mit Nachdruck, habe er s-e-i-n-e-m Urteil, und mit einem Kopfnicken wies er zur eleganten Gestalt des Unbekannten hin, der sich nun gelangweilt entfernte, mißtraut und statt dessen unnütze Stunden mit einem Endspiel vergeudet, das unter keinen Umständen zu gewinnen war. "Er habe es doch gesagt!" wiederholte sein Freund ungehalten.

Meister Grob fragte mit wachsender Verblüffung, wer denn dieser Herr sei, dessen Wort so viel Gewicht haben sollte. Nun war es sein Freund, der ungläubig den Kopf schüttelte und erwiderte: "Ja, haben Sie i-h-n denn nicht erkannt!"

Die Kinnlade fiel Meister Grob herunter. In seiner Besessenheit, partout siegen zu wollen, war er derart verblendet, daß er tatsächlich den Ex-Weltmeister José Raoul Capablanca nicht erkannt hatte - einen der größten Virtuosen des Endspiels.


Erstveröffentlichung am 16. Februar 1997

02. Mai 2007


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