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ES GESCHAH.../023: Der Anekdotenkammer dreiundzwanzigste Tür (SB)


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Werte über den Haufen zu werfen, die anderen heilig und unantastbar waren, gehörte so unumstößlich zu seinen Charaktereigenschaften, das er darin fast schon zum Dogmatiker wurde. Kaum ein Erdbeben hat die Schachwelt so erschüttert und in ihren Grundfesten erzittern lassen wie das Auftauchen von Aaron Nimzowitsch, des Großmeisters aus Riga.

Aber mit Nimzowitsch betrat nicht bloß ein Schöpfer neuen Gedankentums die schwarzweiß-karierte Bühne des Schachspiels - auch heute noch kommt kein Theoriewerk zum Beispiel ohne seine Lehre vom Blockadespiel aus -, sondern auch ein nonkonformer Geist und Gute-Sitten-Zerstörer.

Nimzowitsch, das war ein nie erschöpfender Aufruhr, ein nur zum Zwecke des Umsturzes ins Leben gehauchter Gedanke, voll der Tatkraft, die einen Menschen auszeichnet, der eine Welt vorfindet und sich an ihr reiben muß aus keinem anderen Grund als ebenden, daß sie ihm zu eng und zu austernhaft verschlossen ist in ihrer scheinbaren Folgerichtigkeit.

Dr. Jacques Hannak, letzter Redakteur der 1938 zum Stillstand gekommenen 'Wiener Schachzeitung', irrte nicht, als er Nimzowitsch ein dornengekröntes Haupt nannte, vom Schicksal dazu ausersehen, wie ein Komet den nächtlichen Himmel zu durchziehen, heller als der strahlendste Stern, nur um dann unverstanden im Rätsel seines Erscheinens wieder unterzutauchen in das Dunkel zwischen den Gestirnen.

Unstrittig zählte Nimzowitsch zu den hellsten Köpfen der Schachzunft zwischen den beiden Weltkriegen. Hinter José Capablanca und Alexander Aljechin behauptete er den dritten Platz in der Rangliste der weltbesten Spieler, obwohl es damals ein solches Wertesystem offiziell noch nicht gab.

Daß er nie auf den höchsten Thron Platz nehmen konnte, hatte mehrere Gründe, aber einer wog am schwersten. Unbeständigkeit, das war sein Fluch und sein Segen zugleich. Unbeständig im Fluche war er dort, wo sein natürlicher Jähzorn an die Stelle seines Denkens trat. Dann spielte er nicht Schach, sondern stritt mit den Göttern des Undanks und der Uneinsicht. Solcherart in Rage gebracht, weil man ihm die seines Erachtens zukommende Anerkennung vorenthielt, verlor er oft den Faden wie jemand, der nicht die Geduld aufbringt, Knoten um Knoten einen Teppich zu Ende zu knüpfen, sondern fordernd wie ein verzehrendes Feuer die Geschicke einer Partie an sich reißen will und dann alles verliert. Geduld, kalt und unverletzlich, das war sein größter Fehlbestand. Wohl hätte er sie auch verachtet. Es widersprach einfach seinem Naturell, um nichts in der Welt im Schildkrötentempo voranzuschreiten.

Das Tugendhafte seiner Unbeständigkeit, der Segen seiner Seele, um es einmal so zu bezeichnen, war, daß er nie Ruhe finden konnte und schon von daher nicht der Versuchung erlag, einen verhärteten Pol in seinem Denken und Forschen entstehen zu lassen. Derwischhaft wie ein Wahrheitssucher durch Wüsten irrend war sein Zorn an der Unvollkommenheit seiner Zeit bestrebt, soviele Grenzsteine wie möglich hinter sich zu lassen und allen Etiketten und Gewohnheiten ins Gesicht zu lachen. Doch diesen idealen Zustand unbefleckten Denkens, den er in sein "System" stecken wollte wie in einen verzauberten Spiegel, fand er nirgends. Einem Geist im stetigen Verneinen war jeder Sinn, geboren aus Notwendigkeit, im tiefsten Herzen spinnefeind.

An Ambivalenz war Nimzowitsch daher von keinem seiner Zeitgenossen zu überbieten, und auch später fand sich niemand, der bereit gewesen wäre, die Wehen auf sich zu nehmen für die Geburt einer neuen und grundlegenden Reformation im Schachspiel. Gleichwohl sich Nimzowitsch als Atheisten des Schachspiels begriff, war er doch ein Zerstörer in Sinne eines Erneuerers. Doch größer und stabiler sollte dieser Tempel in den Himmel ragen, den zu errichten sein Leben indes nicht ausreichte.

Unvollständig wie der Name jener Eröffnung, die er in die Turnierhalle einführte, blieb auch sein Lebenswerk. 'Nimzo- Indische Vrteidigung' sagt man heute, und viele wissen vielleicht nicht einmal, daß Nimzowitsch Pate und Urheber dieses Spielsystems war. Der verstümmelte Name, das war die letzte vornehme Rache der Nachwelt für seine Ungehobeltheiten, die er sich jahrein, jahraus auf Kosten seiner an ihm verzweifelnden Umwelt herausgenommen hatte. Und damit haben wir auch schon die dreiundzwanzigste Tür zur Anekdotenkammer geöffnet.

Wir blicken hinein ins Jahr 1910. Zur Ausrichtung des 18. Kongresses wählte sich der Deutsche Schachbund die altehrwürdige Hansestadt Hamburg. Und auch Nimzowitsch war eingeladen worden. Nun traf es sich, daß der ungebärdige, stets zum Streit aufgelegte Meister aus Riga gegen den Engländer Walter John, seines Zeichens Apotheker aus einer kleinen Provinzstadt, antreten mußte. Zur Person Johns sei gesagt, daß er schon von Berufswegen fast das spiegelverkehrte Gegenteil von dem war, was Nimzowitsch mit jeder Faser seines Seins lebte und verkörperte.

War John penibelst darauf bedacht, jedes Medizindöschen an einem festen, unveränderlichen Platz auf den Regalen zu stellen, so biß sich dies mit der chaotischen Wildheit eines Nimzowitsch, dem nichts so sehr verhaßt war wie Tabulettkrämerei. Wo John in wohlwollender Großzügigkeit jeden Staub von den Dingen seiner Umgebung entfernte, bis alles feinsäuberlich und wie geleckt aufglänzte, da ließ Nimzowitsch Berge von Aschehaufen hinter sich zurück auf seinen brandgeschwängerten Feldzug wider die unvernünftige Schachtheorie.

Aber ein anderer Punkt ließ beide nie einen freundschaftlichen Handschlag wechseln. John hatte sich, trotzdem er nur zur zweiten Garnitur auf dem Hamburger Turnier zählte, mit dem stolzen Schritt eines englischen Kolonialherren in den Kreis der Meister eingeführt. Jeder Zoll an ihm war freundlichst entbotene, aber maskenstarre Arroganz, stand er doch im Lichte des Ehrenkodex seiner Studentenjahre, der ihm gebot, nur mit seinesgleichen gepflegte Konversation zu führen.

Beide, Nimzowitsch und John, waren sich unnahbar fremd in ihren grundverschiedenen Lebensauffassungen, als bewohnten sie nicht denselben Stern. War Nimzowitsch für John ein Dorn im Auge des guten Geschmacks, so empfand Nimzowitsch für John nur den unversöhnlichen Groll eines Freigeistes gegen einen Traditionswächter. Und der Konflikt dieser sich ausschließenden Positionen mußte einen unvermeidbaren Verlauf nehmen.

Als John seinen ersten Zug ausführte, war von Nimzowitsch nämlich weit und breit nichts zu sehen. Anders als Nimzowitsch konnte sich John jedoch, wie eine Schnecke es tut, wenn sie ihren Kopf ins Häuschen zurücksteckt, in die stille Versenkung seiner Gedanken zurückziehen. Also wartete er und wartete, und immer noch war von seinem Gegner Nimzowitsch weder ein Blick zu erhaschen noch ein Wort zu vernehmen.

Allmählich kam in John nun doch Unmut auf. Spielte Nimzowitsch etwa ein Spiel mit seinen Nerven? Unanständig war es, so empfand es der steife Engländer, ihn so schmählichst auf dem Feld der Ehre stehenzulassen, denn das Schachbrett ist ja bekanntlich das abstrakte Abbild eines Schlachtfeldes, ein kleiner Kosmos, worin sich zwei vernunftbegabte Wesen mit Gedanken und Plänen bekriegen.

Nun galt die Regel, daß man innerhalb einer Stunde zur Partie erscheinen mußte, sonst ging der Punkt kampflos an den anderen. Ein Gedanke, mit dem sich John durchaus anfreunden konnte. Doch plötzlich erschien Nimzowitsch 15 Minuten vor Verstreichen der Frist, aber nicht gehetzt und in Eile, sondern mit der Muße eines Menschen, dem keine Zeit, und sei sie noch so knapp und abgrundnah, erschrecken konnte. John setzte eine säuerliche Miene auf und dachte wohl bei sich: 'Manieren wie bei einem Zulukaffer!'

Statt sich auf seinen Stuhl zu schwingen und in Gedankenschnelle seine Züge herunterzurattern, versetzte Nimzowitsch John einen zweiten Hieb, als er mit offensichtlich geheucheltem Interesse an die Ölgemälde trat, die die Wände schmückten, und mit faszinierter Kennermiene eines nach dem anderen in schier unendlicher Gelassenheit b-e-g-u-t-a-c-h-t-e-t-e.

Geheuchelt war sein Interesse allemal. Schließlich ging das Turnier nun schon zwei Wochen. Nimzowitsch hatte freilich Zeit genug gehabt, sich an den Gemälden satt- und stumpfzusehen.

Nun wurde John klar, daß ihn Nimzowitsch mit dieser geschauspielerten Farce zum Narren halten wollte, und sein nobles, englisches Blut geriet in Wut. Ausbrechen lassen durfte er seinen Zorn jedoch nicht, es wäre nicht standesgemäß gewesen.

Endlich trat Nimzowitsch ans Brett, gelangweilt, so, als hätte er Besseres zu tun, als sich die Zeit mit langen Grübeleien totzuschlagen. Nimzowitsch ließ John spüren, daß er keine Notwendigkeit sah, sich der Partie mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu widmen, denn kaum hatte er seinen Zug gemacht, da schritt er auch schon wieder vagabundierend im Raum umher, mal hierhin, mal dorthin, und immer auf der Suche nach lohnenden Studierobjekten für seinen Künstlerverstand.

Bis zum 16. Zug trieb Nimzowitsch dies Spiel und verbrauchte dabei weniger als fünf Minuten Bedenkzeit am Brett. Beim 17. Zug machte er ein feines Bauernopfer und gewann neun Züge später die Qualität. Damit war die Partie im Grunde auch schon entschieden. Aber in John war jeder Funke an Sachlichkeit erloschen. Er sah nur noch, daß seine Ehre auf dem Spiel stand, und so schleppte er die Partie bis zum 82. Zug hin, wo er dann, ermattet und bis ins letzte Knopfloch vernichtet, im Angesicht seines kläglichen Haufens kapitulierte.

Ohne Worte verließ John den Saal, aber auf seinem blassen, gekränkten Gesicht tanzten racheerfüllte Gedanken. Und so kam es, daß am nächsten Morgen zwei wohlgekleidete Herren, Johns Sekundanten, an Nimzowitschs Zimmertür klopften und ihm eine Duellforderung überbrachten.

Nachdem Nimzowitsch über diese veraltete Studenten- und Kavalierssitte in Kenntnis gesetzt worden war, brach er vor Lachen in Tränen aus, setzte dann jedoch plötzlich die ernste Miene eines Verschwörers auf und erklärte sich zur Satisfaktion bereit, nur daß er, und darauf bestand er mit aller Entschiedenheit, zum Duell die blanken Fäuste wähle.

Wenn John unbedingt wolle, so Nimzowitsch, könne er Prügel beziehen, beugte den Arm und wies auf seine harten Muskeln. Anders als der schmächtige Apotheker war Nimzowitsch von kräftiger Statur und durchaus derbem Gemüt, wenn es darum ging, Hiebe auszuteilen. Auch gab er den beiden Sekundanten den wohlwollenden Rat mit, John vor einer erneuten Blamage zu behüten. Derart ins Lächerliche gezogen, sah der englische Meister natürlich von einem rohen, plebejerhaften Fäusteschwingen ab. Es wäre ihm wohl auch nicht gut bekommen.


Erstveröffentlichung am 26. August 1997

9. Mai 2007


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