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MELDUNG/814: In Memoriam Mark Taimanov (SB)


Eine Schachlegende geht


Der Wucherer Tod macht auch vor großen Namen nicht Halt, und was ein Mensch je vollbringt, verfällt zuletzt dem Ewigkeitsvertrag. Nach Viktor Kortschnoj (06.06.2016) und Mark Dworetzkij (26.09.2016) verlor das Schach in der Nacht zum 28. November mit Mark Taimanov einen weiteren weltweit bekannten Schachmeister und Buchautor. Der im Alter von 90 Jahren in St. Petersburg Verstorbene war einer der letzten Jahrhundertzeugen, der nahezu alle wichtigen Etappen und Ereignisse rund um das Königliche Spiel aus erster Hand miterlebt hatte. Auf seinem langen Schaffensweg trug er mit fast allen namhaften Großmeistern des 20. Jahrhunderts Partien aus und begegnete dabei berühmten Persönlichkeiten der Zeitgeschichte wie Winston Churchill, Nikita Chruschtschow und Fidel Castro. Nicht erst seit seiner Tätigkeit als Mitautor bei der im Sportverlag Berlin in den 1980er Jahren erschienenen Buchreihe Moderne Eröffnungstheorie galt Taimanov auch in Deutschland als schachstrategischer Denker von hohem Format.

Daß sich der 1926 in Charkow geborene russische Großmeister der Schachkunst ein Leben lang widmen sollte, war ihm keineswegs in die Wiege gelegt worden. Neben dem Schach schlug in seiner Brust auch eine andere Leidenschaft, die er nicht minder zur Meisterschaft entwickelte. Sein Vater war Ingenieur, seine Mutter Sängerin, so daß ihm das Strengmaß mathematischer Muster und die Hinwendung zur kompositionsreichen Musik quasi als Erbteil mitgegeben wurden. So ist es nicht weiter erstaunlich, daß er mit sieben Jahren an einer Leningrader Musikschule das Klavierspielen erlernte und aufgrund seiner besonderen Begabung im Jahre 1936 in Wladimir Schmidthofs Film "Das Beethoven-Konzert" die Hauptrolle erhielt. Bereits ab seinem 12. Lebensjahr spielte er gemeinsam mit seiner späteren Ehefrau Ljubow Bruk Werke für zwei Klaviere. Das Gespann war so erfolgreich, daß sich an eine umfangreiche Konzerttätigkeit in der Sowjetunion Auslandsgastspiele in der DDR, Ungarn und der Tschechoslowakei anschlossen. Nach der Trennung Anfang der 1970er Jahre setzte Taimanov seine Karriere als Solist fort. Ihre musikalischen Werke hingegen blieben der Nachwelt auf Schallplatten und im Jahre 1998 als Doppel-CD bei Philips in der Reihe "Die größten Pianisten des 20. Jahrhunderts" mit Aufnahmen des Duos Bruk & Taimanov aus den Jahren von 1959 bis 1968 erhalten.

Daß er der Schachwelt ebensoviel zu geben hatte, verdankt sich vor allem dem Leningrader Pionierpalast, wo er als Jugendlicher von keinem Geringeren als dem Schachweltmeister Michail Botwinnik unterrichtet und in die Geheimnisse der Schachkunst eingewiesen wurde. Der Einstieg ins Schachspiel fiel ihm wohl auch deshalb leicht, weil er intuitiv die Wesensverwandtschaft beider Künste begriff. 1952 errang Taimanov den Großmeistertitel und brachte es vom zweimaligen Landesmeister der UdSSR und Olympiasieger bis zum WM-Kandidaten. 1970 beim legendären Wettkampf UdSSR gegen den Rest der Welt besiegte er am siebten Brett der sowjetischen Mannschaft Wolfgang Uhlmann mit 2,5:1,5. Eine eher tragische Figur spielte er allerdings im Jahr 1971 in Vancouver, als er im Kandidatenviertelfinale der US-Legende Bobby Fischer sang- und klanglos mit 0:6 unterlag. Die Konsequenzen daraus waren für Taimanov bitter. Weil sich der Kreml nicht vorstellen konnte, daß ein sowjetischer Denkathlet zudem noch von einem US-Amerikaner derart vernichtend geschlagen werden könnte, unterstellte man Taimanov ein politisches Motiv für seine Niederlage. Daraufhin wurden ihm alle nationalen Titel aberkannt. Außerdem durfte er zwei Jahre lang keine internationalen Turniere mehr besuchen.

Auch als Fischer den dänischen Großmeister Bent Larsen mit dem gleichen Ergebnis niederrang und 1972 den Russen Boris Spassky vom Thron stieß, wurden die Sanktionen gegen Taimanov nur schrittweise zurückgenommen. In dieser Zeit der politischen Schikane und des administrierten Reiseverbots konnte sich Taimanov nur an der Musik aufrichten. Mehr als die Blamage gegen Fischer wirkte der Repressionsdruck in ihm nach und verhinderte, daß er wieder zur Weltspitze zurückkehren konnte. Trotz dieses Knicks in seiner Karriere errang Taimanov noch großartige Siege wie 1977 in Leningrad, als er den amtierenden Weltmeister Anatoli Karpov mit einer Kombination zu Fall brachte, die in keinem Lehrbuch fehlen darf. 1993 veröffentlichte Taimanov sein Buch "Ich wurde das Opfer Fischers", wo er aus seiner Sicht die dramatischen Momente seiner Niederlage gegen den US-Großmeister noch einmal illustrativ dokumentierte. Im Jahre 2003 erschien in St. Petersburg seine Autobiographie, die in deutscher Übersetzung noch nicht vorliegt. Erst in späteren Jahren verschaffte sich Taimanov voll und ganz Genugtuung, als er 1993 und 1994 jeweils Seniorenweltmeister wurde und noch im hohen Alter im Mai 2014 die Taimanov-Schachschule in St. Petersburg eröffnete.

Sein Tod reißt eine große Lücke in die Erinnerungswelten einer Ära, als das Schach in den politischen Wirren der Blockkonfrontation als willkürliches Propagandamittel mißbraucht wurde und damit ältere Traditionen der Durchdringung der Schachmaterie zwischen Ost und West folgenschwer unterbrach. Wertvolles, was es noch zu entdecken gäbe, wird so mit Taimanov für immer begraben. Als historische Persönlichkeit und Wegbereiter vieler Ideen auf dem Schachbrett wird er uns fehlen, aber auch als Mensch, dessen liebenswürdige Art im Kontrahenten nicht den Feind, sondern den Mitstreiter derselben Leidenschaft sah, und der bis an sein Lebensende daran festhielt, daß der erste und letzte Gedanke des Schachspiels das Verbindende, nicht das Zerstörerische ist. Taimanov hinterläßt seine vierte Ehefrau Nadja und zwei Kinder im Alter von 12 Jahren.

30. November 2016


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