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DAS TURNIER/009: Wesley So räumte ab - Tata Steel Masters in Wijk aan Zee (SB)


Nur Platz 2 für den Weltmeister


Wijk aan Zee an der niederländischen Nordseeküste ist alljährlich im Januar das Schachmekka überhaupt. Schon wenn man in die Kleinstadt hineinfährt, spürt man allenthalben, daß das Schachspiel hier eine besondere Rolle spielt und nicht nur ein Ereignis auf dem Terminkalender ist. Davon zeugen die schwarzweiß dekorierten Schaufenster ebenso wie den Weg zur Turnierhalle weisende Straßenschilder.

Begonnen hatte alles 1938 als Hoogovens-Turnier in Beverwijk, wo zunächst nur Einheimische an die Bretter gingen. Doch schon bald entwickelte sich daraus eine schillernde Turniertradition mit weltweitem Renommee. 1946 kamen erstmals internationale Meister dazu, und weil die schwere Nachkriegszeit von Hunger und Entbehrung gezeichnet war, bürgerte sich von da an bis zum heutigen Tag die Sitte ein, daß alle Teilnehmer nach den Abschlußfeierlichkeiten gemeinsam Erbsensuppe essen, so viel wie jeder verträgt.

1968 erfolgte aus Kapazitätsgründen und wegen einer besseren touristischen Einbindung der Umzug nach Wijk aan Zee, aber das Turnier als solches wurde beibehalten. Daran änderte sich auch nichts, als der bisherige Sponsor, der Stahlkonzern Koninklijke Hoogovens, mit British Steel zu Corus fusionierte. In Wijk aan Zee fand in der ersten Januarhälfte dann eben das Corus Chess Tournament statt. Corus wiederum wurde 2007 vom indischen Montanunternehmen Tata Steel aufgekauft mit der Folge, daß im niederländischen Seebad seither das Tata Steel Schachfestival ausgetragen wird. Die Sponsoren wechselten, aber die Turniertradition blieb bestehen, und so konnten die Spiele in Wijk aan Zee in diesem Jahr vom 14. bis 29. Januar bereits in der 79. Auflage ausgerichtet werden.

Eine Besonderheit dabei ist, daß die Turnierleitung stets bestrebt ist, eine Mischung von Weltklassespielern und aufstrebenden Talenten einzuladen. Zudem achten die Organisatoren in der Regel darauf, daß auch Frauen und niederländische Spitzenspieler mit an den Start gehen, so daß sich ein buntes Teilnehmerfeld ergibt, für das Wijk aan Zee in aller Welt bekannt ist. Wenn sich junge Talente in Hollands Schachhochburg auszeichnen, gilt dies praktisch als Visitenkarte für alle großen internationalen Wettkämpfe. Neben dem Masters als spielstärkste Kategorie werden in Wijk aan Zee zahlreiche Turniere verschiedener Leistungsstärken, für Gelegenheitsspieler, Amateure und Semiprofessionelle ausgetragen. Das Challengers fungiert dabei als Qualifikationsturnier für das Masters. Der Sieger des Vorjahres, der 24jährige Inder Baskaran Adhiban, der wie der Ex-Weltmeister Viswanathan Anand aus Chennai stammt, erhielt damit automatisch eine Einladung für das Tata Steel Masters 2017.

Unter den diesjährigen Teilnehmern im Masters waren viele bekannte Gesichter wie der amtierende Weltmeister Magnus Carlsen aus Norwegen, sein russischer Herausforderer aus der WM in New York 2016, Sergey Karjakin, der gebürtige Filipino Wesley So, der seit 2014 unter US-Flagge spielt, das chinesische Nachwuchstalent Wei Yi, der Ukrainer Pavel Eljanov, der Niederländer Anish Giri und natürlich der Allrounder Loek van Wely, der mit seiner 25. Teilnahme am Wettkampf für das nötige Lokalkolorit sorgt, auch wenn er längst nicht mehr zur gehobenen Weltklasse gehört. Neu im Vergleich zum Vorjahr auf der Teilnehmerliste standen neben dem Turnieraufsteiger Adhiban der Armenier und viermalige Turniersieger, zuletzt 2014, Levon Aronian, der Inder Pentala Harikrishna, die beiden Russen Dmitry Andreikin und der unverwüstliche Ian Nepomniachtchi, Radoslaw Wojtaszek aus Polen sowie der ungarische Nachwuchsstar Richard Rapport, der für seinen teils abenteuerlichen Stil berüchtigt ist. Leider gelang es dem Turniermanagement nicht, in diesem Jahr eine Frau fürs Kader zu gewinnen. Im letzten Jahr hatte man mit der weltbesten Frau Hou Yifan aus China noch eine Trumpfkarte gezogen. Im diesem Jahr blieben die Männer unter sich, schade drum.

Das Augenmerk fiel natürlich auf Magnus Carlsen, der nach seiner erfolgreichen Titelverteidigung in New York gegen Sergey Karjakin und nachdem er kürzlich bei den Blitz- und Rapidweltmeisterschaften in Doha zwar zwei Medaillen gewann, aber eben keine goldene, um so erpichter war, zumindest in Wijk aan Zee einen neuen Rekord aufzustellen. Fünfmal hatte er bisher das Traditionsturnier für sich entschieden, gleichauf mit dem Inder Viswanathan Anand. Ein sechster Turniersieg in Wijk aan Zee hätte sein zuletzt etwas ramponiertes Image sicherlich aufgebessert, aber dazu sollte es, soviel vorab, nicht kommen.

Der für die Niederlande spielende Anish Giri galt im Vorjahr als gefährlichster Kontrahent für Carlsen. Aber es blieb bei der Androhung. In der Endtabelle mußte er sich mit dem einem Platz im Mittelfeld arrangieren und auch in diesem Jahr war ihm nichts Besseres beschieden. 2011, als beide zum ersten Mal beim Tata Steel Turnier aufeinandertrafen, konnte Giri mit einem Schwarzsieg in nur 22 Zügen über Carlsen noch für Furore sorgen, aber seitdem hat sich die Aufregung gelegt. Auch die fiebrig erwartete Wiederauflage des WM-Kampfes zwischen Carlsen und Karjakin gehörte nicht unbedingt zu den großen Höhepunkten in Wijk aan Zee.

Aufsehen erregte vielmehr Wesley So, der als einziger Teilnehmer in Wijk aan Zee ohne Niederlage blieb und nunmehr seit Juli 2016 ungeschlagen von einem Erfolg zum nächsten eilt. Der sympathische junge Mann kennt - anders als Carlsen - keine Starallüren, ist streng gläubig und in seinem Auftreten von vorbildlicher Bescheidenheit, kein Drauflosschwätzer oder Rampenlichtakrobat. Um so mehr konzentriert er sich auf das Schachspiel und hat 2016 eine Reihe von großen Turnieren gewonnen wie zum Beispiel den Sinquefield Cup und das London Chess Classic. Auch der Gesamtsieg bei der Grand Chess Tour darf dabei nicht unerwähnt bleiben. Der 23jährige ist äußerst lernbegierig und gilt neben dem US-Amerikaner Fabiano Caruana als heißer Favorit auf den WM-Titel. Das Samford Stipendium erlaubt ihm ein Studium in den USA, wo er in der amerikanischen Gastfamilie um Lotis Key, die ihren "Adoptivsohn" zu den Turnieren begleitet, lebt.

In Wijk aan Zee sicherte sich Wesley So mit einem Letztrundenerfolg über Ian Nepomniachtchi einen souveränen Turniersieg mit einem vollen Punkt vor dem Zweitplazierten Magnus Carlsen, der seine Partie gegen Karjakin nach kämpferischem Verlauf nicht über ein Remis hinaus bringen konnte. Wesley So startet in das neue Jahr ebenso glänzend, wie er das letzte mit einem grandiosen Erfolg in London beendet hatte. In der Vorschlußrunde hatte sich So noch mit einem Remis gegen seinen direkten Verfolger Wei Yi begnügt, was den Kampf um die Tabellenspitze ungleich verschärfte, da Levon Aronian und Carlsen ihre Partien gewannen. Die dreifache Konkurrenz lag nur einen halben Punkt zurück. Doch Wesley So behielt die Nerven und konnte das aggressive Vorgehen Nepomniachtchis frühzeitig auskontern. Mit seinem Sieg über den Russen umschiffte er eine mögliche Entscheidung im Tiebreak. Für Nepomniachtchi, der beim Tal Memorial 2016 noch brillant aufgespielt hatte, war Wijk aan Zee das reinste Waterloo. Sein 12. Platz unter 14 Teilnehmern war nicht nur mager, sondern auch zutiefst enttäuschend, weil er als Einziger im Klassement sieglos blieb und drei Niederlagen hinnehmen mußte.

Carlsen, der gegen Karjakin früh eine Figur geopfert hatte, um den Sieg mit brachialer Gewalt zu erzwingen, scheiterte letzten Endes an der hohen Verteidigungskunst des Russen, der die kritischen Felder abdeckte und zu gegebener Zeit selbst die Qualität gab, um eine sturmfeste Stellung herbeizuführen. An dieser biß sich der Norweger die Zähne aus und mußte schließlich sogar in den Verteidigungsmodus umschalten, um einen halben Punkt zu retten.

Derweil erlitt der zweite Verfolger Levon Aronian einen eklatanten Schiffbruch gegen den Russen Dmitry Andreikin, der seinen Kontrahenten nach allen Regeln der Kunst überspielte und so seinen ersten Sieg in Wijk aan Zee einfuhr. Der Armenier rutschte darauf hinter So und Carlsen auf den 3. bis 5. Platz gemeinsam mit Baskaran Adhiban und Wei Yi. Auch Wei Yi, der mit seinen 17 Jahren als große Nachwuchshoffnung in China gilt, verpatzte seine letzte Turnierpartie gegen Radoslav Wojtaszek. Obgleich er einen Bauern mehr besaß, überzog der junge Chinese seine Möglichkeiten und geriet später durch einen taktischen Einschlag des polnischen Spitzenspielers in eine ausweglose Lage.

Auch der Lokalmatador Loek van Wely mußte bis zur letzten Runde auf seinen ersten Siegpunkt warten, den er gegen den Inder Pentala Harikrishna sicherstellte. Am letzten Tabellenplatz, wie schon im letzten Jahr, änderte dies allerdings nichts.

Während Großmeister von Weltrang in Wijk aan Zee oft mit ihrem Glück hadern mußten, zeigte sich der Vorjahresqualifikant Baskaran Adhiban bei seinem ersten Top-Turnier von seiner besten Seite. Der 24jährige Inder verlor zwar zwei Partien, konnte im Gegenzug jedoch mit vier Siegen aufwarten, darunter auch sein sensationaller Erfolg in Runde 5 gegen den WM-Finalisten Karjakin. Was selbst Carlsen während des WM-Kampfes in New York nicht gelingen wollte, schaffte ausgerechnet die Nummer 102 der Weltrangliste, als er den Russen mit den schwarzen Steinen nach nur 31 Zügen zur Kapitulation zwang. Mit 7,5 Punkten aus 13 Runden hat der Masters-Neuling aus dem südindischen Chennai alle Erwartungen weit übertroffen.

Richard Rapport hingegen mußte tüchtig Lehrgeld zahlen. Sein risikovolles Spiel im Kreis der Elitespieler erregte zwar viel Aufmerksamkeit beim Publikum, aber fünf Niederlagen bezeugen auch, daß seinem Spiel noch die Kontinuität fehlt. Zuviele Fehler vermasselten manche aussichtsreiche Position. Mit 4,5 Punkten blieb dem Ungarn so nur der 13. Platz in der Schlußtabelle. Eine Erinnerung jedoch wird er noch seinen Enkeln erzählen können, nämlich dem amtierenden Weltmeister in Wijk aan Zee die einzige Niederlage aufgedrückt zu haben.

Für Carlsen ein doppelt tragischer Moment, zumal er in der Vorrunde gegen Anish Giri beim 56. Zug eine Mattfolge in drei Zügen glatt übersehen hatte und schließlich nach 123 Zügen noch ins Remis einwilligen mußte. Menschliches Versehen, könnte man sagen, aber gegen den jungen Ungarn kam noch Übermut hinzu. Denn die Stellung auf dem Brett war aus Sicht des Weltmeisters mit den schwarzen Steinen völlig ausgeglichen. Doch wie um das Mißgeschick vom Vortag wettzumachen, setzte Carlsen alles auf eine Karte, um auf Biegen und Brechen auf Sieg zu spielen, und erlitt dabei eine bittere Niederlage gegen Rapport, der bis dahin mit vier Remisen und drei Niederlagen an seinem Außenseiterstatus nicht zu rütteln vermocht hatte. Zum Teil wurde ihm der Sieg eigens vom Weltmeister auf dem silbernen Tablett serviert, aber dessen Niederlage vollendet zu haben war nichtsdestotrotz sein alleiniger Verdienst.

Der 7. Platz mit 7/13 für den Ukrainer Pavel Eljanov war sicherlich unbefriedigend, dem in der Auftaktrunde gegen Rapport der einzige Sieg gelang, der danach Loek van Wely schlug, schließlich gegen Pentala Harikrishna remisierte und in Runde 4 mit seinem Sieg gegen Baskaran Adhiban seine Spitzenposition im Klassement verteidigte. Nachdem er in der 5. Runde gegen Levon Aronian seine erste Niederlage kassierte, spielte er nur noch eine Reihe von Remisen, bis er in Runde 12 von Carlsen aus der Bahn geworfen und so um eine bessere Plazierung gebracht wurde.

Pentala Harikrishna, Dmitry Andreikin und Radoslaw Wojtaszek blieben mit je 6/13 unter der 50-Prozent-Marke und dem eigentlichen Geschehen somit fern. Aus holländischer Sicht enttäuschend war auch das 6.5/13- Abschneiden von Anish Giri auf Rang 8, auf den heiß gewettet wurde, der jedoch mit vielen Remisen und nur einem Sieg bei einer Niederlage im Wettkampf wie unter einer Ladehemmung spielte.

Wijk aan Zee stand ganz im Zeichen von Wesley So, der kritische Stellungen mit einfallsreichem Gegenspiel noch aus dem Feuer riß und sich bietende Chancen kaltblütig ausnutzte. Seine Karriere hat ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Beim Tata Steel Masters 2018 wird man ihn gewiß wiedersehen.

In der Challenger-Gruppe setzte sich derweil der smarte Brite Gawain Jones mit 9/13 dank der besseren Feinwertung vor dem punktgleichen Österreicher Markus Ragger durch. Jones hat damit sein Ticket für das Tata Steel Masters im nächsten Jahr gelöst.


 Endstand 
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
GM
GM
GM
GM
GM
GM
GM
GM
GM
GM
GM
GM
GM
GM
So, Wesley
Carlsen, Magnus
Adhiban, Baskaran
Aronian, Levon
Wei, Yi
Karjakin, Sergey
Eljanov, Pavel
Giri, Anish
Harikrishna, Pentala
Andreikin, Dmitry
Wojtaszek, Radoslaw
Nepomniachtchi, Ian
Rapport, Richard
Van Wely, Loek
USA
NOR
IND
ARM
CHN
RUS
UKR
NED
IND
RUS
POL
RUS
HUN
NED
9.0
8.0
7.5
7.5
7.5
7.0
7.0
6.5
6.0
6.0
6.0
5.0
4.5
3.5
Punkte
Punkte
Punkte
Punkte
Punkte
Punkte
Punkte
Punkte
Punkte
Punkte
Punkte
Punkte
Punkte
Punkte

31. Januar 2017


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