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SCHACH-SPHINX/05344: Zeitalter moralischer Traktate (SB)


Meister Ingold, ein im 15. Jahrhundert lebender Mönch des Dominikanerordens, ist der Geschichte nicht nur wegen seines Predigerfleißes in Erinnerung geblieben. Wie es sich für einen echten Gottesmann gehörte, geißelte er die Sünden all die Tage und all die Nächte, wobei er jedoch auch nicht vergaß, die Tugenden, die im Menschen schlummerten, aus ihrem ängstlichen Schlaf zu erwecken. Im Jahre des Herrn 1450 setzte sich Meister Ingold zu Augsburg an seinen Schreibtisch und verfaßte eine Handschrift über das 'guldin Spiel'. Später, 1472, brachte sie Günther Zeiner aus Reutlingen zu Druck. Meister Ingold stellte in seinem goldenen Spielbuch die sieben Hauptsünden sieben seiner Meinung nach im Menschen Besserung bewirkenden Spielen gegenüber. So besaß jedes Laster in der Brust des Menschen eine Arznei in der Welt, dies war ein Spiel, und jedes nach seiner Verfassung sei imstande, eines der sieben bösen Wurzeln auszurotten. Gegen die Hoffart der Seele empfahl Meister Ingold das Schachspiel, da es die Gedanken läutere und der Mensch im Schach außerdem erkenne, wie gering sein Denken sei zur Allmacht Gottes. Moralisierende Traktate dieser Art muß es zu jener Zeit viele gegeben haben. Tenor all dieser Schriften war, das Schach in allegorischer Umkleidung zum Schlüssel der Belehrung in Fragen christlich sittsamer Lebensweisen zu machen. Über das Jahr 1500 hinaus treffen wir auf keine weiteren Zeugnisse dieser Ausprägung von Moralschriften. Beihilfe zur Verbreitung des Schachspiels haben sie zweifelsohne geleistet, wenngleich ihr Sinn auf einen anderen Zweck ausgerichtet gewesen war. Im Schatten der Kirche überlebte das Schach jedenfalls viele Anfeindungen, denen andere Spiele, als Glücks- und Judasspiel verteufelt, zum Opfer fielen. Nachdem Meister Talasterä seine Partie mit den schwarzen Steinen im heutigen Rätsel der Sphinx gegen Meister Kurho auf lehrreiche Weise verloren hatte, war er auf jeden Fall von seiner Hoffart geheilt. Kannst du dir vorstellen, Wanderer, nach welchem Schlag und Schock ihm die Einsicht zur Besserung kam?



SCHACH-SPHINX/05344: Zeitalter moralischer Traktate (SB)

Kurho - Talasterä
Helsinki 1983

Auflösung letztes Sphinx-Rätsel:
Judit Polgar ließ sich vom Springerschach nicht aus der Ruhe bringen, dachte einen kurzen Augenblick nach und zog dann mit selbstsicherem Glanz in den Augen 1...De6xf5! Meister Mestel schluckte schwer. Was tun? so fragte er sich bang, denn 2.Dc2-d2+ Df5-g5 3.Dd2xg5+ Kh6xg5 4.Le4-g2 Lg7-c3 war völlig hoffnungslos. So zog er sich lächelnd die Narrenkappe über, nahm die schwarze Dame mit 2.Le4xf5 und fügte sich dem Matt: 2...Tf2xh2+ 3.Kh1-g1 Lg7-d4# Wer wird nicht gern so charmant besiegt!


Erstveröffentlichung am 30. Januar 2002

04. Januar 2015





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