Schattenblick → INFOPOOL → SCHACH UND SPIELE → SCHACH


SCHACH-SPHINX/05420: Ominöse Größen und Geister (SB)


Wie weit geht die Verantwortlichkeit für die Züge, die ein Schachspieler auf den Brett ausführt? Die Frage mutet im ersten Augenblick ein wenig seltsam an, und doch verbirgt sich dahinter ein ernster Zusammenhang. Natürlich ist hier nicht die Rede von einer rechtlichen oder moralischen Verantwortung. Es geht um nichts geringeres als die Frage, inwieweit eine Partie den inneren Wertewandel eines Menschen widerspiegelt: die Partie als Studie philosophischer Erkenntnisse also. Wir sind es gewöhnt, die Grenzen unserer Verantwortung am Werdegang der Welt zu reflektieren. Und dieser Werdegang wird als Endzweck jeder Aktivität unausgesprochen vorausgesetzt. In diesem Sinne konzipieren wir das Schachspiel zu einer Reflektionsfläche um, an die dann, meist unbewußt, unsere Denkmöglichkeiten abgelichtet werden. Der Schachspieler ist also größtenteils damit beschäftigt, sich in Übereinstimmung mit den im voraus akzeptierten Parametern für sein Denken zu bringen. Und wegen dieser Unbekümmertheit wird die Partie für viele Schachspieler zu einer von ihm auf Distanz gehaltenen Angelegenheit. Er tut einen Zug, lehnt aber die innere Verantwortung für die Konsequenzen ab, indem ein Zufall, ein Pech oder krasserweise eine Art von Schachblindheit heraufbeschworen wird, sobald sich der Zug als Fehler herausstellt. Auf eine mystische Weise wird die Verantwortung für die Tat auf dem Brett ominösen Größen oder Geistern übertragen. Dieser abergäubische Kern im Menschen, Relikt archischen Bewußtseins, nagt am Verhalten vieler Schachspieler wie eine widerspenstige Wunde, die durch keine Aufklärung, kein vernünftiges Wort zum Verheilen gebracht werden kann, zumindest solange nicht, wie die Verantwortung im eisernen Griff äußerer Zwänge und Bedingungen hängenbleibt. Um ein praktisches Beispiel zu nehmen: Nach einer enttäuschenden Partie greifen zumal Laienspieler, aber auch Meisterspieler gern zu der Ausrede, nicht genügend vorbereitet gewesen zu sein, vielleicht auch, die Analysen oder theoretischen Vorgaben für eine bestimmte Variante nicht hinreichend im Gedächtnis gehabt zu haben. Im kritischen Licht besehen läßt sich hier ein Fall von grober Irrationalität ausmachen, der in weiten Strecken das Vorgehen auf dem Brett beherrscht, auch wenn man sich dessen für gewöhnlich nicht bewußt wird. Irrational war im heutigen Rätsel der Sphinx auch der nächste weiße Zug. Meister Matochin hätte nun mit 1.Kg5-f6! einen gefahrlosen Remispfad betreten können. Statt dessen verfiel er auf die absurde Idee mit 1.De3-f4? und verlor erklatant. Kannst du den irrationalen Fehler nachweisen, Wanderer?



SCHACH-SPHINX/05420: Ominöse Größen und Geister (SB)

Matochin - Kuzmin
UdSSR 1970

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Meister Garcia ärgerte sich hinterher schwarz, aber alle nachträgliche Reue half nichts. Mit 1...h7-h6? hatte er einen Bock par excellence geschossen. Sein Kontrahent Flear bestrafte den Irrtum mit 2.Lb5xc6 b7xc6 2.Td1-d6!, worauf Garcia sofort aufgab, denn es drohte 3.Td6xh6+, was nur durch 2...Kh8-h7 zu verhindern gewesen wäre, aber danach hätte 3.Te1-d1 eine Figur und damit die Partie leicht gewonnen.


Erstveröffentlichung am 13. April 2002

21. März 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang