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SCHACH-SPHINX/05663: Allüren eines Akkuraten (SB)


Der spannendste Teil einer Partie ist das Vorspiel, insbesondere wenn man es mit einem Akkuraten zu tun hat. Schon die Art, wie er sich hinsetzt, gleicht einem Ritual. Jede Bewegung ist ein einstudierter Akt. Wie ein Hohepriester ordnet er virtuos die Welt um sich herum. Zunächst das obligatorische Streichen über den Scheitel. Kein Haar darf abstehen, es könnte die Gedanken verwirren. Dann beginnt in einer heiligen Handlung das Zurechtrücken jeder einzelnen Figur. Stramm ausgerichtet schaut die ganze Armee schließlich nach vorne, in Richtung Zukunft. Mit besonderer Sorgfalt wird der eigene König hofiert. Zentrieren heißt das Zauberwort. Auf Millimeter genau nimmt er die Mitte ein. Es ist, als ob er die Kräfte im Universum um diese Figur herum gebündelt würden. Ist das Schachbrett erst einmal geweiht, dürfen Partieformular und Stift in dieser Zeremonienkultur natürlich nicht außer acht gelassen werden. Alles muß sich im Lot zueinander befinden. Erst danach gibt die Seele Ruh', das Schicksal ist besänftigt, der Auftakt kann beginnen. Der eingeweihte Gegenspieler weiß aus der Erfahrung strafender Blicke, daß er während dieser Kulthandlung weder hüsteln noch ungeziemend rasche Bewegungen machen darf. Unerforschlicher als Gottes Wege sind die menschlichen Allüren! Ein ebensolches Mysterium stellten auch die Begegnungen zwischen Aaron Nimzowitsch und Alexander Aljechin dar. Beide bildeten zu ihrer Zeit die Creme der Schachmeistergilde. Beide besaßen einen ganz unverkennbaren Stil, Nimzowitsch durch seine partout auf Skurrilität ausgelegten Züge, und Aljechin, weil er die Züge wie Botschaften aus einer geistgeschwängerten Transzendenz begriff. In Semmering trafen beide Sphären aufeinander, die betont individuelle von Nimzowitsch und die einbalsamiert exaltierte von Aljechin. Beide waren auf ihre Art Priester. Und doch, auf dem Höhepunkt der Kulthandlung siegte diesmal das unerfindliche Ich von Nimzowitsch über die pathetische Künsterseele von Aljechin. Letzterer hatte zuletzt risikoreich 1...Sd5xc3 gespielt und sich seinen geopferten Bauern wiedergeholt. Die kleine, vom puren Ego überschattete Kombination von Nimzowitsch hatte er dabei jedoch übersehen im heutigen Rätsel der Sphinx. Was entging dem transzendenten Blick Aljechins, Wanderer?



SCHACH-SPHINX/05663: Allüren eines Akkuraten (SB)

Nimzowitsch - Aljechin
Semmering 1926

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Wenn Dame und König in solch verfänglicher Weise beieinander stehen, darf der Anstand nicht fehlen, und dieser rückte heran mit 1.Se4-g5+! Der Springer war unantastbar wegen 1...f6xg5? 2.Sf3-e5+ und Familienschach. In der Diagonalen a2-g8 durfte die schwarze Majestät jedoch auch nicht bleiben, also wich sie nach 1...Kf7-g6 aus, doch schon nach 2.Lf1-d3 war es Zeit zum Abdanken.


Erstveröffentlichung am 07. Dezember 2002

19. November 2015


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