Für Großmeister ist eine Schachpartie nicht bloß das Produkt eines Arbeitstages auf einem Turnier. Zutiefst hängen sie mit ihren Gedanken an ihren Werken. Die Identifikation kann sogar soweit gehen, daß die Trennlinie, die ein Berufsmensch für gewöhnlich zu seiner Arbeit herstellt, völlig verschwindet, und dann steht nicht mehr eine Partie auf dem Spiel, eine von hunderten, die ein Meister während seiner Karriere austrägt, sondern das ganze ungeteilte Selbstwertgefühl. Der Kontrahent wird dann zu einem persönlichen Feind mit all der moralischen Abwertung, die dieser Schritt nach sich zieht. Viktor Kortschnoj hatte diese Auflösung der Grenzen einmal recht eindrücklich beschrieben: "Schach ist mein Leben, und wer mich besiegen will, will mir ans Leben." Alle Animositäten, jede unverzeihliche Kleinigkeit, die der eine Großmeister gegen den anderen verschuldet, haben in dieser Matrix der Verinnerlichung ihren Bedeutungshintergrund. Abweichungen davon sind selten. Zumeist herrscht ein einvernehmlich guter Ton, doch wehe man kratzt die Patina weg, dann erscheint unverblümt und nackt der Konflikt zwischen Ichfindung und Realität in seiner vollen, gern verschwiegenen Reichweite. Im heutigen Rätsel der Sphinx machten die beiden Großmeister Geller und Anikajew zwar gute Miene, doch das zum inneren Selbst gewordene Spiel folgte eigenen Regeln, oder anders gesagt: Es ging um weitaus mehr, als was der Krämer Seele nennt. Jedenfalls verlor Anikajew mit den schwarzen Steinen nicht nur eine Partie, Wanderer.
Geller - Anikajew
UdSSR 1979
Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Die Ruhe vor dem Sturm war unheimlich. Erste Wolken waren schon zu
sehen, und als der grelle Blitz mit 1.Tf1xf7! in die schwarze Stellung
einschlug, war es auch mit der Selbstsicherheit des Nachziehenden
vorbei. Nach 1...Kg8xf7 traf ihn der zweite Blitz mit 2.Sd4xe6! und
damit der Keulenschlag der Niederlage: 2...Kf7xe6 3.Dd2-d5+ Ke6-f6
4.Ta1-f1+ Kf6-g6 5.Dd5-e6+ Le7-f6 - 5...Sd7-f6 6.Le2-h5+! Kg6xh5 7.De6-
f5+ - 6.Le2-h5+! Kg6xh5 7.De6-f5+ g7-g5 8.Df5xh7+ Kh5-g4 9.Dh7-h3#
Erstveröffentlichung am 21. Dezember 2004
16. Dezember 2017
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