Besitzen Großmeister ein photographisches Gedächtnis? Ist ihre Hirntätigkeit und psychische Struktur ausgeprägter als bei gewöhnlichen "Sterblichen"? Wirkt das Schach also dank seiner mathematischen Anforderungen wie ein Katalysator auf das Gehirn? Für Neurophysiologen waren Schachspieler immer schon ein lohnendes Experimentierfeld. Eine Antwort darauf, warum beispielsweise Garry Kasparow in der Lage ist, hunderte Buchseiten zu lesen und den Inhalt auch Monate später nahezu wörtlich wiederzugeben, oder wie es möglich war, daß Robert Hübner während einer Zugreise von Köln nach Budapest die ungarische Sprache so weit meisterte, daß er sich bei seiner Ankunft in ebendieser Sprache unterhalten konnte, haben sie nicht gefunden. Schachspieler sind keine Naturtalente. Ihr Metier ist das pure Erfassen vieltausendfacher Theorievarianten. Derart geschult war es denn auch für Bobby Fischer ein leichtes, in Reykjavik, sozusagen als Einübung, ein auf isländisch geführtes Telefongespräch, dessen Zeuge er wurde, im Kopf zu speichern. Dabei verstand Fischer kein einziges Wort isländisch. Die Anatomie des Schachspiels hatte sie jedoch ein Leben lang auf solche Kunststücke vorbereitet. Ein fehlerfreies Jonglieren mit Gedanken demonstrierte im heutigen Rätsel der Sphinx auch der sowjetische Großmeister Neschmetdinow. Sein Kontrahent Paoli hatte zuletzt 1...e6-e5 gespielt. Plötzlich waren zwei weiße Figuren bedroht, bedrohter, Wanderer, war allerdings die schwarze Majestät.
Neschmetdinow - Paoli
Bukarest 1954
Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Die weißen Figuren standen optimal zum Angriff bereit und diesmal
wurde Nicolas Rossolimo nicht vom einem Zuschauer belästigt, so daß er
nach 1.Se4-f6+ Kg8-h8 2.Dg4-g6!! Dc7-c2 3.Ta3-h3 geistvoll gewann. Der
weiße Turm auf der 3. Reihe stand als Mattbote die ganze Zeit bereit:
2...h7xg6 3.Ta3-h3# oder 2...f7xg6 3.Se5xg6+ h7xg6 4.Ta3-h3# Die
Intervention der schwarzen Dame konnte die Partie gleichfalls nicht
aus dem Feuer reißen: 3...Dc2xg6 4.Se5xg6+ f7xg6 5.Th3xh7#
Erstveröffentlichung am 15. Januar 2005
10. Januar 2018
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