Schon einmal versucht, die Gedanken eines Großmeisters durch das Nachspielen seiner Partien nachzuvollziehen? Eine unerhörte Quälerei! Man möchte sich vor Unverständnis die Haare raufen und fühlt sich zugleich in einen dunklen Brunnen geworfen. In seiner Not tröstet man sich eben mit der resignativen Erkenntnis, daß ein Großmeister nicht von ungefähr den Titel trägt und man selbst als Laie nicht in die Unerforschlichkeit seiner Pläne eindringen kann. Natürlich setzt man eine Gradlinigkeit der Pläne und Gedanken voraus. Schließlich ist Schach ja ein strategisches Spiel. Oder etwa nicht? Ganz so stringent verlaufen die Partien indes nicht, und das, weil der Laie nur allzu leichtgläubig Ziel und Weg miteinander verwechselt. Gewiß, die Kunst der Meister besteht im wesentlichen darin, keine groben Fehler zu machen, die zu Materialverlusten oder einem Matt führen. Ansonsten hält sich der Meister an eine simple Orientierung, nämlich den Kontrahenten mit allen Schlichen, Umwegen und Mitteln in der Reaktion zu halten. Gelingt ihm dies und versteht er es, seine eigenen Absichten hinter Nebeln zu verschleiern, so kann er Schritt für Schritt seine Stellung ausbauen, bis ihm in der erschlichenen Überlegenheit positioneller Vorteile endlich der taktische Schlag vor die Augen tritt. Nicht so sehr die strenge Logik der einzelnen Züge, sondern das Nebeneinander kluger Verwirrspiele bringt ihn seinem Ziel schließlich näher. Im heutigen Rätsel der Sphinx wußte der deutsche Großmeister Ralf Lau seinen serbischen Kontrahenten Popovic geschickt ins Hintertreffen zu locken. Als er dies erreicht hatte, führte sein taktisches Talent die letzten Handgriffe aus. Also, Wanderer, wie erstürmte er die schwarze Stellung?
Lau - Popovic
Bad Ragaz 1994
Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Die umdrohte Lage des weißen Königs inspirierte Schwarz zu einem
scharfsinnigen Opfer: 1...Td6-d2! 2.a3xb4 - erzwungen, denn es drohte
2...Td2-c2+ 3.Kc3-b3 Sc6-a5+ 4.Kb3-a4 Lf5-d7+ 5.Ka4xa5 b7-b6# -
2...c5xb4+ 3.Kc3-b3 Lf5-c2+ 4.Kb3-a2 Sc6-d4 - mit der akuten
Mattdrohung 5...Lc2-b3+ 6.Ka2-b1 Td2-d1# - 5.Lf1-d3 - unumgänglich -
5...b4-b3+ 6.Ka2-a3 Lc2xd3 7.Ta1-c1 Ld3-c2 8.Th1-e1 Sd4-c6 9.Sf4-e2 -
Weiß ist der ersten Mattattacke entkommen, aber nicht der Bedrohung -
9...a7-a6 10.Lg3-f4 Td2-d3 11.Lf4-e3 b7-b5 12.Se2-f4 Td3-d7 13.c4xb5
a6xb5 14.Tc1xc2 - wiederum notwendig, da 14...Kc8-b7 nebst 15...Td8-
a8# drohte - 14...b3xc2 15.Te1-c1 Sc6-d4 16.b2-b3 - 16.Le3xd4 Td7xd4
17.Tc1xc2+ Td4-c4 und Weiß steht aussichtslos - 16...Td7-c7 17.Ka3-b2
Kc8-b7 18.g2-g3 Tc7-c6 19.Le3xd4 Td8xd4 20.Tc1xc2 Tc6-d6 21.Tc2-e2 b5-
b4! 22.Kb2-c2 Kb7-c8 23.Sf4-g2 Td6-a6 24.Kc2-b2 Td4-d1 25.Sg2-e1 Td1-
a1 26.Kb2-a2 Ta1-a2+ und Weiß gab auf, da er zur Qualität auch noch
einen ganzen Turm verliert.
Erstveröffentlichung am 6. Juni 2005
3. Juni 2018
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