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REZENSION/001: Dr. Karsten Müller u.a. - Master Class Band 4, José Raúl Capablanca (SB)


Dr. Karsten Müller, Mihail Marin, Oliver Reeh, Niclas Huschenbeth


Master Class Band 4: José Raúl Capablanca



Die Legenden und Geheimnisse, die sich um den Namen José Raúl Capablanca ranken, zu ergründen, hat sich schon mancher Biograph die Finger wundgeschrieben. Man hat ihm viele Bezeichnungen und Ehrentitel gegeben wie zum Beispiel, daß er so präzise, nüchtern und emotionslos gespielt habe wie eine "Schachmaschine". Ein Buch über Capablancas Verlustpartien herauszubringen, macht einen Verleger nicht reich - es ist zu dünn, um dafür einen respektablen Preis verlangen zu können. Tatsächlich hatte Capablanca in einem Zeitraum von acht Jahren keine einzige Partie verloren, und das, obwohl er zahlreiche Turniere in dieser Zeit bestritten hatte. Einiges von seinen Ruhmestaten ist sicherlich über die Jahrzehnte erdichtet oder aufgebauscht worden. Doch um ein Faktum kommt man nicht herum, nämlich daß Capablana das Schach wie kaum ein anderer geprägt und in die große Öffentlichkeit gebracht hat, wozu seine vielen Simultantourneen durch Amerika, Europa und die Sowjetunion einen beachtlichen Beitrag leisteten.

Dabei war ihm das Schach keineswegs in die Wiege gelegt worden, geschweige denn abzusehen gewesen, daß er der dritte Weltmeister der Schachgeschichte werden sollte, als er am 19. November 1888 in Havanna das Licht der Welt erblickte. Er stammte aus wohlsituiertem Hause, sein Vater diente als Offizier in der Armee - mitnichten die besten Voraussetzungen für eine Laufbahn als Schachspieler. Wer Karriere machen wollte und eine geregelte und sorgenfreie Existenz im Sinn hatte, wählte für seinen Ehrgeiz nicht die brotlose Kunst des Schachspiels. Warum sich also mit dem Steckenpferd notorischer Kopfbrüter anfreunden, so das allgemeine Urteil, und ein Dasein unter seinem Stand führen?

Capablanca, der zeitlebens viel zur eigenen Legendenbildung beisteuerte, lieferte selbst die Begründung dafür. In seiner 1920 erschienenen Autobiographie "My Chess Career" erzählt er, wie er im zarten Alter von vier Jahren beim Spiel zwischen seinem Vater und einem Freund allein aus der Führung der Figuren den tieferen Sinn des Schachspiels begriffen hätte, jedenfalls in der Lage war, seinen Vater in einem anschließenden Brettduell zu besiegen. Die Welt hatte erstmals ein Schachwunderkind. Von da an bis zu seiner Thronbesteigung in Havanna 1921 gelang Capablanca eine Reihe bis heute unvergeßlicher Erfolge, die seinen Ruhm nährten und ihn zu einem unverzichtbaren Mentor nachfolgender Generationen machten. Selbst der kaum weniger legendäre Robert James "Bobby" Fischer bezeichnete Capablanca als den besten Schachspieler aller Zeiten. Viele spätere Heroen der Schachkunst haben die Partien des kubanischen Weltmeisters von 1921 bis 1927 akribisch studiert, um vor allem dessen grandiose Endspielführung, aber auch die Geistesblitze, die er selbst "petites combinaisons" nannte, aus seinem Stil und strategischen Verständnis heraus zu verstehen und für sich nutzbar zu machen.

Mit der vierten Folge ihrer Master Class-Serie hat die Software-Firma ChessBase nun Leben und Werk Capablancas in ein audiovisuelles Lernformat gebracht und dabei in erster Linie den fortgeschrittenen Schachnovizen ins Auge gefaßt. Unterstützt und getragen durch ein vierköpfiges Experten- und Meisterteam aus Niclas Huschenbeth, Mihail Marin, Karsten Müller und Oliver Reeh, wobei Peter Schneider für den biographischen Teil verantwortlich zeichnete und Martin Seifert für besondere Aufgaben zur Verfügung stand, ist eine inhaltlich abgewogene und gleichermaßen lehrreiche Rezeption auf das Gesamtwerk Capablancas entstanden.

Capablanca eignet sich wie kein Zweiter zur Reflexion des schachlichen Gedankens, da er weder eine spezielle Theorie noch eine methodisch-didaktische Struktur wie beispielsweise Siegbert Tarrasch entwickelte und somit frei von dogmatischer Engstirnigkeit ist. Statt die Komplexität schier unberechenbarer Abfolgen heraufzubeschwören und sich so in eine nuancenverliebte Detailkrämerei in Eröffnungsfragen zu verlieren, hat Capablanca stets Stellungen anvisiert, die solide, bar jeden Risikos und somit für den menschlichen Verstand berechenbar blieben. Unwägbarkeiten und blindes Vertrauen in die eigene Kombinationsfindigkeit, wie sie in der romantischen Ära des 19. Jahrhunderts das Spiel der Meister auszeichneten, lehnte er aus der Überzeugung heraus ab, daß der kleinste Nenner der eigenen Spielführung stets auf der strategischen Nachvollziehbarkeit aufbauen müsse und nicht einem ominösen Glück oder in Erwartung schlechter Verteidigungszüge des Gegners dem Zufall überantwortet werden dürfte.

In diesem Sinne nimmt Huschenbeth die statistische Auswertung seiner Partien nach der Häufigkeit bestimmter Eröffnungen bzw. Verteidigungssysteme vor und leitet daraus ein Spielerprofil des Ex-Weltmeisters ab. Marin hingegen bereitet die Prinzipien im Spiel des Kubaners, die er als eine eigentümliche Mischung aus konsequenter Strategie und Spekulation darstellt, auf der Basis einer fundierten Analyse auf. Ihm zufolge und entgegen der Meinung vieler Experten hat Capablanca, dem man ein maschinelles Vorgehen beim Schach unterstellt, keineswegs stur an einem Plan festgehalten, sondern die dynamischen Elemente durchaus mit der jeweiligen Brettsituation abgeglichen, was er exemplarisch anhand der Partie Capablancas gegen Dus Chotimirsky aus dem Turnier in Moskau 1925 belegt. In einem weiteren Abschnitt widmet sich der rumänische Großmeister in 14 bemerkenswerten Exponaten der hohen Endspielkunst des Kubaners. Oliver Reeh präsentiert kurz und bündig 24 Taktikaufgaben aus dem reichen Fundus der Meisterwerke Capablancas, und Müller würdigt das Endspielgenie des Kubaners in 12 Fallbeispielen, wobei er mit einem charmant-entwaffnenden Seitenlächeln auch auf die mitunter ungenauen Manöver hinweist, die das Bildnis des Kubaners nicht kränken, wohl aber unterstreichen, daß auch ein Genie in akutem Turnierstreß und unter dem Fallbeil der tickenden Schachuhr menschliche Schwächen kennt. Die Biographie von Peter Schneider ist trotz ihrer gekürzten Abfassung keineswegs nur eine Sammlung von Karriereeckdaten und Turnierhöhepunkten, wie man sie bei Wikipedia leicht nachlesen kann. Vielmehr und in hohem Maße kenntnisreich stellt sie eine gelungene Revue durch das Leben des Schachmeisters dar, mit Zeitkolorit und zeitgenössischen Kommentaren aufschlußreich versehen, die es dem Leser erlauben, sich ein umfassendes Bild nicht nur über Capablancas Werdegang und seine Kämpfe auf dem Brett zu machen, sondern darüber hinaus auch die gesellschaftliche Rolle des Schachspiels inmitten der Zeit- und soziokulturellen Umbrüche besser zu verstehen. Die Notation aller Partien von Capablanca, teils mit Kommentaren und aufgeteilt in seine Weiß- und Schwarzpartien, sowie ein umfangreiches Sortiment an Trainingsfragen schließen die sechsstündige DVD verdienstvoll ab.

Kinderkrankheiten begleiten alle Projekte vor allem auf der semiprofessionellen Ebene unterhalb der Standards beispielsweise einer Fernsehdokumentation. Manchmal ist die Absicht, Wissen zu verbreiten und populärwissenschaftlich an ein interessiertes Publikum zu bringen, höher einzuschätzen, als die im Endprodukt unbewältigten Herausforderungen den gegenteiligen Anschein erwecken. Es muß indes kein Makel sein, daß das Expertenteam zumeist in freier Rede vorträgt und sich so Verhaspelungen, semantische Stolpersteine oder falsch gesetzte Akzentuierungen einschleichen, die ein Lektorat gewiß ausgebügelt hätte. Wo geübten Rednern mit vorgefertigten Manuskripten oft die Leidenschaft und Vielfalt kommunikativer Annäherungen an ein Thema abhanden kommen, gelangt durch das Holperige zuweilen mehr an das Ohr des allgemeinen Verständnisses, als es eine auf Zweckdienlichkeit getrimmte Kanzleisprache je vermag. So gesehen ist das Videoformat ein in seinen Möglichkeiten noch entwickelbares Experimentierfeld. Die kritische Frage, der sich die Autoren zu stellen haben, muß jedoch lauten, ob die DVD den Nutzer Capablancas Methode, seinen unvergleichlichen Stil und seine Kunst in spieltaktischen und -strategischen Fragestellungen über das rein Informative hinaus zugänglich macht.

Die Antwort ist gespalten, gute Ansätze reihen sich an weniger gelungene Probiersteine. Bedenkt man, daß Alexander Aljechin sich jahrelang intensivst und mit einem Verfolgungseifer, Kapitän Ahabs Jagd auf Moby-Dick nicht unähnlich, auf den Weltmeisterschaftskampf 1927 in Havanna gegen Capablanca, den er zuvor nie in einer Brettschlacht bezwang, vorbereitet und zu diesem Zweck die Schwächen und Stärken seines großen Widerparts bis in die Zellstruktur hinein analysiert hatte, dann ist es weder verwunderlich noch des Staunens wert, wenn das Porträt des Grandseigneurs Spuren mangelnder Trefflichkeit aufweist. Ein Schachkünstler wie Capablanca läßt sich nicht mit ein paar Federstrichen und einem eher allgemein gehaltenen Resümee hinreichend ins Bild setzen. So klingt es ein wenig lapidar, wenn die ChessBase-Autoren bei Capablanca wiederholende Muster und eine Anlage zu soliden, risikoarmen Stellungen reklamieren, ohne daraus weiterführende Fragen und Konsequenzen zu ziehen, als wäre eine unverschnörkelte Denkweise zwar genial in ihrer Schlichtheit, aber letzten Endes doch leicht überführbar in die Konnotation konventioneller Begriffswelten.

Das Risiko, dem Capablanca offenbar die Feindschaft erklärt hatte, stammt zunächst einmal aus der Kaufmannssprache und meint das Abwägen einer Investition auf der Grundlage unsicherer Faktoren mit der optionalen Aussicht auf Profit. Diese Kalkulationsrechnung hatte Capablanca, denn er war Schachspieler, nicht Kaufmann, offenbar weitgehend aus seinem Denken verbannt und war in einem technologischen Sinne immer wieder auf die überschaubare Reichweite einer Kontrolle und zu bewältigenden Effizienz zurückgekehrt. Daß sich dabei innerhalb eines enggezirkelten Regelwerks Muster wiederholen und der Anspruch auf Kontrolle an den Rändern in Routinen auffasert, nimmt seinem Spiel nicht die Größe, noch macht es ihn zum Pedanten. Es zeigt jedoch auf, daß Capablanca in seinem Erforschen der schachlichen Prinzipien zuletzt doch bereit war, dem Erfolg ein größeres Gewicht beizulegen als dem Durchbrechen der strukturellen Voraussetzungen und Grenzen des auf die Gesellschaft, der er entstammte, zurückreflektierten Denkens.

In seinen Routinen ist Capablanca schließlich selbst das Opfer denkkonventioneller Zirkelschlüsse geworden, dies um so mehr, als er sich als Lebenskünstler und Diplomat seines Landes zu sehr auf sein Prestige verließ und die fortschrittlichen Entwicklungen des Schachgedankens in den späten 20er und 30er Jahren wie ein Zaungast verschlief. Auf dem Höhepunkt seines Schaffens hat Capablanca zweifellos durch die Kraft seiner Persönlichkeit und Integrität seiner Leidenschaft vieles, nicht selten auf intuitivem Wege, vorangebracht, das noch Jahrzehnte nach seinem Tod für alle Schachjünger von unschätzbarem Wert ist. Der DVD gebührt das Verdienst eines Streifzuges in kleinen Schritten durch die Gedankenwelt Capablancas. Mehr noch als dies erinnert sie daran, daß das Schachspiel ein historisches Gesamtprodukt darstellt, zu dessen Verständnis José Raúl Capablanca einen unvergänglichen Beitrag leistete.

17. Juli 2015


DVD
Dr. Karsten Müller, Mihail Marin, Oliver Reeh, Niclas Huschenbeth
Master Class Band 4: José Raúl Capablanca
ChessBase, Hamburg 2015
Sprachen: Deutsch, Englisch
6 Std. 12 Min. (Deutsch)
29,90 EUR
ISBN: 978-3-86681-467-7


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