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REZENSION/019: Karsten Müller - Bobby Fischer, 60 beste Partien (SB)


Karsten Müller


Bobby Fischer

60 beste Partien



Die Welt kennt Robert James Fischer, eher geläufig unter dem Namen Bobby Fischer, als einen Titanen der Schachwelt, der zu einer Zeit auf die Bühne trat, als die Sowjets mit dem Ruch quasi der Unbesiegbarkeit den Thron fest in ihren Händen hielten und es nicht abzusehen war, dass sich daran etwas ändern sollte, ein Mensch, der bereits zu Lebzeiten zu einer Legende wurde, weil er es allen Unkenrufen zum Trotz im Alleingang fertigbrachte, das Dogma der unantastbaren Dominanz der sowjetischen Meister aus den Angeln zu heben.

Der Junge aus Brooklyn, der in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs und der sich schon früh mit allem, was er hatte, was er dachte und fühlte, dem Schachspiel verschrieb, veränderte den Lauf der modernen Schachgeschichte nicht allein durch seine Taten und Erfolge. Das wäre im Verständnis zu kurz gegriffen und ließe sich auf viele Welt- und Großmeister anwenden. Vielmehr tat er etwas, was vorher niemand gewagt und für möglich gehalten hätte: Er legte sich mit der ganzen Welt der Autoritäten, Verbände und Konventionen an, und sein Schlachtfeld war das Schachbrett.

In diesem Sinne war Fischer tatsächlich unbelehrbar; vielleicht trieb ihn auch sein Gerechtigkeitssinn an, der nur die Wahrheit des Sieges auf dem Brett anerkannte, nicht durch Zufall und Glück errungen, sondern durch die Untadeligkeit des eigenen Spiels. Die Klarheit des Gedankens ging ihm über alles; sich Regeln zu unterwerfen war er nie bereit. Sein Eigensinn hätte Steine spalten können.

Gerade einmal 13jährig entzündete Fischer ein Feuer, das bald schon über den Globus brennen sollte. In New York 1956 beim traditionellen und stark besetzten Rosenwald-Turnier gelang Fischer ein brillanter Kombinationssieg über den renommierten amerikanischen Meister Donald Byrne. Hans Kmoch nannte es später "das Spiel des Jahrhunderts". Dass er mit 4,5 Punkten aus 11 Partien den achten Platz belegte, war für einen jungen, bis dahin nahezu unbekannten Spieler aller Ehren wert, aber sein fulminanter Sieg über Byrne und mehr noch die Art, wie er dessen frühen Eröffnungsfehler bestrafte, ließen die Welt aufhorchen. 16 Jahre später sollte Fischer im "Match des Jahrhunderts" in Reykjavik den Russen Boris Spassky auf nicht weniger sagenhafte Weise entthronen.

Über Bobby Fischer gibt es eine wahre Flut von Büchern, solche, die sich mit seiner Persönlichkeit beschäftigen, um ihn zuletzt als gestört, krank und exzentrisch auszuweisen, und andere, die seinen Stil und seine taktische Genialität untersuchen. Doch wie nähert man sich einer Legende, über die schon so viel gesagt wurde, von einer Mythenbildung zur anderen, wo nicht selten Gerüchte und blanke Mutmaßungen den klaren Blick auf den elften Weltmeister in der Schachgeschichte trüben.

Der Hamburger Großmeister Karsten Müller hat in seinem neuen Buch "Bobby Fischer - 60 beste Partien" eine plausible Antwort darauf gefunden. So verlegt er sich mit Bedacht darauf, ausschließlich Fischers Leistungen und Siege auf dem Brett für sich selbst sprechen zu lassen. Hauptanliegen Müllers war jedoch, die von ihm ausgewählten sechzig instruktivsten Partien Fischers mit verschiedenen neueren Engines auf ihre Korrektheit hin zu überprüfen. Erstaunlicherweise fand Müller zwar zahlreiche Fehler in den alten Analysen, aber "selbst der strenge Blick von Spitzen-Programmen stößt nur selten auf Fehler" (S. 9) in den Kombinationen Fischers, so dass der Leser Müller zufolge diese Partien verwenden kann, "um seine eigene Spielstärke erfolgsorientiert zu verbessern" (S. 9).

Die Zahl 60 kommt nicht von ungefähr. So hatte Fischer 1969 in eigener Arbeit und Analyse seine schönsten Siege, aber auch betrüblichsten Niederlagen in Buchform unter dem Titel "My Sixty Memorable Games" verfasst. Fischers Werk fand seinen Abschluß mit der Partie gegen Leonid Stein aus dem Interzonenturnier in Sousse 1967. Sechzehn Partien aus dieser Sammlung verwendete Müller für sein neues Fischer-Buch. Die übrigen Partien stammen aus der Folgezeit von Fischers Karriere, darunter aus dem Interzonenturnier 1970 und den folgenden Kandidatenwettkämpfen, wo er seine Gegner Mark Taimanow, Bent Larsen und Tigran Petrosjan auf dem Brett förmlich vernichtete, aus dem WM-Kampf in Reykjavik gegen Boris Spassky und dem Rematch 1992 auf Sveti Stefan und in Belgrad bzw. sind aus Fischers früher Laufbahn, die dieser nicht unter seine denkwürdigsten Partien eingeordnet hatte.

Müller verzichtet bei der Analyse der Partien auf ellenlange Kommentare und hinderliche Querverweise, die vom Gang des Geschehens eher ablenken würden. Durch die bewusste Konzentration auf den eigentlichen Partieverlauf gelingt es ihm, die wichtigsten Angaben der Rechner pointiert einzubauen, ohne dass der Fluß gehemmt wird. Gleichwohl nimmt Müller an einigen Stellen eine gründliche Vertiefung der Analyse vor, beispielsweise, wenn er andere Partien Fischers zum selben Eröffnungsthema einstreut, um Fischers prinzipielle Behandlung eines strategischen Sachverhalts zu verdeutlichen. Die streng chronologische Abfolge der Partien als auch die eingebrachten Zitate vermitteln dem Leser einen lebendigen Eindruck von den Stufen, die Fischer nehmen musste, um die Vorherrschaft der sowjetischen Spieler auf den Turnieren zu brechen und schließlich den Thron zu besteigen.

Begleitet wird diese Zeitreise von knapp fünfzig Bildern von Fischer aus den verschiedenen Phasen seiner Schaffenszeit sowie Fotographien fast aller seiner Gegner. Bedauerlicherweise hat es Müller, vielleicht aus Zeit- oder anderen Gründen, verpasst, Kurzbiographien zu Fischers jeweiligen Kontrahenten einzubringen, was den jüngeren Lesern, die nicht mit allen Namen vertraut sind, mehr Einblick ins historische Geschehen und Fischers Kämpfe im In- und Ausland verschafft hätte. Gerade die Auseinandersetzungen Fischers mit seinen amerikanischen Rivalen Williams James Lombardy und Samuel Herman Reshevsky hätten ein paar Worte verdient. Leider bricht die letzte Partie im Buch gegen Boris Spassky beim Zug 48.c7 überraschend ab. Dankenswerterweise ist jede Partie mit einem QR-Code versehen, so dass Abhilfe besteht.

Erwähnenswert ist auf alle Fälle das Vorwort von Altmeister Robert Hübner, wo er Müllers Mühe und Arbeit lobt und "dem Werk eine gute Aufnahme und dem Leser ein anregendes Studium" (S. 10) wünscht und die Idee eines Verzichts auf allzu pedantische biographische Einschübe begrüßt, denn diese "erzählen mehr über den Schreiber als über den Beschriebenen" (S. 10).

Fischer von der praktischen Seite kennenzulernen und die Tiefe seiner kombinatorischen Einfälle einmal überprüft und als treffsicher und korrekt befunden zu sehen, lässt seine Partien umso heller aufstrahlen, vor allem, wenn man bedenkt, dass er keine Engines zu Rate ziehen konnte. Fischer bleibt ein Mysterium; um seine Meisterschaft aufzudecken, müssen wohl noch einige Bücher mit präziseren Fragestellungen zu seiner Person geschrieben werden. Mit vielem muss noch aufgeräumt werden, aber Müllers Buch hat dank seiner Sachlichkeit einen wertvollen Beitrag dazu geleistet.

26. September 2022

Karsten Müller
Bobby Fischer
60 beste Partien
Joachim Beyer Verlag 2022
232 Seiten, 38 EUR
ISBN 978-3-95920-167-4


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 177 vom 1. Oktober 2022


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