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FORSCHUNG/032: Schule des Lebens (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2012 - Nr. 100

Schule des Lebens

Für eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung braucht es mehr als guten Schulunterricht. Über den Stellenwert der informellen Bildung im Lebenslauf und notwendige forschungsstrategische Konsequenzen

Von Rudolf Tippelt



Kein Forscher aus der Erziehungs- und Sozialwissenschaft hat intensiver die Analyse der informellen und non-formalen Bildung eingefordert als Thomas Rauschenbach, Direktor des Deutschen Jugendinstituts. Dabei hat er immer wieder empirische Bildungsforschung und außerschulische Jugendforschung systematisch aufeinander bezogen (Rauschenbach/Otto 2004a; Rauschenbach u.a. 2004b). Wer so vorgeht, entgeht den manchmal reduktionistischen Zugriffen auf Bildungsprozesse und kritisiert damit explizit eine eindimensionale Schwächung des Bildungsbegriffs. Das Anknüpfen an neuhumanistische Theorietraditionen (siehe Lexikon, S. 44) und ein von der Aufklärung geprägtes Verständnis von Bildung erfordern eine komplexe theoretische und empirische Forschung. Die verschiedenen Versuche, den Begriff Bildung durch Termini wie etwa Sozialisation, Schlüsselqualifikation oder selbst organisiertes Lernen zu ersetzen, haben sich als unzureichend erwiesen.


Ein ganzheitlicher Bildungsbegriff weitet den Blick der Forschung

Erziehungs- und bildungswissenschaftlich wichtig ist ein ganzheitlicher, subjektbezogener und nicht ausschließlich kognitiv orientierter Begriff von Bildung (Grunert 2012). Dieser beinhaltet die kognitiven, die sozialen, die emotionalen und die motorischen Bildungs- und Lernprozesse. Folglich gilt es, auch den Stellenwert der außerschulischen Lebenswelten für den Kompetenzerwerb von Kindern und Jugendlichen darzulegen. Allerdings ist die empirische Forschung über diese Handlungsfelder noch zu vertiefen. Sinnvoll ist es, Bildungsforschung als jene Forschung zu definieren, die sich auf die Verläufe, die subjektiven und gesellschaftlichen Voraussetzungen sowie die Folgen individueller Bildungsprozesse über die gesamte Lebensspanne bezieht (Edelmann u.a. 2011). Dabei müssen nicht nur institutionelle, sondern auch außerinstitutionelle Kontexte berücksichtigt werden.

Bildung kann sicher nicht mit der Lernleistung in Schulen gleichgesetzt werden. Durch die Ergebnisse der großen internationalen Schulleistungsuntersuchungen (large-scale-assessments) wurden in den vergangenen Jahren zwar pädagogisch sinnvolle Handlungen und Reformen aufgezeigt. Dennoch ist es notwendig, andere Komponenten der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen im Blick zu halten. Erst in jüngster Zeit erfahren die Familie, die Gleichaltrigen, die Vereine und Verbände, die Medien und die Jugendhilfe wieder jene Beachtung, die angemessen ist, wenn man Reformen im Interesse eines erweiterten und vertieften Kompetenzerwerbs anstrebt.

Die organisierten außerschulischen Aktivitäten können positive Lernumwelten darstellen, wenn sie unter anderem jugendzentriert, wissensbasiert, erfolgsorientiert und netzwerkbezogen sind (Grunert 2012). Wenn man die informellen, nicht organisierten Handlungsfelder als Lernkontexte miteinbezieht, wird man die Zeitstrukturen im Alltagsleben und das Zeitmanagement im Leben von Kindern und Jugendlichen zur Analyse heranziehen müssen. Freundschaftsbeziehungen und Gleichaltrigengruppen müssen in ihrer Bedeutung für die informellen Bildungsprozesse und den Kompetenzerwerb berücksichtigt werden (Fend 2008).

Kompetenzen entfalten sich in einzigartigen biografischen Erfahrungsfeldern. Dies geschieht aber nicht nur in der frühen Kindheit und Jugend, sondern in Bildungs- und Entwicklungsprozessen über die gesamte Lebensspanne. Aus Sicht der Bildungsforschung kann die Arbeit an der eigenen Biografie auch als Bildungsarbeit gesehen werden, denn Bildung kann »bis ins Alter hinein eine unterstützende inhaltliche und methodische Anregung darstellen, die sich auf das Ziel der Ich-Integrität positiv auswirkt« (Breloer 2000). Dabei können kontinuierliche und kumulative, aber auch überraschende und diskontinuierliche Lernprozesse auftreten. Bildung und Entwicklung vollziehen sich bis in das fortgeschrittene Alter in einem Wechselspiel von Autonomie und Abhängigkeit, denn es zeigt sich eine hohe kognitive und soziale Plastizität (siehe Lexikon) über die gesamte Lebensspanne (Baltes 1997).


LEXIKON

Neuhumanistische Theorietraditionen gründen auf Gedanken aus der Antike, die insbesondere die Individualität jedes Menschen betonen. Neuhumanistische Ideen wurden besonders von Herder und Humboldt bildungstheoretisch vertreten, die Bezeichnung geht auf Friedrich Paulsen zurück.
Plastizität beschreibt die Veränderbarkeit und insbesondere Optimierbarkeit menschlicher Kompetenzen auch in späteren Lebensjahren.
Ontogenetische Veränderungen sind Veränderungen im Entwicklungsverlauf eines einzelnen Menschen im Unterschied zur Phylogenese, die den Wandel der menschlichen Gattung thematisiert.

Lernen ohne Lehrbuch - die Bedeutung der informellen Bildung ist groß

Es gab und es gibt Schwierigkeiten, die informelle Bildung für das Jugend- und Erwachsenenalter methodisch exakt zu erfassen, aber mittlerweile lassen sich doch zahlreiche gruppenspezifische Unterschiede der Beteiligung an informeller Bildung gut festhalten: Das Alter wirkt sich aus, aber auch Bildungsabschlüsse und die Erwerbstätigkeit beeinflussen das informelle Lernen stark. Die EdAge-Studie (siehe Infokasten) zeigt, dass Teilnehmende von formal-organisierter Weiterbildung eine etwa doppelt so hohe Beteiligungsquote beim informellen Lernen aufweisen als Nichtteilnehmende. Es kommt zur Bildungsschere, denn Personen mit höherem Schulabschluss bilden sich nicht nur häufiger weiter, sondern profitieren auch stärker von den Möglichkeiten der informellen Bildung.


INFOKASTEN

 

Die EdAge-Studie

Im Rahmen der EdAge-Studie, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung forderte, wurden das Bildungsverhalten und die Bildungsinteressen von Menschen zwischen 45 und 80 Jahren erforscht. Mit Hilfe einer Repräsentativbefragung, mit Experten- und Tiefeninterviews sowie Gruppendiskussionen wurden für diese sehr heterogene Gruppe unter anderem Rahmenbedingungen von Bildungsprozessen untersucht und eine Typologie verschiedener Lerntypen erarbeitet. Besonderes Augenmerk lag dabei auf den Erfahrungen der Teilnehmenden mit informellem Lernen.


45- bis 80-Jährige nehmen nach den Ergebnissen der EdAge-Studie deutlich öfter an informellem Lernen teil als an formaler Weiterbildung (Tippelt u.a. 2009). Dabei wird die Differenz mit steigendem Alter immer größer: Ältere präferieren das informelle Lernen. Außerdem beteiligen sich Personen mit hoher schulischer oder beruflicher Vorbildung stärker daran. Auch zwischen Erwerbstätigen und Nicht-Erwerbstätigen lassen sich klare Unterschiede erkennen. Die hohe Bildungsselektivität zeigt sich damit nicht nur in der formal-organisierten Weiterbildung, sondern in noch stärkerem Maße bei der Beteiligung an den meisten Formen des informellen beruflichen Lernens. Besonders viel lernen Erwerbstätige laut der Studie durch Beobachten und Ausprobieren am Arbeitsplatz oder durch den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen.

Interessant ist, dass der Ertrag des alltäglichen Lernens ähnlich hoch oder teilweise höher bewertet wird als der Ertrag formalorganisierter betrieblicher oder außerbetrieblicher Weiterbildung (Tippelt u.a. 2009). Dies unterstreicht die große Bedeutung der informellen Bildung und stellt eine Herausforderung an die empirische Forschung dar. Es gilt, die informelle Bildung weit intensiver zu analysieren, als dies bisher der Fall ist. Die formale Bildung kann nur ein wichtiger Aspekt des Lernens sein.

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INFOKASTEN
Zentrale Voraussetzungen für ein neues Verständnis von Bildung

Wenn die informellen Bildungsprozesse, also die "andere Seite der Bildung", im pädagogischen Diskurs gestärkt werden sollen, wird man einige Kernpunkte beachten müssen:

  • Die Erkenntnisse zur intraindividuellen Plastizität (siehe Lexikon) sind Voraussetzungen für das Verstehen lebenslanger formaler und informeller Bildungsprozesse.
  • Informelle Bildung und "lifewide learning" (Lernen in allen Lebensbereichen) sind bei der Entwicklung über die Lebensspanne zu berücksichtigen, denn Lernen findet in formalen, non-formalen und informellen Kontexten statt.
  • Bildung und Lernen über die Lebensspanne sind in das "Projekt" individueller Selbstbestimmung integriert.
  • Die Bildung über die Lebensspanne kann durch vielfältige Lernsituationen gefördert werden, wobei sich formale und informelle Bildung ergänzen.
  • Im Unterschied zur formalen Bildung, die von staatlichen Einrichtungen, privaten und öffentlich geförderten Trägern in hohem Maße zielorientiert organisiert und geplant wird, sind informelle Bildungs- und Lernprozesse freigestaltet und selbstbestimmt.
  • Formale und informelle Bildung über die Lebensspanne sind in geschichtliche Abläufe eingebettet, so dass die Möglichkeiten der individuellen Entfaltung nicht nur von biologischen und kognitiven Voraussetzungen, sondern stark auch von sozialen und kulturellen Bedingungen geschichtlicher Epochen und von spezifischen Zeitereignissen - also konkreten historischen Sozialisations- und Lernumgebungen - geprägt sind.
  • Auch informelle Bildungsprozesse werden von den sozialen Lebenslagen geprägt und es existieren innerhalb der Gesellschaft starke soziale Ungleichheiten.
  • Nur forschungsplurale Zugänge ermöglichen ein fundiertes und hinreichend breites Verständnis der Bildungs-, Entwicklungs- und Lernprozesse über die Lebensspanne (Bildungs-, Entwicklungs-, Lebenslauf- und Biografieforschung).

INFOKASTEN ENDE

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Jedes Lebensalter ist durch gewisse Lernaufgaben charakterisiert

In Konzepten der Bildung und des Lernens über die Lebensspanne ist jedes Lebensalter durch bestimmte Lernaufgaben charakterisiert. Diese entfalten sich in einem Wechselspiel von erstens individuellen Interessen und Neigungen, zweitens sozialen Erwartungen und Anforderungen und drittens biologisch-physiologischen Reifungsprozessen. Besonders wichtig ist die Erkenntnis, dass die Richtung ontogenetischer Veränderungen (siehe Lexikon) nicht immer eindeutig ist, sondern dass auch innerhalb eines Lebensabschnitts manche Verhaltensweisen persönliches Wachstum und andere Abbau signalisieren können (Multidirektionalität).

Pädagogisch ist zu berücksichtigen, dass sich die soziale Lage, die Entwicklungsbedingungen und Bildungserfahrungen in früheren Lebensjahren sowie auch die gegenwärtige Lebenssituation auf die aktuellen Bildungsmöglichkeiten von Lernenden auswirken. Eine gelingende Entwicklung und ein sinnvolles Lernen über die Lebensspanne sind auf generationenübergreifende Kooperationen angewiesen. Im Kontext von lebenslaufbezogenen Entwicklungs- und Lernprozessen werden Jugendbildung und Weiterbildung zu zeitlich begrenzten und partiellen Hilfen im immer neu beginnenden und unabschließbaren Projekt individueller Selbstbestimmung.

In einer modernen Gesellschaft werden an die Entwicklungs- und Bildungsprozesse jedes Lebensalters hohe Erwartungen geknüpft, denn es gilt, das Lernen für alle zu ermöglichen und selbstgesteuertes, selbstbestimmtes und kreatives Lernen zu initiieren. Bildung und das lebenslange Lernen zielen auf die Selbstentfaltung der Persönlichkeit und die Behauptung der Selbstständigkeit über die Lebensspanne.

DER AUTOR

Prof. Dr. Rudolf Tippelt ist Erziehungswissenschaftler und hat an der Ludwig-Maximilians-Universität in München die Professur für Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung inne. Seine Arbeitsschwerpunkte sind lebenslanges Lernen und Kompetenzentwicklung, Bildungsforschung, Jugendforschung sowie berufliche Weiterbildung und Erwachsenenbildung. Von 2006 bis 2010 war Rudolf Tippelt Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE).
Kontakt: tippelt@edu.lmu.de


Literatur

AUTORENGRUPPE BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG (2012): Bildung in Deutschland 2012. Bielefeld

BALTES, PAUL B. (1997): Die unvollendete Architektur der menschlichen Ontogenese: Implikationen für die Zukunft des vierten Lebensalters. Psychologische Rundschau, Heft 4, S. 191-210

BRELOER, GERHARD (2000): Altenbildung und Bildungsbegriff. In: Becker, Susanne / Veelken, Ludger / Wallraven, Klaus Peter (Hrsg.): Handbuch Altenbildung. Theorien und Konzepte für Gegenwart und Zukunft. Opladen, S. 38-50

BYNNER, JOHN / SCHULLER, THOMAS / FEINSTEIN, LEON (2003): Wider benefits of education: skills, higher education and civic engagement. In: Zeitschrift für Pädagogik, Heft 3, S. 341-361

EDELMANN, DORIS / SCHMIDT, JOEL / TIPPELT, RUDOLF (2011): Einführung in die Bildungsforschung. Stuttgart

FEND, HELMUT (2008): Wie das Leben gelingt oder wie es so spielt. 1527 Lebensläufe vom 12. zum 35. Lebensjahr. In: Tippelt, Rudolf (Hrsg.): Verleihung der Ehrendoktorwürde. München, S. 41-72

GRUNERT, CATHLEEN (2012): Bildung und Kompetenz: Theoretische und empirische Perspektiven auf außerschulische Handlungsfelder. Wiesbaden

RAUSCHENBACH, THOMAS / OTTO, HANS-UWE (2004a): Die neue Bildungsdebatte: Chance oder Risiko für die Kinder- und Jugendhilfe? In: Otto, Hans-Uwe / Rauschenbach, Thomas (Hrsg.): Die andere Seite der Bildung. Zum Verhältnis von formellen und informellen Bildungsprozessen. Wiesbaden, S. 9-32 RAUSCHENBACH, THOMAS / LEU, HANS RUDOLF / LINGENAUBER, SABINE / MACK, WOLFGANG / SCHILLING, MATTHIAS / SCHNEIDER, KORNELIA / ZÜCHNER, IVO (2004b): Konzeptionelle Grundlagen für einen Nationalen Bildungsbericht - Non-formale und informelle Bildung im Kindes- und Jugendalter, Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Berlin

TIPPELT, RUDOLF / SCHMIDT, BERNHARD / SCHNURR, SIMONE / SINNER, SIMONE / THEISEN, CATHARINA (2009): Bildung Älterer. Chancen im demografischen Wandel. Bielefeld

TIPPELT, RUDOLF / SCHMIDT, BERNHARD (Hrsg.; 2010): Handbuch Bildungsforschung, 3. Auflage. Opladen

TITMUS, COLIN, J. (1989): Lifelong education for adults. Advances in education. An international handbook. Oxford

DJI Impulse 4/2012 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2012 - Nr. 100, S. 42-45
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E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2013