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KIND/111: Wie Kinder im Vorschulalter im Bereich Naturwissenschaften lernen (wissen|leben - WWU Münster)


wissen|leben - Nr. 4, 6. Juni 2012

Die Zeitung der WWU Münster

Spaß am Entdecken steht im Vordergrund
Prof. Miriam Leuchter erforscht, wie Kinder im Vorschulalter im Bereich Naturwissenschaften lernen

Von Christina Heimken



"Es gibt noch viele blinde Flecken", betont Prof. Miriam Leuchter vom Institut für Didaktik des Sachunterrichts, als sie von ihrem Forschungsgebiet spricht: der naturwissenschaftlichen Bildung der Allerjüngsten. Die Frage, wie Kinder im Alter von drei bis acht Jahren lernen und wie man ihnen ein Verständnis grundlegender naturwissenschaftlicher Phänomene vermitteln kann, fasziniert die gebürtige Schweizerin seit der Zeit, als sie selbst als Erzieherin gearbeitet hat.

Kinder besitzen ein intuitives Vorwissen - oft naive Vorstellungen, mit denen sie naturwissenschaftliche Phänomene deuten. Diese Erklärungen stimmen mit wissenschaftlichen Deutungen der Phänomene jedoch häufig nicht überein. Durch ein gezieltes Einsetzen von strukturierten Materialien, davon gehen Experten heute aus, können Kinder im frühen Alter an eine naturwissenschaftliche Denkweise herangeführt werden. Sie können dabei unterstützt werden, ihre naiven Vorstellungen umzustrukturieren und wissenschaftliche Deutungen in Erklärungsversuche einzubeziehen. "Und gerade in einer zunehmend technologisierten Gesellschaft ist es sinnvoll, Kompetenzen in naturwissenschaftlich-technischen Bereichen schon früh, also auch in der Kindertagesstätte, zu stärken", erklärt Miriam Leuchter.

Das klingt sehr theoretisch - doch mit einem Vorurteil räumt die Professorin gleich auf: "Naturwissenschaftliches Lernen im Kindergarten heißt niemals 'nicht lustvoll'", erklärt sie. "Im Gegenteil: Die Kinder haben sehr viel Spaß, wenn sie Vermutungen anstellen dürfen, beobachten, vergleichen und ihre Annahmen überprüfen." Natürlich sei Voraussetzung, dass die naturwissenschaftlichen Experimente für die Kleinen so organisiert sind, dass sie für die Kinder spielerisch nachvollziehbar sind. Dann würden Kinder, die von Natur aus wissbegierig sind, gerne experimentieren. Lernen fände jedoch auch dann nicht automatisch, sondern nur mit Unterstützung von kompetenten Erwachsenen oder Kindern statt. Die Wissenschaftlerin weiß genau, wovon sie spricht: Sie hat mehr als zehn Jahre in Schweden und in der Schweiz als Kindergärtnerin gearbeitet, bevor sie in Zürich ein Studium der pädagogischen Psychologie aufnahm. Als Wissenschaftlerin arbeitet sie nach wie vor eng mit Kindern zusammen.

Das Thema Bildung im Vorschulalter war lange nicht im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert. "Der PISA-Schock war ein Auslöser, dass der Fokus nun mehr auf die frühkindliche Bildung gelegt wird. Heute gibt es ein größeres gesellschaftliches Interesse als noch vor zehn, fünfzehn Jahren", betont Miriam Leuchter. Das hänge mit der wissenschaftlichen Erkenntnis zusammen, dass Kinder viel eher viel mehr lernen können als ursprünglich gedacht. Dabei, so stellt die Wissenschaftlerin klar, sei eine Überforderung der Kinder nicht zu befürchten, solange das Lernangebot altersgemäß aufbereitet und nicht zu viel auf einmal verlangt werde. "Kinder im Kita-Alter nehmen Anregungen, die man ihnen bietet, sehr gern auf", betont Miriam Leuchter.

Viele Lernangebote hält die 47-Jährige jedoch nicht für geeignet, um den Kindern ein tiefer gehendes Verständnis zu vermitteln. "Wenn Sie Kindergartenkindern eine Apfelschälmaschine oder einen Handbohrer präsentieren, werden Sie sicher Interesse wecken. Sie können den Kindern auch nahebringen, wofür die Maschinen gebraucht werden. Aber die Kinder werden nicht verstehen, wie sie funktionieren. Dazu müssten sie zunächst begreifen, was ein Rad ist, wie ein Rad aufgehängt sein muss, damit es rund läuft und wie ineinandergreifende Zahnräder funktionieren. Dieses Verständnis kann man mit vielen sorgfältig geplanten einfachen Versuchen mit Kugelbahnen, Rädern und Rollen anbahnen", erklärt Miriam Leuchter. Darüber hinaus geht es auch darum, dass die Kinder sich spielerisch Denk- und Arbeitsweisen aneignen, die für sie später bei dem weiteren Wissensaufbau hilfreich sind.

Ein anderes Beispiel: Anhand von Versuchsreihen zum Thema "Sinken und Schwimmen" können Vier- bis Sechsjährige ein Konzept zu den Eigenschaften unterschiedlicher Materialien entwickeln - so schwimmt Holz beispielsweise, und Metall geht unter. "Dieses Konzept ist nicht bis ins Letzte tragfähig - ein Schiff aus Metall schwimmt ja beispielsweise auch", erklärt Miriam Leuchter. Welche Rolle die Dichte spielt, könnten die Kinder erst später verstehen. "Das Dichtekonzept ist aber auch noch gar nicht Lernziel in der Kita. Wichtig ist, dass die Kinder Vorwissen aufbauen, an das man später anknüpfen können, und dass sie ihre nicht ausbaufähigen Vorkonzepte - zum Beispiel, dass große Dinge untergehen - infrage stellen." Das Verständnis, dass es unterschiedliche Materialien gibt, ist eine Grundlage für das Dichtekonzept.

Miriam Leuchter sieht Bedarf, naturwissenschaftliche Bildung stärker in Kindergärten umzusetzen. "Natürlich ist es gut, wenn Kinder sich eine Apfelschälmaschine anschauen. Aber besser wäre es, man finge mit ganz einfachen Versuchen zu Kugeln und Rollen an und ließe die Kinder experimentieren und Fragen stellen." Dann könnten sich Kinder das nötige Verständnis aneignen, um später zu verstehen, wie solch eine Maschine funktioniert.

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Quelle:
wissen|leben - Die Zeitung der WWU Münster, Nr. 4, 6. Juni 2012, S. 5
Herausgeberin:
Die Rektorin der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2012