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KIND/112: Wie Kinder Krisen meistern (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2012 - Nr. 97

Wie Kinder Krisen meistern
Vom Umgang mit kritischen Ereignissen in Kindheit und Jugend

Von Bernhard Kalicki und Katrin Hüsken



In der aktuellen Diskussion um Kindheit und Jugendalter stehen häufig der Wissens- und Kompetenzerwerb sowie der Bildungserfolg im Mittelpunkt (zum Beispiel Spiel/Schober/Wagner/Reimann 2010). Mit Blick auf die Unterstützung von Lernprozessen und die Förderung günstiger Entwicklungsverläufe werden dabei allzu häufig schulnahe Bildungs- und Entwicklungsbereiche thematisiert. Aspekte des sozialen Lernens und der sozial-emotionalen Entwicklung geraten so leicht in den Hintergrund. Auch wird die Bedeutung widriger Bedingungen des Aufwachsens und früh belastender Erfahrungen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen unterschätzt, wenn in der pädagogischen Fachdebatte die Potenziale für das Lernen aus eigenem Antrieb einseitig hervorgehoben werden.

Kinder und Jugendliche sind als sich entwickelnde Individuen eingebunden in soziale Kontexte. Einen wichtigen Kontext bilden dabei das Generationengefüge und die Beziehungen zu den Eltern und Großeltern. Eltern sorgen für ihre Kinder, sie suchen die kindliche Entwicklung zu fördern und zu unterstützen. Gleichzeitig prägen sie die kindlichen Lern- und Entwicklungsbedingungen mit all ihren Potenzialen, aber auch Limitierungen.

In diesem Beitrag sollen die Erkenntnisse der Ereignis- und Bewältigungsforschung (Filipp/Aymanns 2009) unter dem Entwicklungsaspekt betrachtet werden. Dabei kann zunächst ein Phänomen festgehalten werden, das zu beruhigen vermag: Zwar sind Kinder und Jugendliche in den ersten beiden Lebensdekaden den unterschiedlichsten Risikofaktoren und Belastungen ausgesetzt. Meist gelingt jedoch die Bewältigung, aus vielen Krisen gehen sie sogar gestärkt hervor. Offen bleibt jedoch, welche Bedingungen und Prozesse für die Meisterung der vielfältigen Herausforderungen verantwortlich sind. Für Kindheit und Jugendalter wird hier daher der Frage nachgegangen, wie die Familie Anlass kritischer Ereignisse und chronischer Belastungen sein kann und welche Bedeutung ihr als Schutzfaktor und Ressource für deren Bewältigung zukommt. Außerdem soll ausgelotet werden, inwiefern der Erwerb von Kompetenzen zur Bewältigung kritischer Ereignisse in Erziehungs- und Bildungskontexten gezielt gefördert werden kann.


Erfahrungen mit Tod, Krankheit und anderen kritischen Lebensereignissen

Gerade das Jugend- und frühe Erwachsenenalter ist geprägt durch eine Reihe von Rollen- oder Statusübergängen, die die Heranwachsenden mit neuen Erwartungen konfrontieren. Die Beziehungen zu Gleichaltrigen zu intensivieren, sich emotional abzulösen von den eigenen Eltern, Schule und Ausbildung erfolgreich zu beenden und einen Beruf zu ergreifen - diese und andere Entwicklungsübergänge werden zu typischen Alterszeitpunkten erwartet, auch wenn solche normalbiografischen Zeitpläne in den zurückliegenden Jahrzehnten deutlich an Verbindlichkeit eingebüßt haben (Kalicki 1996).

Für die Kindheit umfasst der Katalog an kritischen Entwicklungsübergängen zum Beispiel den Eintritt in die institutionelle Kindertagesbetreuung und die Einschulung, für ältere Geschwisterkinder auch die Geburt eines Bruders oder einer Schwester. Kritisch sind alle diese Übergänge insofern, als sie eine Neuanpassung (oder Bewältigung) erfordern, die häufig als krisenhaft erlebt wird.

Neben kritischen Übergängen wirken sich kritische Lebensereignisse auf das Wohlbefinden und die Anpassung (»functioning«) des jungen Menschen aus. Kritische Ereignisse (»major life events«) wie der Tod oder die schwere Erkrankung eines Nahestehenden, die eigene schwere Erkrankung, Gewalterfahrung oder andere Formen der Traumatisierung erschüttern die betroffene Person und werfen sie sprichwörtlich aus der Bahn. Dies zeigt sich an Belastungsreaktionen wie überfallartigen Erinnerungen (Intrusionen und »flash-backs«) oder dem Hadern mit dem eigenen Schicksal. Mit Stress und einem gewissen Anpassungsbedarf sind auch weniger gravierende oder bedrohliche Ereignisse verbunden (»minor life events«), etwa ein Wohnortwechsel.

Eintritt, Wirkung und Bewältigung kritischer Lebensereignisse wurden intensiv für das Erwachsenenalter erforscht. Deutlich weniger Informationen liegen für das Kindes- und Jugendalter vor. Dabei zeigen aktuelle Daten des DJI-Surveys »Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten« (AID:A), dass gut zwei Drittel der befragten Jugendlichen im Alter von 13 bis 17 Jahren bereits den Tod einer wichtigen Person erlebt haben (siehe Tabelle). Auch die schwere Erkrankung eines Familienangehörigen sowie die Trennung oder Scheidung der Eltern wird von gut einem Viertel beziehungsweise einem Sechstel der Befragten als Erlebnis bestätigt. Wie diese Zahlen belegen, erweist sich die Familie nicht nur als geschützter Raum, sondern auch als Erfahrungswelt für bedrohliche und mit Verlusten verknüpfte Lebensereignisse.

Schicksalsschläge im Leben von Kindern 
 Die Abbildung zeigt, welche kritischen Ereignisse 
 13- bis 17-Jährige am häufigsten erleben (Angaben in Prozent).
Eigene schwere Krankheit

Geldprobleme in der Familie

Arbeitslosigkeit in der Familie

Opfer einer Schlägerei

Trennung/Scheidung der Eltern

Schwere Krankheit eines Familienangehörigen

Tod einer wichtigen Person
6,5
  
6,5
  
6,7
  
7,2
  
17,3
  
27,9
  
67,6

Quelle: AID:A 2009, befragt wurden 2.829 Jugendliche; eigene Berechnungen


Enge Familien- und Freundesbande helfen

Zahlreiche kleinere Widrigkeiten und Ärgernisse des Alltags (»daily hassles«) drohen kurzfristig die Stimmung zu trüben und werden durch überwiegend automatische Anpassungsprozesse reguliert. Auch jenseits eines massiven Stresserlebens ist für die Aufrechterhaltung einer positiven Stimmung also eine Feinabstimmung von Wahrnehmungen und Urteilsprozessen notwendig. Bewältigung kann demgegenüber definiert werden als »Regulation unter Stress« (Zimmer-Gembeck/Skinner 2011). Die Bewältigung kritischer Übergänge und Ereignisse hängt dabei nicht nur von Merkmalen der Situation beziehungsweise des Ereignisses und von den Kompetenzen des Individuums ab. Insbesondere der soziale Kontext prägt Art und Erfolg der Krisenbewältigung mit.

Dass sich kritische Lebensereignisse langfristig auf das Wohlbefinden auswirken, belegen auch die Daten des AID:A-Surveys. So äußern die befragten Kinder und Jugendlichen in Abhängigkeit von der Anzahl bereits erlebter kritischer Ereignisse eine niedrigere Lebenszufriedenheit: Je mehr kritische Ereignisse schon erlebt wurden, desto niedriger ist die allgemeine Zufriedenheit. Dieser Zusammenhang wird, im Einklang mit dem vorgestellten Bewältigungsmodell, sowohl durch enge Familien- als auch durch enge Peerbeziehungen abgeschwächt.


Kinder und Jugendliche unterstützen

Schließlich unterliegen die Bewältigungsmuster selbst auch einer Entwicklung, die bislang jedoch nur ansatzweise erforscht wurde (Zimmer-Gembeck/Skinner 2011). Die vorliegenden Erkenntnisse deuten darauf hin, dass die Kompetenz, Krisen zu bewältigen, von der frühen Kindheit bis ins späte Jugendalter hinein zunimmt, wobei erstens das Zutrauen in erwachsene Bezugspersonen schrittweise durch Selbstvertrauen ergänzt wird, zweitens verstärkt kognitive Bewältigungsformen und planvolles Problemlösen eingesetzt werden und drittens zunehmend eine strategische Auswahl der vielversprechendsten Bewältigungsform oder Unterstützungsquelle zu beobachten ist.

Angesichts der dürftigen Forschungslage überrascht es nicht, dass bislang kaum ausgereifte Konzepte zur Unterstützung und Förderung des Aufbaus von Kompetenzen zur Bewältigung kritischer Ereignisse vorliegen. Konsens besteht jedoch in der Auffassung, dass insbesondere den Eltern eine wichtige Rolle zukommt. Sie bestimmen mit, welchen akuten oder chronischen Stressoren und Belastungen Kinder ausgesetzt sind. Sie bilden eine wichtige Ressource für Bewältigung, wenn sie Hilfe und Unterstützung leisten. Und sie bieten mit ihren eigenen Reaktionsmustern Modelle für erfolgreiche oder ungünstige Bewältigung. Da Kinder den elterlichen Schutz benötigen, andererseits überprotektives Erziehungsverhalten jedoch das Erlernen effektiver Bewältigungsstrategien behindern kann, zählt zu den wichtigen elterlichen Erziehungsfunktionen wohl das Dosieren von neuen Herausforderungen und Stressoren für das Kind (Power 2004).

Für die Pädagogik stellt sich in Forschung und Fachpraxis die Aufgabe, mehr über den Aufbau kindlicher Anpassungs- und Bewältigungsmuster zu erfahren und diese Erkenntnisse zu systematisieren, um sie praktisch nutzbar zu machen. Hierzu bedarf es stärkerer Forschungsbemühungen, die die Alltagswelten von Kindern und Jugendlichen - auch im Generationengefüge - ebenso in den Blick nehmen wie die Beobachtungen und Erfahrungen der Praxis.


DER AUTOR, DIE AUTORIN

Prof. Dr. Bernhard Kalicki leitet die Abteilung »Kinder und Kinderbetreuung« am Deutschen Jugendinstitut.
Kontakt: kalicki@dji.de

Katrin Hüsken ist wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut.
Kontakt: huesken@dji.de


LITERATUR

FILIPP, SIGRUN-HEIDE / AYMANNS, PETER (2009): Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen. Stuttgart

GRANT, KATHRYNE E. / COMPAS, BRUCE E. / STUHLMACHER, ALICE F. / THURM, AUDREY E. / MCMAHON, SUSAN D. / HALPERT, JANE A. (2003): Stressors and child and adolescent psychopathology: Moving from markers to mechanisms of risk. Psychological Bulletin, Band 129, S. 447-466

KALICKI, BERNHARD (1996): Lebensverläufe und Selbstbilder. Die Normalbiographie als psychologisches Regulativ. Opladen

POWER, THOMAS G. (2004): Stress and coping in childhood: The parents' role. Parenting: Science and practice, Band 4, S. 271-317

SKINNER, ELLEN A. / ZIMMER-GEMBECK, MELANIE J. (2009): Challenges to the developmental study of coping. In: Skinner, E.A. / Zimmer-Gembeck, M.J. (Hrsg.): Coping and the development of regulation. New directions for child and adolescent development, Band 124, S. 5-17

SPIEL, CHRISTIANE / SCHOBER, BARBARA / WAGNER, PETRA / REIMANN, RALF (Hrsg.; 2010): Bildungspsychologie. Göttingen

ZIMMER-GEMBECK, MELANIE J. / SKINNER, ELLEN A. (2011): The development of coping across childhood and adolescence: An integrative review and critique of research. International Journal of Behavioral Development, Band 35, S. 1-17


DJI Impulse 1/2012 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2012 - Nr. 97, S. 13-15
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-0, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de

DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juli 2012