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KIND/113: Kinder brauchen Abenteuer (Securvital)


Securvital 3/2012, Juli - September 2012 Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen

Für eine gesunde Entwicklung
Kinder brauchen Abenteuer

Von Norbert Schnorbach



Wann klettern Kinder heute noch auf Bäume, balancieren über Felsen, bauen Staudämme am Bach oder beobachten Kaulquappen und Frösche? Viel zu selten, meinen Erzieher und Mediziner. Kinder brauchen mehr Naturerlebnisse.


Es gibt viele gefährliche Spiele für Kinder: Auf rutschigen Steinen balancieren, mit scharfem Messer schnitzen, Lagerfeuer anzünden, am Wasser spielen, im Dreck buddeln, im Wald herumstromern, auf Bäume klettern und ähnlich verlockende Dinge. Überall lauern Gefahren in der freien Natur, könnte man meinen. Und doch brauchen Kinder genau solche Spiele.

Heute wachsen die meisten Kinder mit ganz anderen Erfahrungen auf als noch vor ein oder zwei Generationen. Natur und Abenteuer sind im modernen Leben selten geworden. Wer in der Stadt wohnt, hat nun mal keine Bauernhöfe und unberührten Bachläufe vor der Haustür, allenfalls Grünflächen und Spielplatzgeräte. Außerdem rücken Fernseher, Facebook und Playstation in den Lebensmittelpunkt. Wind, Wasser, Erde, Berge, Bäume, Tiere und Vogelgezwitscher dagegen werden fremd.


GEFÜHL FÜR GEFAHREN

Das hat grundlegende Auswirkungen, auch auf die Gesundheit. Geschicklichkeit und Stärke, aber auch Aufmerksamkeit und Fantasie, soziale Fähigkeiten und Selbstbewusstsein entwickeln sich beim freien Spielen. Laut medizinischen Untersuchungen haben Kinder auf dem Land, die häufiger draußen spielen und Kontakt zu Tieren haben, weniger Zivilisationskrankheiten wie Allergien, Asthma und Heuschnupfen.

"Die Kinder sollen Vertrauen und Mut in die eigenen Fähigkeiten entwickeln."
Monika Hepp-Hoppenthaler, Wald- und Naturkindergärten

Kinderärzte stellen fest, dass der Anteil der Kinder mit Begungsproblemen steigt - einfach weil ihnen die Übung fehlt und sie immer seltener Gelegenheit haben, zu rennen, klettern schwimmen und balancieren. Sport und Bewegung sind überaus wichtig für die kindliche Entwicklung. Sie verbessern das Körpergefühl, verhindern Haltungsschäden, bringen den Menschen ins Gleichgewicht, schärfen die Sinne und vermitteln auch ein Gefühl für Gefahren. Aber Kindergärten, Schulen und Sportvereine sind nicht immer in der Lage, das Bewegungsdefizit auszugleichen.

Zunehmend fordern Erzieher, Psychologen und Ärzte, den Kindern wieder mehr Körpererfahrungen und natürliche Sinneserlebnisse zu ermöglichen. "Kinder brauchen Natur", meint Andreas Weber. Sein Buch "Mehr Matsch!" ist ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, den Kindern mehr Freiräume, mehr Natur und Abenteuer zu lassen. Erfahrungen am eigenen Leib machen zu können sei enorm wichtig, bekräftigt der Neurobiologe Prof. Gerald Hüther aus Göttingen. "Nur aus solchen Erfahrungen können im kindlichen Gehirn all jene inneren Einstellungen und Haltungen herausgeformt werden, die die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen stärken und die Entfaltung der in ihnen angelegten Potenziale, ihre Entdeckerfreude und Gestaltungslust wieder anregen."


BEI WIND UND WETTER

Es gibt zahlreiche Initiativen, die daran arbeiten. Der Umweltverband BUND fördert "Naturerfahrungsräume" in Großstädten wie Berlin und Bremen. Die Arbeiterwohlfahrt unterstützt "Wildnispädagogik" als Fortbildung für Sozialpädagogen und Jugendtherapeuten. Die wachsende Zahl von Waldkindergärten vermittelt den Kindern intensive Naturerlebnisse auch bei Wind und Wetter. "Die Kinder sollen vielfältige eigene Erfahrungen machen, Vertrauen und Mut in die eigenen Fähigkeiten entwickeln, aber auch ihre persönlichen Grenzen erleben", meint Monika Hepp-Hoppenthaler vom Bundesverband der Wald- und Naturkindergärten in Deutschland (www.bvnw.de).

Viele Entwicklungen sind durchaus erfreulich. In vielen Kindergärten und Kitas dürfen die Kinder gärtnern, bauen und backen. Das Konzept der "bewegten Schule" gewinnt Anhänger. Pfadfinder haben großen Zulauf. Waldorfschüler machen Landwirtschafts- und Forstpraktika. In vielen den Schulen werden Ziegen und Bienen gehalten. Die Erkenntnisse über den Wert der Natur werden wieder höher geschätzt. Dabei sind sie keineswegs neu. Schon vor 50 Jahren meinte der Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich: "Derjunge Mensch braucht Elementares: Wasser, Dreck, Gebüsch, Spielraum. Man kann ihn auch ohne das alles aufwachsen lassen, mit Teppichen, Stofftieren, auf asphaltierten Straßen und Höfen. Er überlebt es, doch man soll sich dann nicht wundern, wenn er später bestimmte soziale Grundleistungen nicht mehr erlernt, z.B. ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem Ort und Initiative."

Heute stellen sich die gleichen Herausforderungen in verschärfter Form. "Dass Kinder sich der Natur zunehmend entfremden, hat das Potenzial einer zivilisatorischen Katastrophe", meint Andreas Weber. Natur-Entzug schade Leib und Seele, den Kindern fehle "ein Moment der schöpferischen Freiheit", befürchtet Weber. "Hunderte von Studien belegen in seltener Eindeutigkeit: Natur spendet Kindern Lebenslust. Und doch hat die gängige Psychologie diesen Zusammenhang ausgeklammert."

"Eltern haben zu viel Angst, dass die Kleinen sich beim Toben im Freien verletzen."
Andreas Weber, Autor des Buches "Mehr Matsch!"

In den USA entzündete sich die Debatte über die Entfremdung zwischen Kindern und Natur vor einigen Jahren an dem Aufsehen erregenden Buch "The last Child in the Woods". Der Autor Richard Louv kritisiert, dass viele Kinder bis zu 50 Stunden in der Woche vor elektronischen Geräten verbringen. Bei einer Umfrage erklärte ihm ein Viertklässler: "Ich spiele lieber drinnen, weil da die ganzen Steckdosen sind." Noch entscheidender als die Verlockungen der Elektronik sind aber nach Louvs Überzeugung jene Eltern, die dazu neigen, ihre Kinder zu sehr zu behüten. "Ich glaube, dass die Angst der Eltern vor Gefahren die Kinder sehr viel mehr vom Spielen in der Natur abhält als elektronische Medien."

Louv rät den Eltern dazu, weniger ängstlich zu sein, denn ihre Kinder lernen beim Spielen, mit Gefahren umzugehen. Die Risiken seien viel geringer, als besorgte Eltern befürchten. Es tue den Eltern ebenso wie den Kindern gut, mehr gemeinsame Erfahrungen in der Natur zu suchen. Louv gibt viele praktische Anregungen: Gelegentliche Vollmondspaziergänge, Tiere beobachten, Bäume untersuchen, bei der Ernte helfen, barfuß laufen, im Freien übernachten und vieles mehr.


SELTENER KRANK

Kinder sollten Erfahrungen sammeln dürfen, fordert der Buchautor Louv. Zum Beispiel auch mal mit Brennnesseln Bekanntschaft machen oder einen Regenwurm ablecken, Käfer und Ameisen untersuchen und Baumhäuser bauen. Am besten zusammen mit Freunden, aber ohne Eltern, die sich ständig Sorgen machen.

Übertriebene Ängste sind auch nicht angebracht, wenn Kinder im Wald spielen, auf Bäume klettern und über Stock und Stein rennen. Eine Studie in Schweden hat Kinder aus Naturkindergärten und "normalen" Stadtkindergärten verglichen und festgestellt, dass die Kinder signifikant gesünder waren, wenn sie den ganzen Tag draußen in Wald und Flur verbrachten. Sie wurden seltener krank, hatten eine bessere Motorik, konnten sich viel besser konzentrieren, spielten fantasiereicher und gingen sozialer miteinander um.


Tipps zum Weiterlesen:
  • Richard Louv:
    Das letzte Kind im Wald? Geben wir unseren Kindern die Natur zurück!
    Beltz Verlag, Weinheim 2011, 360 Seiten, 19,95
     
  • Gerhard Trommer:
    Schön wild! Warum wir und unsere Kinder Natur und Wildnis brauchen.
    Oekom Verlag, München 2012, 208 Seiten, 12,95
     
  • Andreas Weber:
    Mehr Matsch. Kinder brauchen Natur.
    Ullstein Verlag, Berlin 2012, 256 Seiten, 9,99

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Vorschläge für Eltern
Mehr Freiräume für Kinder!

Vor echten Gefahren müssen Kinder geschützt werden, keine Frage. Aber wie können sie am besten lernen, mit Risiken umzugehen und selbstständig zu werden?

Gummistiefel und Taschenmesser, Schaukeln und Kletterbäume - das sind Dinge, die Kinder brauchen, meint der Philosoph und Biologe Andreas Weber. In seinem lesenswerten Buch "Mehr Matsch!" gibt er Eltern eine Reihe von praktischen Vorschlägen für einen intensiveren Kontakt mit der Natur. "Gehen Sie mit Ihrem Kind auf Abenteuerfahrt", empfiehlt Weber. "Leihen Sie sich ein Kanu und paddeln Sie für zwei oder drei Tage kleine Seen oder Flüsse hinunter, übernachten Sie auf den dazugehörigen provisorischen Biwakplätzen und schauen Sie von ihrem Schlafsack gemeinsam in die Sterne. Übernachten Sie einfach mal im Wald oder am Strand. Unternehmen Sie eine 3-Tages-Bergtour mit Hüttenübernachtung. Aber machen Sie kein Überlebenstraining daraus, keine abschreckende Härteprüfung. Es geht nicht um Gefahr und Schmerz, sondern darum, einmal ganz der Gegenwart von Natur ausgesetzt zu sein...

Gehen Sie hinaus. Machen Sie Spaziergänge, und fangen Sie damit schon mit Ihrem Säugling an. Aber fordern Sie keinen Gewaltmarsch. Wenn Ihr Kind beschließt, nach den ersten fünf Metern für die nächsten anderthalb Stunden von einem Regenwurm fasziniert zu sein, halten Sie es aus, bleiben Sie geduldig, unterstützen Sie sein Interesse. Teilen Sie die Begeisterung jener primären Erkenntnisse, die Ihr Kind dabei macht. Erleben Sie die Welt durch seine Augen in Schönheit und Neuheit...


HERZENSLUST

Picknicken Sie öfter! Kein Kind kann dem Gedanken widerstehen, irgendwo an einem Bach, einem Feldrain oder auch nur draußen auf der Parkwiese auf einer Decke zu speisen. Machen Sie keine großen Umstände - draußen schmeckt alles anders, und besser...

Machen Sie öfter mal ein Feuer. Gestatten Sie Ihrem Kind unbedingt, mitzutun und nach Herzenslust zu kokeln - Stöcke zu verbrennen, Stockbrot zu grillen, mit grünen Blättern Rauchzeichen zu geben. Ein Feuer lebt und wärmt und verbindet - und verlangt, weil es gefährlich ist, von den Kleinen erste eigene Umsicht und Verantwortung...

Bäume sind zum Klettern da. Erlauben Sie Ihrem Kind (zuerst mit diskreter Assistenz) die Welt oberhalb der Köpfe seiner Eltern zu erkunden. Geben Sie sich einen Ruck und lassen Sie Ihr Kind allein oder mit seinen Kumpels zum Bäumeklettern ziehen. Obwohl es sich für uns Eltern alle gruselig anfühlt, ist das Risiko geringer, als Sie denken...

Schauen Sie mit Ihren Kindern auch das kleinste Lebewesen genau an, das Sie finden. Versuchen Sie, Ihren Ekel zu überwinden, falls Sie welchen empfinden. Kinder grausen sich von Natur aus kaum vor Krabbeltieren. Um die Komplexität und Schönheit der Lebewesen zu erfassen, muss man keine Tropensafari buchen."

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Quelle:
Securvital Nr. 3/2012, Juli - September 2012, S. 6-10
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen
Herausgeber: SECURVITA GmbH - Gesellschaft zur Entwicklung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. August 2012