Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → PÄDAGOGIK

SCHULE/240: Schweden lernen anders (welt der frau)


welt der frau 9/2008 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Schweden lernen anders

Gerlinde Knaus


Die "Schule der Zukunft" ist klassenlos, sieht den Raum als dritten Lehrer, hat keine Schulglocke, keine Stundenpläne, keine Noten und bringt Kinder mittels "Logbuch" zur Matura - all das selbstverständlich für Eltern kostenlos. So wohltuend anders ist die schwedische "Futurum-Skola".


Was ist das Beeindruckende an dieser schwedischen Schule, die selbst schärfste KritikerInnen der Gesamtschule zum Grübeln bringt? Die Außenansicht der "Futurum-Skola" wirkt einladend und freundlich - ein schmucker Flachbau mit viel Glas und Holz in Rot, Gelb und Taubengrau. Die Schule hat zweifellos skandinavischen Charme. Die schwedische Maxime lautet: Der Raum ist der "dritte Lehrer" des Kindes. Die These stammt ursprünglich von dem Italiener Loris Malaguzzi, der Kinder schon in den 1980er-Jahren als Forscher und Dichter ansah. Demnach seien der erste Lehrer die MitschülerInnen, der zweite der Lehrer, die Lehrerin selbst und der vierte die Zeit.

Junge Leute spielen Billard und Drehfussball. Andere wiederum betreuen das Buffet. Der offene Raum wirkt wie ein Jugendzentrum. Hier wird nicht geraucht und kein Alkohol konsumiert - das versteht sich von selbst. Die Teenager lassen sich von Popmusik in dezenter Lautstärke berieseln. Es herrscht am späten Vormittag ein reges Kommen und Ge[Kein(e,r)]hen. Junge Leute mit freakigem Outfit, wie etwa im Punk-Style, sieht man hier kaum. Adrett gekleidete SchülerInnen prägen das Gesamtbild. Es ist nicht gerade Pause, wie vermutet wird, sondern ganz normaler Schulbetrieb. Unterricht findet hier nicht in Klassenzimmern hinter verschlossenen Türen statt, sondern gelernt wird überall. Einige SchülerInnen sieht man in Labors, andere in Werkstätten. Kleinere machen es sich gerade auf Sofas gemütlich - Größere lernen in Gruppen oder allein. Alles ist offen und einsehbar. SchülerInnen der Futurum-Skola sind BesucherInnen gewöhnt und lassen sich bei ihrem Tun nicht stören. Ein Bub spricht die Gäste neugierig an. "Where do you come from?", fragt er mit vorgehaltener Hand. "I'm from Austria!" "Wow, Australia!", staunt er und zeigt ein Zahnlückengrinsen. Er flüstert seinem Freund etwas ins Ohr und beide biegen sich vor Lachen. "No, not Australia, Austria." Noch einem kurzen Moment der Verwirrung fängt er sich wieder. "Ah, I know!" Sie strecken Zeige- und Mittelfinger in die Höhe und verschwinden in den Raum, der "Australien" heißt. Manche Räume sind noch Kontinenten benannt, wie Südamerika oder Afrika. Pflanzen und verschiedene Materialien laden zum anschaulichen Lernen ein.

Kein Lärm, kein Vandalismus. Die ErstklässlerInnen sprechen fließend Englisch - die erste Fremdsprache in den schwedischen Schulen. Als zweite Fremdsprache wählen die SchülerInnen mehrheitlich Spanisch. Auch Deutsch und Französisch werden angeboten. "Außerdem werden hier die Spielfilme nicht synchronisiert, was dazu führt, dass viele SchwedInnen mit Englisch aufwachsen", erklärt Schulleiter und Mathe-Lehrer Hans Ahlenius, der mit schlurfenden, leisen Schritten auf seine Gäste zukommt und sie zu einem Rundgang in der Schule einlädt. Eine der ersten "Stationen" ist die Garderobe. Hans Ahlenius hat blaue Galoschen an, die BesucherInnen machen es ihm gleich und stülpen sich diese merkwürdigen Einwegpatschen über die Straßenschuhe. "Die Hausschuhregel trägt auch dazu bei, dass der Lärmpegel herabgesetzt wird", meint Ahlenius. "Dadurch fühlen sich die SchülerInnen wie zu Hause. Das ist uns sehr wichtig, weil sie viel Zeit hier verbringen." Die harmonische Atmosphäre löst immer wieder Erstaunen bei den BesucherInnen aus. Es gibt hier keine Zerstörung und keinen Lärm, obwohl sich über tausend muntere Kinder verschiedenen Alters und teilweise aus schwierigen Verhältnissen hier aufhalten. Überall, wo man hinkommt, sind sie konzentriert bei der Sache.

Die 12.000 Quadratmeter große Schule wurde vor etwa acht Jahren architektonisch und inhaltlich komplett umgestaltet. Dafür hat die Gemeinde rund sechs Millionen Euro investiert. Die Schule bietet über 1.000 SchülerInnen von sechs bis sechzehn Jahren Lebens- und Lernräume. Die Kerngedanken des Zukunftsmodells: Fächerübergreifendes Projektlernen, Wochenpläne, flexibler Schulstart, Team-Kleingruppen-Arbeit und andere experimentelle Arbeitsformen gehören zum neuen Programm. "Wir leben in einer Wissensgesellschaft, die durch die Einführung von Computern und Internet neue Herausforderungen an uns stellt", so Hans Ahlenius, Mitgestalter des Ganztagsschulmodells von der ersten Stunde an. Die neue Schule soll die "ungeheuren Möglichkeiten der neuen Technik nutzen und die veränderte Gesellschaft widerspiegeln".

Atemberaubend klassenlos. Die Schule ist "klassenlos" im sozialen und räumlichen Sinne. Das Gesamtschulmodell, eine Schule für alle, unabhängig von Leistung und Herkunft, ist in Schweden seit Jahrzehnten Normalität. Die Futurum-Skola gilt auch im eigenen Land als sehr fortschrittlich. Die Ausstattung nimmt besonders österreichischen und deutschen BesucherInnen vor Begeisterung den Atem. Die Räume sind hell und von freundlicher Farbigkeit. Raumgruppen folgen einem Farbkonzept (gelb, orange, pink, rot, grün, blau). Verschiedene Materialien, wie Holz, Glas, Textilien, geben den Räumen mehr sinnliche Qualität. "Wir arbeiten mit dem Modell der kleinen Schule in der großen, wobei wir sowohl Klassen als auch den Frontalunterricht abgeschafft haben", erklärt Hans Ahlenius das Modell. Jede der "kleinen Schulen" besteht aus einem Ensemble von Räumen, die sich meist um einen etwas größeren, zentralen Raum gruppieren. Die Zusammenstellung verschieden großer Räume zu einer Gruppe ermöglicht eine große Flexibilität. Bemerkenswert ist, dass die Räume durch die Anordnung der Möbel und durch flexible Raumteiler jene strenge und starre Ausrichtung verlieren, die uns so typisch für Schulen vorkommt.

Hochachtung vor Lehrerinnen. In jeder kleinen Schule gibt es auch einen großzügig und freundlich gestalteten Arbeits- und Rückzugsraum für LehrerInnen, die an der Schule größte Wertschätzung genießen. Die Spanischlehrerin Gabriela Gonzales hat in Wien Musik studiert und sie kennt die Situation in Österreichs Schulen. Mit strukturellen Problemen, wie zu großen Klassen oder fehlenden Arbeitsräumen für LehrerInnen, ist sie nicht konfrontiert. Sie wisse das sehr zu schätzen. Hier sei man sich der großen Verantwortung der PädagogInnen bewusst, die als "ArchitektInnen der Zukunft" gesehen werden. "In der Futurum-Schule kommen auf eine Lehrkraft höchstens zehn SchülerInnen bei einer übers Jahr gerechneten 40-Stunden-Woche. Wir haben hier eine beratende und vermittelnde Funktion", sagt Gabriela Gonzales. Sie und ihre KollegInnen stehen zu ihrem neuen Rollenbild der TeamspielerInnen.

Flexibel mit Logbuch. Statt feststehender Stundenpläne gibt es Gleitzeiten. Für die SchülerInnen beginnt der Unterricht mit einer einstündigen "Flex-Zeit". Wer möchte, kann später den Schultag beginnen und dafür am Nachmittag länger bleiben.

Freizeitaktivitäten sind Teil des Arbeitsprogrammes. "Es ist wichtig für uns, die Entwicklung der SchülerInnen über zehn Jahre kontinuierlich zu verfolgen", betont Ahlenius. Das Lernpensum wird im Wesentlichen selbst bestimmt, dazu dient ein individuelles "Logbuch", das mit pädagogischer Betreuung geführt wird. Anstelle von Hausaufgaben erstellt die/der BetreuungslehrerIn mit der Schülerin, dem Schüler ein individuelles Programm - je nach Begabung. Persönliche Lernvorlieben spielen dabei eine große Rolle. Wöchentlich werden die Eintragungen von Eltern und LehrerInnen gegengezeichnet und das Programm für die kommenden Tage oder für einen längeren Zeitraum besprochen. Bis zur 9. Klasse gibt es keine Noten, sondern Lernberichte.

Nahezu alle schaffen die Matura. Der Erfolg der "Futurum-Pädagogik" ist beachtlich. "90 Prozent unserer SchülerInnen besuchen die dreijährige schwedische Oberschule und machen mit 19 Jahren das Abitur", berichtet Hans Ahlenius. Darunter auch viele Kinder aus benachteiligten Schichten. Über zehn Prozent der Kinder an der Futurum-Skola haben einen Migrationshintergrund. "Was wir vermitteln, ist Eigenverantwortung beim Lernen und bei der Zielsetzung. Unsere AbsolventInnen sind selbstständiger als andere, heißt es an den weiterführenden Schulen."


*


Was ist die "Futurum-Skola"?

Die "Zukunfts-Schule" steht im schwedischen Balsta, einer 18.500 EinwohnerInnen zählenden Stadt, 45 km nordwestlich von Stockholm. Für den architektonischen und pädagogischen Schulumbau investierte 1999 die öffentliche Hand sechs Millionen Euro. "Futurum" ist eine öffentliche Schule. Sie hat internationale Beachtung als "Best Practice"-Beispiel aufgrund der zukunftsweisenden pädagogischen Konzeption und der besonderen Gestaltung der Lern- und Lebensräume gefunden. Futurum bietet Raum für 1.000 SchülerInnen im Alter von sechs bis sechzehn Jahren. Sechs "kleine" mit jeweils rund 160 SchülerInnen in einer "großen Schule".

Skandinavien gilt als Gesamtschulparadies. Überall wird über Schulreformen nachgedacht. Die frühe Trennung (mit 10 und 14 Jahren) in "gute" und "schlechte" SchülerInnen, das mäßige Abschneiden beim PISA-Länder-Ranking und der Ruf der Industrie nach qualifizierten Fachkräften sind die wesentlichen Gründe, weshalb in Österreich über Neuerungen diskutiert wird. Das Gesamtschulmodell ist hier sehr umstritten. Unter dem Titel "Neue Mittelschule" machte man gerade einen ersten Schritt in Richtung Gesamtschul-Modellversuch.


*


Einblick in das schwedische Schulsystem

In Schweden hat jedes Kind ab sechs Monaten einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Kindertagesstätte. Kinder von sieben bis 16 Jahren unterliegen der Schulpflicht. In dieser Zeit müssen sie eine der verbindlichen Schulformen Grundschule, Grundschule für Sami, Spezialschule oder Sonderschule besuchen. Nach Abschluss dieser neunjährigen Grundskola haben die SchülerInnen die Möglichkeit, eine weiterführende Schule zu besuchen. Hierzu gehören das Gymnasium, die gymnasiale Sonderschule, die kommunale Erwachsenenbildung oder eine Ausbildung für geistig behinderte Erwachsene. Der Unterricht im gesamten öffentlichen Schulwesen ist gebührenfrei. In Schweden gibt es keinen Nachhilfemarkt, da alle Leistungen rund um die Schule der Staat abdeckt. In Österreich geben Eltern jährlich rund 130 Millionen Euro für Nachhilfe aus. Tendenz steigend.


*


Gesamtschulen gibt es fast überall

Die schwedische Schule "Futurum" setzt Maßstäbe für die europäische Schulentwicklung und für den Ausbau von Ganztagsschulen. Österreich steht im internationalen Vergleich mit der Halbtagsschule und dem differenzierten Schulsystem ab der fünften Schulstufe ziemlich alleine dar. Die frühe Aufteilung der SchülerInnen mit zehn Jahren in AHS und Hauptschule ist eine österreichische Besonderheit. Nur Deutschland und die Schweiz haben noch ein ähnliches Schulsystem. Die meisten anderen Staaten, wie etwa Schweden, haben in den vergangenen Jahrzehnten die Gesamtschule eingeführt.
Gesamtschule bedeutet, dass alle Kinder den gleichen Schultyp besuchen, etwa so wie in den ersten vier Volksschuljahren.


*


"Ist das überhaupt eine richtige Schule?"

Hans Ahlenius, Mathe-Lehrer und Mitbegründer der schwedischen Gesamtschule "Futurum-Skola", im Gespräch mit Gerlinde Knaus über praktizierte Zukunft, über Visionen und Anfangsschwierigkeiten mit Eltern und LehrerInnen.


GERLINDE KNAUS: Was können andere Schulen von "Futurum" lernen?

HANS AHLENIUS: Wenn ich einen Ratschlag hätte, dann den, dass man mehr Flexibilität bei der Schulgestaltung an den Tag legt. So müssen wir uns heute in der Schule die Frage stellen, was denn Wissen ist und was wir lehren müssen. Wie muss die Schule und vor allem der Inhalt der Schule verändert werden, damit ein Nutzen aus den ungeheuren Möglichkeiten der neuen Technik gezogen werden kann? Wie bringen wir unsere SchülerInnen dazu, mehr Verantwortung zu übernehmen, die richtigen Fragen zu stellen, im Team, projektorientiert und themenübergreifend zu arbeiten? Wichtig ist, mit Visionen zu beginnen.

GERLINDE KNAUS: Welche Visionen standen am Anfang von Futurum?

HANS AHLENIUS: Es ist kein Zufall, dass unsere Schule "Futurum" heißt. Die Schule steht für eine neue Organisation, eine verbesserte Pädagogik, eine veränderte Rolle der LehrerInnen und ein förderndes Arbeitsumfeld. In einer Art Zukunftswerkstatt konzentrierten wir uns am Anfang eineinhalb Jahre lang ganz auf die Entwicklung des neuen Konzeptes. Wir wollen die SchülerInnen dazu bringen, tiefer in das Lernen einzudringen, ein größeres Verständnis zu erreichen und die Dinge ganzheitlich zu sehen. Das Ziel ist, vor dem Hintergrund der Intentionen des Lehrplans und der Ideen der Schule noch besser arbeiten zu können. Unserer Meinung nach funktioniert das vor allem aufgrund der Altersmischung der Lerngruppen. Ältere Kinder lernen von den jüngeren und umgekehrt.

GERLINDE KNAUS: War es schwierig, die passenden PädagogInnen für diese neue Pädagogik zu finden?

HANS AHLENIUS: Wir hatten am Anfang sehr viele Schwierigkeiten - nicht nur mit Leuten, die glaubten, eine Schule müsste so sein, wie sie sie selbst kennengelernt hatten. Eltern fragten sich, ob das überhaupt eine ordentliche Schule sei, wo man auf dem Sofa sitzt und auf dem Boden. Lernt man nicht besser auf Holzbänken und an Tischen in Reihen mit dem Blick zur Tafel? Aber besonders oft gab es Probleme mit den LehrerInnen, die den klassischen Frontalunterricht gewohnt waren. Diese konnten sich nicht auf das Teamspiel der Lehrerschaft einlassen und mussten gehen. Es ist enorm wichtig, dass die LehrerInnen unsere flexiblen und experimentellen Konzepte mittragen und realisieren.

GERLINDE KNAUS: Sehen Sie Futurum als Prototyp der Zukunftsschule?

HANS AHLENIUS: Das Konzept von Futurum ist sicherlich nicht eins zu eins auf ein anderes Land, wie etwa Österreich, übertragbar. Jede Schule muss ihr eigenes Konzept gestalten und den individuellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten anpassen. Wir betrachten unser pädagogisches Konzept nicht als "fertig", sondern als eine ideale Möglichkeit für die weitere Entwicklungsarbeit.


*


Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Ausgabe 9/2008, Seite 22-25
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
Redaktion: Welt der Frau Verlags GmbH
4020 Linz, Lustenauerstraße 21, Österreich
Telefon: 0043-(0)732/77 00 01-11
Telefax: 0043-(0)732/77 00 01-24
info@welt-der-frau.at
www.welt-der-frau.at

Die "welt der frau" erscheint monatlich.
Jahresabonnement: 29,- Euro (inkl. Mwst.)
Auslandsabonnement: 41,- Euro
Kurzabo für NeueinsteigerInnen: 6 Ausgaben 8,70 Euro
Einzelpreis: 2,42 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. September 2008