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SCHULE/396: Inklusion in die Schulen bringen (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2013 - Nr. 104

Inklusion in die Schulen bringen

Von Irene Hofmann-Lun



Um allen Schülerinnen und Schülern die gleichen Bildungsmöglichkeiten zu bieten, muss das pädagogische Konzept der Inklusion in Deutschland weiterentwickelt werden. Widerstand dagegen gibt es nicht nur von Seiten der Eltern, sondern auch aus der Lehrerschaft. Die Umsetzung der Inklusion ist nicht allein aus diesen Gründen ein Weg mit Hindernissen.


Inklusive Bildung hat zum Ziel, allen Kindern und Jugendlichen einen Zugang zu qualifizierter Bildung zu eröffnen. Dazu müssen Lernbedingungen geschaffen werden, in denen Kinder und Jugendliche ihre Potenziale - unabhängig von ihrem Geschlecht und ihren kulturellen, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen - entfalten können. Dabei wird der "Defizit-Ansatz", der in der Sonderpädagogik lange Zeit das Verständnis von Behinderung prägte, durch einen "Diversity-Ansatz" ersetzt: Er beinhaltet die Wertschätzung der individuellen Besonderheit jedes Menschen.

Während Deutschland in seinen Bildungsmodellen bisher auf möglichst homogene Lerngruppen setzte, konnte die internationale Integrationsforschung auf Basis der Erfahrungen mit inklusiven Schulmodellen belegen, dass Lernen in heterogenen Lerngruppen nicht nur möglich ist, sondern auch Erfolge verzeichnet. Heterogene Schulklassen sind besonders leistungsfördernd und bedeuten einen Gewinn für alle Schülerinnen und Schüler (Prengel 2012).

Deutschland hat sich seit der Einführung des Nationalen Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, die im Jahr 2006 verabschiedet wurde, auf den Weg gemacht, inklusive Bildung auf allen Ebenen einzuführen. Dieses Vorhaben steht in Zusammenhang mit den UNESCO-Weltkonferenzen zur inklusiven Bildung in den Jahren 1994 und 2009. Seit dem 26.3.2009 ist die UN-Konvention verbindliche Rechtsgrundlage in Deutschland (Riedel 2010). Die Bundesregierung hat sich damit zu einem schrittweisen Auf- und Ausbau eines inklusiven Bildungssystems verpflichtet.

Inklusive Bildung ist in Deutschland in den Bundesländern unterschiedlich weit vorangeschritten: Während die Inklusionsrate im Bundesdurchschnitt 25 Prozent beträgt, reichen die Unterschiede zwischen den Bundesländern von 56 Prozent bis zu lediglich 11 Prozent (Klemm 2013). Inklusion wird darüber hinaus in den einzelnen Bildungsstufen unterschiedlich realisiert: Je höher die Bildungsstufe ist, desto geringer ist im Schulalltag das Inklusionsniveau. Während in der Kindertagesbetreuung der Inklusionsanteil im Bundesdurchschnitt bei 67 Prozent liegt, beträgt er in den Grundschulen 39 Prozent und in den weiterführenden Schulen der Sekundarstufe I (die in fast allen Bundesländern die Jahrgangsstufen fünf bis zehn umfasst) nur noch 22 Prozent (Klemm 2013). In der Sekundarstufe I bewegen sich die Unterschiede bei der Inklusion in den Bundesländern zwischen 12 und 60 Prozent. Wie notwendig es ist, den Inklusionsanteil zu erhöhen, zeigt sich daran, dass im Jahr 2011 rund 75 Prozent der Förderschülerinnen und Förderschüler die Schulen ohne einen Hauptschulabschluss verlassen haben (Klemm 2013).

Aber nicht nur das Ausmaß des inklusiven Unterrichts, sondern auch die Wege der Einführung und Weiterentwicklung sind sehr unterschiedlich. Die seit 2013 vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) durchgeführte und von der "Stiftung Jugendmarke" geförderte Studie "Inklusion und Ganztagsschule - zur Bedeutung der Jugendhilfe" untersucht die aktuelle Schulentwicklung in den Bundesländern Brandenburg und Schleswig-Holstein. Sie beschäftigt sich mit der Umsetzung von inklusiver Bildung für Schülerinnen und Schüler mit "Förderbedarf Lernen" in der Sekundarstufe I an Ganztagsschulen. Dabei werden vorliegende Konzepte danach untersucht, welche Praxisbeispiele funktionieren und welche Gründe dafür ausschlaggebend sind. Die Studie erörtert zudem die Frage, welche Barrieren und Hindernisse inklusive Schulkonzepte überwinden müssen und wie diese Informationen der Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht werden können.

Für die Untersuchung "Inklusion und Ganztagsschule" wurden acht Schulen in den Bundesländern Brandenburg und Schleswig-Holstein ausgewählt, da diese für die Sekundarstufe I eine im Bundesländervergleich hohe Inklusionsrate und ebenso einen hohen Anteil an Ganztagsschulen vorweisen können. Durch die Befragung von Lehrkräften, Schulleitungen und außerschulischen pädagogischen Fachkräften wird analysiert, wie Inklusion im Ganztagsmodell konkret umgesetzt wird, welches Verständnis von Inklusion dem Handeln der Pädagoginnen und Pädagogen zugrunde liegt und welche Zielsetzungen mit Inklusion verbunden werden.


Der deutsche Bildungsföderalismus führt zu uneinheitlichen Standards der Inklusion

Erste Ergebnisse der Untersuchung zeigen die unterschiedlichen Rahmenbedingungen, die von den Schulen berücksichtigt werden müssen, die inklusive Konzepte entwickeln und umsetzen. Dies betrifft zum einen die verschiedenen Aspekte wie Klassengröße und -zusammensetzung sowie die Einbindung von sonderpädagogischem Personal, die von Bundesland zu Bundesland, aber auch von Schule zu Schule sehr unterschiedlich sein können. Zum anderen beeinflussen auch das besondere Profil und die finanziellen und pädagogischen Ressourcen der jeweiligen Schule deren Inklusionskonzepte. Viele Schulen sprechen aufgrund dieser Unterschiede eher von Integration als von Inklusion, da sie die hochgesteckten Inklusionsstandards nicht erfüllen können.

Unterschiede zeigen sich auch in der Umsetzung des Ganztagsmodells: Während ein Teil der Schulen den Anspruch einer inklusiven beziehungsweise integrativen Bildung im Rahmen eines offenen Ganztagsmodells verwirklicht, sind andere in gebundener oder teilgebundener Form strukturiert. Die offene Ganztagsschule orientiert sich dabei an der klassischen Unterrichtsstruktur der Halbtagsschule und bietet nach dem Unterricht ein zusätzliches freiwilliges Nachmittags-Programm an. Die gebundene Ganztagsschule unterscheidet dagegen zwischen der voll gebundenen Ganztagsschule mit Teilnahmeverpflichtungen am Ganztagsangebot und der teilweise gebundenen Ganztagsschule, bei der ein verpflichtendes Ganztagsangebot in der Regel nur für einen Teil der Schülerinnen und Schüler besteht.

Einige Schulen haben bereits in den 1990er-Jahren damit begonnen, Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf in ihre Regelschule zu integrieren. Diese Konzepte haben sie weiterentwickelt und ein passendes Ganztagsmodell aufgebaut. Andere Schulen haben ein vergleichsweise neues Konzept des inklusiven oder integrativen Unterrichts und der Ganztagsschule ins Leben gerufen, das Schulsozialarbeit und die Unterstützung durch die Jugendhilfe als unverzichtbare Partner bei der Förderung ansieht.

Vorläufige Ergebnisse aus den Expertinnen- und Experteninterviews zeigen, dass Schulen einen respektvollen Umgang aller Kinder und Jugendlichen durchsetzen wollen. Lernstarke und lernschwache Schülerinnen und Schüler, ob mit oder ohne körperliche Beeinträchtigungen - alle Kinder und Jugendlichen sollen voneinander lernen können und eine Sensibilität und Selbstverständlichkeit im alltäglichen Miteinander entwickeln. Wichtig ist es, Schule für die Jugendlichen nicht nur zum Bildungsort, sondern auch zum Lebensort zu machen. Dabei können die Ganztagsschule und die Angebote der Schulsozialarbeit eine wichtige Funktion wahrnehmen, indem Kooperationen mit Vereinen und Verbänden beispielsweise aus den Bereichen Musik, Sport oder Technik vorangetrieben und in den Schulalltag integriert werden. Schule ist dann nicht nur Lernort, sondern auch Lebensort.

Schulen, die inklusive Bildungs- und Unterrichtskonzepte einführen, versuchen die Leistungsfähigkeit von Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu steigern und gleichzeitig Stigmatisierung und Ausgrenzung zu verhindern. Lehrkräfte fördern alle jungen Menschen in individueller Weise. Besonderer Förderbedarf wird nicht als Problem, sondern als Bereicherung für den Unterricht und für das soziale Miteinander angesehen. Es werden Unterrichtskonzepte entwickelt, die es möglich machen, dass Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen in einer Klasse gemeinsam lernen und gefördert werden.


Inklusion gelingt nur, wenn alle pädagogischen Fachkräfte das gleiche Ziel verfolgen

Ob inklusive Bildung letztlich gelingt, hängt ebenso von den vorhandenen personellen wie den materiellen Ressourcen ab. Darüber hinaus spielt das jeweilige Verständnis von Inklusion der pädagogischen Fachkräfte eine wesentliche Rolle: So ist es von großer Bedeutung, dass die pädagogischen Fachkräfte über ein gemeinsames Wissen und über gemeinsame Handlungsstrategien verfügen. Genauso wichtig ist der Austausch über pädagogische Konzepte und die Frage, wie Lehrkräfte der gelegentlich anzutreffenden Ablehnung und Skepsis von einigen Eltern, Mitschülerinnen und Mitschülern oder auch von anderen Lehrkräften gegenüber dem inklusiven Unterricht begegnen können.

Neben den finanziellen Ausstattungsengpässen, betonen pädagogische Fachkräfte immer wieder die hohe Belastung, die ihnen die Entwicklung eines inklusiven Unterrichts- und Schulmodells abverlangt. In den derzeitigen allgemeinbildenden Regelschulen, also in allen Schulen, die keine Förderschulen sind, können Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf aus Kostengründen nicht ausreichend gefördert und gefordert werden. Wenn aber Inklusion gelingen soll, bedarf es einer angemessenen Finanzierung, mit der die pädagogischen Konzepte langfristig abgesichert sind.

Auch Schulleitungen weisen immer wieder darauf hin, dass die Entwicklung hin zur inklusiven Schule ein kontinuierlicher Prozess ist, bei dem die Zusammenarbeit von Regelschullehrkräften, Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen mit der Schulsozialarbeit/Jugendhilfe eine wichtige Voraussetzung ist. Nicht nur auf Seiten der Jugendlichen, auch durch pädagogische Fachkräfte muss Inklusion gelebt werden, indem unterschiedliche pädagogische Professionen gemeinsam an einem Konzept arbeiten und sich ihre verschiedenen professionellen Sichtweisen auf die Jugendlichen gegenseitig bereichern und ergänzen.

Vor diesem Hintergrund bedarf es ebenso einer grundsätzlichen Neuorientierung der Lehramtsausbildung an den Universitäten. In allen Studiengängen müsste ein Schwerpunkt "sonderpädagogischer Förderbedarf" eingeführt werden. Das Thema Inklusion sollte in all seinen Facetten im Studium verankert sein und die verschiedenen Lehramtsstudiengänge müssten in dieser Hinsicht Kooperationen über die Fächergrenzen hinweg initiieren.


DIE AUTORIN

Irene Hofmann-Lun, Dipl.-Soziologin, ist wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut im Forschungsschwerpunkt "Übergänge im Jugendalter".
Kontakt: hofmann-lun@dji.de


LITERATUR

KLEMM, KLAUS (2013): Inklusion in Deutschland - eine bildungsstatistische Analyse. Gütersloh

PRENGEL, ANNEDORE (2012): Kann inklusive Pädagogik die Sehnsucht nach Gerechtigkeit erfüllen? Paradoxien eines demokratischen Bildungskonzepts; in: Seitz, Simone u.a. (Hrsg.) Inklusiv gleich gerecht? Kempten, S. 16-31

RIEDEL, EIBE (2010): Gutachten zur Wirkung der internationalen Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung und ihres Fakultativprotokolls auf das deutsche Schulsystem. Gutachten vom 15. Januar 2010. Mannheim/Genf


DJI Impulse 4/2013 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2013
- Nr. 104, S. 26-28
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E-Mail: info@dji.de
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DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. April 2014