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BERICHT/078: Weinen - Die Sprache der Tränen (GEHIRN&GEIST)


GEHIRN&GEIST 10/2009
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Die Sprache der Tränen

Von Joachim Marschall


Sich mal richtig auszuheulen, tut gut - oder etwa nicht? Kommt ganz darauf an, sagen Psychologen: Weinen ist vor allem ein Signal an unsere Mitmenschen. Nur wenn sie Trost spenden, hellt sich das Gemüt auf.


AUF EINEN BLICK

Weinen tröstet - ein Mythos?

1. Die meisten Menschen behaupten, sich nach einem Heulkrampf befreit zu fühlen. Diese »Katharsis«-Idee ist in unserer Kultur tief verwurzelt.

2. Labortests jedoch zeigen: Weinen geht mit Anzeichen von erhöhtem Stress einher, etwa schnellerem Herzschlag. Auch subjektiv fühlen sich Probanden nach dem Heulen meist schlechter.

3. Offenbar hat das Tränenvergießen als solches keine reinigende Funktion, sondern dient vor allem der Kommunikation: Die Reaktion seines Umfelds entscheidet darüber, ob sich ein Mensch nach dem Weinen besser fühlt oder nicht.


*


Bei den alten Griechen durften selbst Helden heulen. Als Odysseus nach langen Abenteuern zu seiner Frau Penelope zurückkehrte, »schwoll ihm sein Herz von inniger Wehmut: Weinend hielt er sein treues, geliebtes Weib in den Armen«, lesen wir bei Homer. Heutzutage gilt der Tränenfluss indes eher als Zeichen von Schwäche - bei beiden Geschlechtern. Trotzdem weinen in Deutschland Frauen im Schnitt 3,3-mal pro Monat, Männer immerhin halb so oft. Dazu braucht es keine großen Momente wie eine Hochzeit, eine Beerdigung oder ein bewegendes Wiedersehen: Oft sind kleine, alltägliche Ärgernisse, ein rührseliger Film oder sentimentale Musik die Auslöser. Warum aber Menschen - und wahrscheinlich nur Menschen - überhaupt heulen, ist Forschern noch immer ein Rätsel.

»Verglichen mit der umfangreichen wissenschaftlichen Literatur, die es über Emotionen gibt, wissen wir erstaunlich wenig über das Weinen«, sagt Ad Vingerhoets von der Universität Tilburg. Den niederländischen Psychologen beschäftigt vor allem die Frage, warum es bislang nicht gelungen ist, eine gängige Volksweisheit auch experimentell zu bestätigen: dass es guttut, sich mal richtig auszuheulen. Doch diese Vorstellung, bekannt als »Katharsis« (griechisch: Reinigung), steht wissenschaftlich auf tönernen Füßen.

Dass Tränen den Kummer hinwegspülen können, ist eine in der westlichen Kultur weit verbreitete Idee. Der amerikanische Psychologe Randolph Cornelius, heute am Vassar College in Poughkeepsie (US-Bundesstaat New York) tätig, durchforstete 1986 ein US-Zeitschriftenarchiv nach Ratgeberkolumnen und populärwissenschaftlichen Artikeln über das Weinen. Von den 70 gefundenen Texten - der früheste erschien im Mai 1848 - rieten 94 Prozent den Lesern dazu, ihren Tränen freien Lauf zu lassen.

In Umfragen geben denn auch die meisten Menschen an, Weinen als befreiend zu empfinden. Der Psychologe William Lombardo von der California State Polytechnic University in Pomona legte dazu 1983 fast 600 Studenten einen Fragebogen vor. Sowohl Männer als auch Frauen gaben auf die Frage, wie sie sich im Allgemeinen nach einem Heulkrampf fühlten, am häufigsten zur Antwort: »erleichtert«. Wie der Psychotherapeut Glenn Trezza von der Boston University 1988 in einer Studie herausfand, glaubt auch seine Zunft fest an die heilende Kraft der Tränen. Über 70 Prozent der befragten Seelenärzte ermunterten ihre Patienten dazu, ruhig öfter mal zu weinen - dahinter steckt wahrscheinlich der Glaube, dass es schädlich sei, Gefühle dauerhaft zu unterdrücken.

Forscher versuchten gar, die Katharsis-Theorie biochemisch zu untermauern: Der Pharmakologe William Frey von der University of Minnesota in Saint Paul konnte 1981 nachweisen, dass emotionale Tränen anders zusammengesetzt sind als reflexartig vergossenes Augenwasser. Dazu brachte Frey seine Versuchspersonen auf zwei verschiedene Arten zum Heulen: Zuerst saßen die Probanden drei Minuten lang in den Ausdünstungen frisch geschnittener Zwiebeln, während die Forscher ihre Tränen auffingen. In der Woche darauf sollten sich dieselben Personen zu Hause rührende Filme anschauen, bewaffnet mit einem Reagenzglas, das sie sich unters Auge halten und am nächsten Tag zur Analyse im Labor abgeben sollten.


Weggespülte Stresshormone

Ergebnis: Die Tränen der Trauer enthielten ein Viertel mehr Proteine als jene, die das reizende Gas aus den Augen getrieben hatte. Spätere Untersuchungen zeigten, dass aus emotionalen Gründen vergossene Tränen auch größere Mengen an drei Stresshormonen enthalten: Prolaktin, Adrenokortikotropin und Leu-Enkephalin. Frey glaubt daher, dass das Heulen Substanzen ausschwemmt, die unter emotionaler Belastung vermehrt gebildet werden - und somit Weinen im wahrsten Sinn des Wortes »reinigend« sei, weil sich der Körper so dieser Stoffe entledige.

Sowohl ängstliche als auch besonders einfühlsame Menschen weinen mehr. Dies gilt auch für extravertierte, also besonders gesellige und mitteilsame Zeitgenossen

Allerdings, bemängeln Kritiker, sei die Menge der in den Tränen gefundenen Hormone zu gering, um wirklich den Gefühlshaushalt zu beeinflussen. Frey blieb jedoch bei seiner Idee und konterte mit einer Tagebuchstudie, bei der über 300 Probanden einen Monat lang akribisch jeden Tränenfluss protokollierten. 85 Prozent der weiblichen und 73 Prozent der männlichen Teilnehmer gaben an, sich nach einem Heulkrampf grundsätzlich besser gefühlt zu haben.

War damit die Katharsis-Theorie belegt? Nicht ganz. Denn unter kontrollierten Bedingungen im Labor sieht die Sache anders aus. In den 1980er und 1990er Jahren veröffentlichten Psychologen wie Susan Labott von der University of Illinois in Chicago etliche Studien, die keine positive Wirkung des Weinens belegen konnten - im Gegenteil! 1991 zeigte Labott ihren Versuchspersonen den Film »Brian‹s Song«, der die Geschichte eines krebskranken Footballspielers erzählt und viele Probanden zu Tränen rührte. Nach dem Film fühlten sich die Versuchspersonen im Schnitt sehr niedergeschlagen.

Nun versuchte Labott, die Stimmung der Probanden auf verschiedene Weise zu beeinflussen: Ein Teil von ihnen sah die letzten 15 Minuten des Rührstücks noch einmal. Diese Gruppe heulte weiter - und fühlte sich anschließend noch schlechter. Eine zweite Gruppe, die einfach eine Viertelstunde warten musste, hörte zwar bald auf zu weinen, blieb jedoch gedrückter Stimmung. Wer dagegen im Anschluss an das TV-Drama zwei kurze Auftritte der US-Komikerlegenden George Carlin und Robin Williams sah, hörte nicht nur auf zu weinen, sondern fühlte sich anschließend sogar etwas besser als vor dem Film.

Labott hatte schon in einem früheren Experiment herausgefunden, dass Heulen sich offenbar negativ auf das Immunsystem auswirkt. Versuchspersonen, die bei einem traurigen Kurzfilm ins Schluchzen gekommen waren, wiesen niedrigere Konzentrationen des Antikörpers Immunglobulin A auf als Probanden, die gehalten waren, während des Films ihre Emotionen zu unterdrücken. Selbst absichtliches Zurückhalten der Tränen scheint sich demnach günstig auf das Immunsystem auszuwirken. Viele weitere Experimente zeigten: Weinen führt im Labor zu einem beschleunigten Puls und stärkerer Muskelspannung, zu größerer Frustration, Wut und Traurigkeit.

Warum lässt sich die Stimmungsaufhellung durch Weinen, von der alle Welt so überzeugt zu sein scheint, nicht in Experimenten belegen? Eine mögliche Erklärung fanden Ad Vingerhoets und Michelle Hendriks von der Universität Tilburg 2007 zusammen mit Jonathan Rottenberg von der University of South Florida in Tampa. Sie beobachteten, dass der Anstieg der Herzrate - ein negativer körperlicher Effekt des Weinens - zwar kurz vor und zu Beginn des Heulens auftritt, sich nach dem Ausbruch jedoch binnen kürzester Zeit wieder normalisiert. Dafür verlangsamt sich mit dem Weinen auch die Atmung, und dieser beruhigende Effekt bleibt offenbar über mehrere Minuten bestehen. Weinen, so Hendriks, könnte also kurzfristig Ausdruck einer akuten Stressreaktion sein, über einen etwas längeren Zeitraum betrachtet jedoch körperlich beruhigend wirken - was aber nichts darüber aussagt, ob es auch zu einer dauerhaft besseren Stimmung führt.

Eine weitere Begründung: »Feldstudien und Laborexperimente untersuchen das Weinen in grundverschiedenen sozialen Kontexten«, so Vingerhoets. Der größte Unterschied zum echten Leben bestehe darin, dass im Labor niemand auf die Tränen reagiere. Doch gerade das scheint eine ihrer wichtigsten Funktionen zu sein. Schon Babys machen durch Weinen auf sich aufmerksam - die einzige Sprache, die ihnen zur Verfügung steht, um nach Nahrung, Wärme oder Zuwendung zu verlangen.

Nach der »Bindungstheorie« des Londoner Psychiaters John Bowlby (1907 - 1990) haben Kinder eine oder mehrere enge Bezugspersonen, deren Schutz sie in bedrohlichen Situationen suchen, indem sie sich zu ihr bewegen oder nach ihr rufen. Weinen, glaubt die amerikanische Psychotherapeutin Judith Nelson, ist genauso ein Versuch, die Nähe zu einer Bezugsperson herzustellen. Sie nennt das »Protestweinen«, im Gegensatz zum »trauernden Weinen«, das auftrete, wenn ein Verlust bereits eingetreten sei. Das Protestweinen von Kindern hat sich nach Ansicht vieler Forscher aus den »Trennungsrufen« entwickelt, die bei allen Säugetieren zu beobachten sind: hochfrequente Schreie, die die Jungtiere ausstoßen, wenn ihre Mutter nicht in der Nähe ist - vor allem, wenn sie sich in fremder Umgebung befinden. Auch menschliche Babys weinen anfangs noch ohne Tränen in den Augen.


Einzigartige Verknüpfung

Irgendwann im Lauf der Evolution verband sich bei Homo sapiens wohl das Gefühl, Hilfe zu brauchen, mit der Aktivierung der Tränendrüsen. Darin sind Menschen einzigartig: Zwar produzieren alle Landsäuger Flüssigkeit, um ihre Hornhaut vor der Austrocknung zu bewahren, und vergießen reflektorische Tränen, um Fremdkörper oder reizende Gase aus den Augen zu spülen (siehe Kasten rechts). Doch anscheinend weinen einzig Menschen aus emotionalen Gründen - Berichte von weinenden Hunden oder Elefanten sind nur Anekdoten.

Laut Judith Nelson können Erwachsene auch nur angedrohte, symbolische oder vorgestellte Verluste zum Heulen bringen, im Gegensatz zu Kindern. Der Effekt auf die Umgebung ändere sich jedoch nicht: Tränen alarmieren die Anwesenden und fordern sie zum Handeln auf. Im Labor läuft diese Kommunikation freilich ins Leere. Viele Menschen empfinden es zudem als peinlich, vor Fremden wie einem unbekannten Versuchsleiter zu weinen - zumal sie dabei meist auf Video aufgenommen werden.

Kommt es also auf die Situation und die Reaktionen der Mitmenschen an, ob Weinen tröstend wirkt? Dies untersuchte Vingerhoets 2008 zusammen mit Jonathan Rottenberg und der Psychologin Lauren Bylsma von der University of South Florida in Tampa. Die Forscher nutzten dazu Daten aus einem großen Projekt, das Vingerhoets bereits 1996 ins Leben gerufen hatte: die ISAC-Studie (International Study of Adult Crying), in der Probanden aus 35 Ländern, hauptsächlich Studenten, regelmäßig Auskunft über ihren Tränenfluss geben. Für ihre Analyse konnten die Psychologen auf die Angaben von mehr als 4000 Teilnehmern zurückgreifen.

Dabei interessierten die Forscher vor allem die Details des letzten Weinkrampfs, an den sich die Probanden erinnern konnten, definiert als Moment, in dem sie »aus emotionalen Gründen Tränen in den Augen« hatten. Rund die Hälfte der Teilnehmer berichtete, dass sie sich nach dem Heulen befreit gefühlt hätten.

Die Analysen zeigten: Tränen führten vor allem dann zu einer besseren Stimmung, wenn genau eine weitere Person dabei war - nicht mehr und nicht weniger. Dann war auch die Chance am größten, dass der Weinende eine positive Reaktion wie tröstende Worte, Umarmungen oder Mitleidsbekundungen erhielt. Tatsächlich war diese verständnisvolle Reaktion des Umfelds entscheidend dafür, dass das Weinen als reinigend oder befreiend erlebt wurde. Waren dagegen mehr als eine weitere Person zugegen, stieg die Wahrscheinlichkeit, dass die Anwesenden verunsichert, hilflos oder gar verärgert reagierten, was die Gefühle der Weinenden nur noch mehr durcheinanderbrachte.

Am sinnvollsten scheint es demnach zu sein, Tränen nur unter vier Augen zu vergießen. Doch wann und wie oft jemand weint, hängt stark von seiner Persönlichkeit ab. Sowohl ängstliche als auch besonders einfühlsame Menschen weinen mehr; dies gilt auch für extravertierte, also besonders gesellige und mitteilsame Zeitgenossen - was zu der Annahme passt, dass Weinen vor allem ein Kommunikationsmittel ist.

Zudem spielt das Geschlecht eine Rolle: Tatsächlich weinen Frauen öfter als Männer, allerdings aus verschiedenen Gründen. Einer Umfrage von Ad Vingerhoets zufolge ist für beide Geschlechter häufig ein Verlusterlebnis der Auslöser. Frauen heulen jedoch öfter aus Wut und Machtlosigkeit, Männer bei positiven Gefühlen wie Freude oder Stolz (siehe Diagramm links). Ob Männer und Frauen auch unterschiedlich auf die Tränen anderer reagieren, ist umstritten: Manchen Studien zufolge überlassen Männer weinende Personen häufiger sich selbst, vor allem, wenn es sich dabei um einen anderen Mann handelt. Das ergab etwa eine Untersuchung von Randolph Cornelius aus dem Jahr 2003; doch andere Studien bestätigten diesen Unterschied nicht.


Warum wir weinen

Gründe für das zuletzt aufgetretene Weinen, beurteilt durch die Weinenden selbst
(Angaben in Prozent):


Männer
Frauen
Erfahrung eines Verlustes
30 %
22 %
Auseinandersetzung
14 %
25 %
Erlebnis eines positiven Ereignisses
13 %
6 %
Kombination von Gründen
2 %
5 %

Außer unserer Persönlichkeit bestimmt auch die Situation, in der wir uns befinden, darüber, wie leicht wir in Tränen ausbrechen - Vingerhoets spricht von der »Weinschwelle«. Medikamente können diese ebenso herabsetzen wie Müdigkeit. Generell macht uns ein Mangel an Erholung emotional instabil: Eltern wissen, dass ihre Kinder näher am Wasser gebaut haben, wenn sie zu wenig Schlaf hatten. Eine mögliche Erklärung dafür fanden 2007 der Mediziner Seung-Schik Yoo von der Harvard Medical School in Boston (US-Bundesstaat Massachusetts) und der Psychologe Matthew Walker von der University of California in Berkeley. Ein Teil ihrer Probanden durfte in der Nacht vor dem Experiment nicht schlafen. Am frühen Abend - nach 35 Stunden ohne Schlaf - legten sie sich dann in den Hirnscanner und bekamen über eine Videobrille emotional aufwühlende Bilder präsentiert, wie das eines Brandopfers oder einer Kranken auf dem Sterbebett.


Müdigkeit macht unkontrolliert

Ergebnis: Die Amygdala, in der negative Emotionen verarbeitet werden, reagierte bei den übernächtigten Versuchspersonen drastisch stärker auf die Bilder als bei Kontrollpersonen, die ausgeschlafen ins Labor gekommen waren. Der Magnetresonanztomograf offenbarte auch, dass bei Übermüdung offenbar die Nervenverbindung zwischen der Amygdala und dem präfrontalen Kortex deutlich geschwächt ist, da die beiden Areale selten gleichzeitig aktiv waren. Dafür schien der Signalaustausch mit »primitiveren« Hirnteilen wie dem Hirnstamm und dem Mittelhirn umso stärker. Den Forschern zufolge erklärt dies, warum wir nach einer durchwachten Nacht unsere Gefühle schlechter kontrollieren können.

Dazu passt eine weitere Erkenntnis der ISAC-Studie: Die meisten Tränen fließen abends zwischen 18 und 22 Uhr. Offenbar setzt schon ein anstrengender Tag im Büro die Weinschwelle herab! Allerdings werden in dieser Zeit wohl die meisten traurigen Filme gesehen und Liebesromane verschlungen; auch Partnerschafts- und Familienstreits finden meistens am Abend statt. Allerdings: Schon Babys heulen eher in den Abendstunden.

Häufiges Weinen gilt vielen Definitionen zufolge als Zeichen einer psychischen Störung, insbesondere einer Depression. 2008 untersuchte Jonathan Rottenberg, zusammen mit Ad Vingerhoets und Annemarie Cevaal von der Universität Tilburg, diese Behauptung empirisch. Die Forscher verglichen eine Kontrollgruppe mit insgesamt 44 Patienten, die an einer Depression, an Dysthymie (chronischer Niedergeschlagenheit) oder an einer Anpassungsstörung mit vorrangig depressiver Stimmung litten. Die Patienten berichteten tatsächlich, häufiger zu weinen als die gesunden Probanden: etwa sechsmal in den letzten vier Wochen, sowohl Männer als auch Frauen. Allerdings stieg die Häufigkeit des Tränenvergießens nicht mit der Schwere der Depression an - besonders depressive Patienten berichteten sogar oft, sie seien regelrecht unfähig, zu weinen. Am ehesten schien bei den Männern eine stärkere Depression mit stärkerem Tränenfluss einherzugehen.

Die Studie offenbarte allerdings auch: Patienten mit einer affektiven Störung fühlen sich nach dem Weinen meist noch schlechter als zuvor! Eine Untersuchung, für die Rottenberg 196 Frauen befragte, deutet in dieselbe Richtung. Je höhere Werte die eigentlich gesunden Probandinnen auf einem Depressionsfragebogen erreichten, desto weniger profitierten sie nach eigener Auskunft von einem Tränenausbruch. Auch tendenziell ängstliche Versuchspersonen und solche mit Alexithymie - einer Unfähigkeit, die eigenen Gefühle wahrzunehmen - fühlten sich nach dem Weinen kaum besser als davor.

Obwohl es natürlich Menschen nicht guttut, ihre Gefühle dauerhaft zu unterdrücken (siehe G&G 6/2008, S. 30), sollten also zumindest Therapeuten den Mythos von den reinigenden Tränen nicht unkritisch übernehmen. Psychisch labile Menschen jedenfalls scheinen ihren Gemütszustand nicht dadurch heben können, dass sie sich »mal richtig ausheulen« - und alle anderen nur dann, wenn ein Trost spendender Mitmensch in der Nähe ist.


Joachim Marschall ist Diplompsychologe und G&G-Redakteur.

Auch als Audio-Datei im Internet: www.gehirn-und-geist.de/audio


QUELLEN

Bylsma, L.M. et al.: When is Crying Cathartic? An International Study. In: Journal of Social and Clinical Psychology 27(10), S. 1165-1187, 2008.

Messmer, E.M.: Emotionale Tränen. In: Der Ophthalmologe 106(7), S. 593-602, 2009.

Vingerhoets, A.J.J.M.: Weinen. Modell des biopsychosozialen Phänomens und gegenwärtiger Forschungsstand. In: Psychotherapeut 54(2), S. 90-100, 2009.


LITERATURTIPP

Lutz, T.: Tränen vergießen. Über die Kunst zu weinen. Europa, Hamburg 2000.
Umfassende Abhandlung über das Weinen in der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte


ZUSATZINFORMATIONEN:

Nordlichter haben näher am Wasser gebaut

Ein kurioses Ergebnis der internationalen Weinstudie (ISAC) lautet: In kälteren Ländern wird mehr geheult - je höher die Durchschnittstemperatur eines Landes, desto weniger Tränen fließen bei den Bewohnern. Möglicherweise verbringen Südländer den Abend eher im Freien und in Gesellschaft, wo sie ihre Tränen zurückhalten. Nordlichter sitzen dagegen öfter daheim, wo sie ungestört weinen können - und konsumieren dabei womöglich auch mehr traurige Filme oder Bücher, die sie zu Tränen rühren.


Tränen der Trauer und reflektorisches Weinen

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Illustration der Originalpublikation:

Es gibt verschiedene Arten von Tränen: Die basalen Tränen scheiden wir kontinuierlich aus, um die Hornhaut des Auges zu befeuchten - etwa einen halben bis einen Milliliter pro Tag. Der konstante Flüssigkeitsfilm versorgt die Hornhaut mit Sauerstoff und nährstoffreichen Proteinen. Das Wasser glättet zudem feinste Unebenheiten und sorgt so dafür, dass wir scharf sehen können. In der Flüssigkeit finden sich auch keimtötende Stoffe wie das Protein Lysozym, das Bakterien zusetzt. Abflusskanäle unterhalb des Auges leiten den steten Tropfenfluss in die Nasenhöhle (siehe Grafik).

Daneben gibt es die reflektorischen Tränen: Bei Reizungen der Augenoberfläche geben die Tränendrüsen besonders viel Flüssigkeit ab. Kälte und Verletzungen lösen den Reflex aus, aber auch stechende Gase wie das aus frisch geschnittenen Zwiebeln entströmende Propanthialsulfoxid. Die Tränenproduktion wird kurzzeitig auf das bis zu 100-Fache gesteigert; die Abflusskanäle laufen über - und das salzige Nass läuft uns über die Wange.

Für emotionale Tränen schließlich geben vermutlich dieselben Nerven, die das reflexartige Weinen steuern, einen Impuls an die Tränendrüsen - geleitet von emotionsverarbeitenden Zentren im Gehirn. Die Tränenproduktion kann sogar viermal so groß sein wie beim reflektorischen Heulen, erklärt die Medizinerin Elisabeth Messmer von der Augenklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Studien zufolge könnte auch das Kleinhirn bei der Produktion emotionaler Tränen eine entscheidende Rolle spielen.


Vor Glück weinen: Geht das?

Auch in Momenten großer Freude fließen oft Tränen - ob aber positive Emotionen tatsächlich die Kraft haben, uns zum Heulen zu bringen, ist umstritten. Manche Wissenschaftler wie Ad Vingerhoets von der niederländischen Universität Tilburg glauben, dass man grundsätzlich nur aus negativen Gefühlen weint.

So würden beispielsweise Sportler, die eine wichtige Auszeichnung gewonnen haben, oft hinterher angeben, sie hätten nicht aus Freude geweint - sondern weil ihnen schlagartig bewusst geworden sei, dass eine nahestehende Personen ihren Triumph nicht mehr miterleben konnte; oder weil sie auf dem Siegertreppchen plötzlich die Erinnerung an die Monate oder Jahre harter Arbeit und Entbehrungen überwältigt habe. Der US-amerikanische Psychoanalytiker Joseph Weiss (1924 - 2004) bezeichnete dies als »Aufschub von Gefühlen«. Aus ähnlichen Gründen, so Vingerhoets, würden beispielsweise auch Studenten weinen, wenn sie ihr Diplom überreicht bekämen.

Dass bei einem Lachkrampf ebenfalls oft Tränen fließen, führt der Psychologe darauf zurück, dass in diesem Fall die Tränendrüsen von den krampfenden Gesichtsmuskeln wie ein Schwamm ausgepresst würden.


Können Tränen lügen?

Wie schaffen es Schauspieler und manche dramatisch veranlagten Zeitgenossen, quasi auf Befehl zu weinen? Eine Möglichkeit: sich in ein trauriges Gefühl oder eine Erinnerung hineinsteigern. Manche schaffen es durch bestimmte Gesichtsbewegungen - oder mit Hilfe eines »Tränenstifts«, dessen Kreme reizendes Menthol in die Augen steigen lässt. Dass es so schwer ist, Tränen zu fälschen, macht sie zu einem besonders wertvollen Kommunikationsmittel.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

SALZIGES NASS
Viele Gefühle können uns zum Weinen bringen: nicht nur Trauer, auch Wut oder Verzweiflung.

GUT GEBRÜLLT
Babys weinen meist noch ohne Tränen in den Augen. Ihr Schreien signalisiert, dass sie Wärme, Nahrung oder Aufmerksamkeit brauchen.


© 2009 Joachim Marschall, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
GEHIRN&GEIST 10/2009, Seite 42 - 47
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
Redaktion und Verlag:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Oktober 2009