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FORSCHUNG/130: Neue Gesichter und alte Bekannte (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 2 - 2009

Neue Gesichter und alte Bekannte

Von Katja Seitz-Stein, Christof Zoelch, Heike Berger und Julia Gronauer


Das Wiedererkennen von Personen ist eine alltägliche Aufgabe, die jedoch gelegentlich misslingt, wenn man sich in anderem Kontext begegnet. Welche Prozesse beim Erkennen von Gesichtern und Menschen ablaufen, erforschen Psychologen der KU vom Kleinkind bis zum Erwachsenen.


Warum fällt es uns schwer, die eigentlich bekannte Bäckereiverkäuferin beim Arztbesuch im Wartezimmer wie derzuerkennen? Eine Begebenheit, die sicher jeder schon einmal erlebt hat. Welche Mechanismen für das Wiedererkennen von anderen Personen genutzt werden, und ob und wie sie sich vom Vorschul- bis ins Erwachsenenalter verändern, wird seit einer Dekade an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt am Lehrstuhl für Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie untersucht.
Im Fokus unserer empirischen Arbeiten steht dabei das Wiedererkennen von unbekannten Personen, die einmalig und nur für wenige Sekunden gesehen werden. Die visuelle Wiedererkennensleistung wird überwiegend mit Foto- und Videomaterial untersucht. Am Anfang unserer Forschung auf diesem Gebiet stand die Beschreibung der Wiedererkennensleistung von Personen unter verschiedenen experimentellen Variationen (Präsentationsdauer, Wechsel der Kleidung oder der Körperhaltung zwischen der Präsentations- und Testphase) und in Abhängigkeit vom Alter der Untersuchungsteilnehmer. Bei einer einfachen Wiedererkennensaufgabe wird den Teilnehmern beispielsweise für fünf Sekunden ein Foto von einer Person gezeigt, die nach einer kurzen Pause von 500 Millisekunden aus einer Auswahlvorlage mit verschiedenen Personen wiedererkannt werden soll. Mit solchen und ähnlichen Untersuchungsparadigmen konnten wir zeigen, dass das Wiedererkennen von Personen zwischen dem Vorschul- und Erwachsenenalter kontinuierlich besser wird und dass die unterschiedlichen experimentellen Variationen keinen altersspezifischen Einfluss haben. Verändert sich beispielsweise die Kleidung einer Person zwischen der Präsentation und dem Wiedererkennenstest wie in Abb. 2, dann hat dies auf Vorschüler, Grundschüler und Erwachsene gleichermaßen einen negativen Effekt. Durch den Vergleich von Personen- und Gesichterwiedererkennung konnten wir darüber hinaus eine Verbindung zwischen zwei zuvor weitgehend unabhängig arbeitenden Forschungsbereichen, der Grundlagenforschung zur Gesichterwiedererkennung und der angewandten Forschung zu Fragen des kindlichen Augenzeugen, herstellen. Zahlreiche Studien mit Hunderten von Kindern und Erwachsenen haben gezeigt, dass bei vergleichbarem methodischem Vorgehen auch ein vergleichbarer Entwicklungsverlauf für die Gesichterund Personenwiedererkennung zu beobachten ist.

Vor diesem Hintergrund interessierte uns, ob beim Wiedererkennen von Personen und Gesichtern vergleichbare Prozesse ablaufen. Um dies zu prüfen wurden Untersuchungsmethoden aus der traditionsreichen Gesichterforschung auf die Personenwiedererkennung angewandt. So wurde zum Beispiel das Part-Whole Paradigma (Teil-Ganz Paradigma) von Tanaka und Farah (1993), eine Methode zur Untersuchung ganzheitlicher Informationsverarbeitung, für die Personenwiedererkennung adaptiert. Bei diesem Paradigma wird zunächst eine ganze Person oder ein ganzes Gesicht gezeigt, die Teilnehmer werden aufgefordert sich Person oder Gesicht gut zu merken, denn im anschließenden Wiedererkennenstest sehen sie zwei Alternativen, aus denen das zuvor gesehene ausgewählt werden soll. In der einen Hälfte der Wiedererkennenstest sind zwei fast identische Personen oder Gesichter zusehen, sie unterscheiden sich nur hinsichtlich eines Merkmals. In der anderen Hälfte der Wiedererkennenstests sind zwei isolierte Merkmale zusehen und die Teilnehmer sollen das zuvor gesehene Merkmal identifizieren. Kritisch ist also unter beiden Bedingungen nur ein Merkmal, allerdings wird es einmal im Kontext der ganzen Person dargeboten (Ganz-Bedingung), einmal in Isolation (Teil-Bedingung). Sind die Wiedererkennensleistungen unter der Ganz-Bedingung deutlich besser, wird dies als Beleg für ganzheitliche oder relationale Informationsverarbeitung verstanden. Dies konnte in vielen Studien der Gesichterforschung sowohl für Erwachsene als auch für Kinder ab dem sechsten Lebensjahr nachgewiesen werden. Wir konnten vergleichbare Verarbeitungsprozesse auch für das Wiedererkennen von ganzen Personen zunächst ab einem Alter von acht Jahren finden. Dank der Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG, SE 968/4-1) konnten wir unsere Untersuchungen auch auf jüngere Altersgruppen und andere Paradigmen ausdehnen.

Dies erforderte eine Weiterentwicklung und Erprobung des Untersuchungsmaterials, sodass auch Vierjährige die Aufgaben bewältigen können. Zu diesem Zweck müssen die Wiedererkennensaufgaben für den unteren Altersbereich in eine entsprechende Geschichte integriert werden, die es den Kindern plausibel macht, warum sie die zuvor gesehene Person wiedererkennen sollen. Die Ergebnisses zeigten auch für die Vier- und Sechsjährigen einen klaren Vorteil der Ganz-Bedingung. Das bedeutet, dass Kinder ab dem Alter von vier Jahren, genau wie ältere Kinder und Erwachsene Personen wie Gesichter eher ganzheitlich oder relational verarbeiten. Sie nutzen die Information, die der Kontext einer ganzen Person oder eines ganzen Gesichtes bereitstellt und verarbeiten nicht nur die einzelnen Merkmale isoliert voneinander. Mit dem Teil-Ganz Paradigma konnte also nachgewiesen werden, dass relationale Informationsverarbeitung bedeutsam für die Gesichter- und Personenwiedererkennung ist, und dass dies für Vorschul- und Schulkinder gleichermaßen gilt wie für Erwachsene.

In der traditionellen entwicklungspsychologischen Forschung zum Gesichterwiedererkennen wird die relationale Informationsverarbeitung als Erklärungsansatz für die mit zunehmendem Alter besseren Wiedererkennensleistungen diskutiert. In den 70er Jahren ging man von einem entwicklungsbedingten Wechsel von Verarbeitungsstrategien aus. Bis zum Alter von etwa zehn Jahren so glaubte man, nutzen Kinder vorwiegend isolierte Merkmale um Gesichter wiederzuerkennen. Danach werden relationale Informationen (räumliche Beziehungen von Einzelmerkmalen zueinander, z.B. weit auseinander liegende Augen) genutzt (Carey & Diamond, 1977). Später löste die Expertise-These (Diamond & Carey, 1986; Carey & Diamond, 1994) die These des altersabhängigen Wechsels ab. Bei der Expertise-These steht die zunehmend effizientere Nutzung relationaler Informationen bei der Gesichterwiedererkennung im Vordergrund.

Die Autoren gehen davon aus, dass jeder Mensch mit zunehmender Erfahrung im Umgang mit Gesichtern eine immer bessere interne Gesichtsnorm etabliert. Das erfahrungs- und somit altersabhängige innere Normgesicht dient als Vergleichsgrundlage für jedes neu gesehene Gesicht. Aus dem Abgleich zwischen einem aktuell präsentierten Gesicht zum inneren Normgesicht kann wiederum relationale Information gezogen werden. Ältere Kinder und Erwachsene haben aufgrund ihrer größeren Erfahrung im Umgang mit Gesichtern eine effizientere Gesichtsnorm erworben und können relationale Information von Gesichtern besser nutzen. Deshalb zeigt sich der robuste Alterseffekt beim Wiedererkennen von Gesichtern, so Diamond und Carey. Unsere Arbeitsgruppe hat versucht, die Expertise-These auf die Personenwiedererkennung zu übertragen. Wie zahlreiche Studien aus der reinen Gesichterforschung, kommen auch wir zu dem Schluss, dass dieser Ansatz die klare Leistungssteigerung in der Wiedererkennensleistung bei ganzen Personen und Gesichtern nicht hinreichend erklärt.

Da die Befundlage zum direkten Vergleich von Gesichter- und Personenverarbeitung überwiegend für vergleichbare zugrundeliegende Prozesse spricht, liegt die Vermutung nahe, dass es keine gesichts- oder personenspezifischen Mechanismen sind, die die altersabhängige Leistungsverbesserung erklären. Vielmehr kann angenommen werden, dass die sich mit zunehmendem Alter verbessernde kurzzeitige visuelle Informationsverarbeitung auch für die Gesichter- und Personenwiedererkennensleistung verantwortlich ist. Um dies zu prüfen haben wir in einem dritten Schritt ein theoretisches Rahmenmodell aus der kognitiven Psychologie adaptiert. Im Arbeitsgedächtnismodell von Baddeley und Hitch (1974; Baddeley, 1996) finden sich unterschiedliche Entwicklungsverläufe für verschiedene Arten von visuell-räumlicher Informationsverarbeitung. Wir prüfen nun, ob die Entwicklung des visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnisses die altersabhängige Verbesserung beim Personen- und Gesichterwiedererkennen erklären kann. Dank der erneuten Bewilligung von Drittmitteln durch die DFG (SE 968/4-2) können wir am Lehrstuhl für Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie an der KU mit unterschiedlichen Paradigmen (sowohl korrelative Ansätze als auch experimentelle Verfahren) die Frage nach der Spezifität von zugrundeliegenden Prozessen beim Personen- und Gesichterwiedererkennen im Entwicklungsverlauf weiter untersuchen.


Prof. i.K. Dr. Katja Seitz-Stein ist Vertreterin des Lehrstuhls für Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie. Zu ihren Schwerpunkten gehören u.a. Dyskalkulie sowie die Entwicklung sozialer Beziehungen im mittleren und hohen Lebenalter.
Dr. Christof Zoelch ist als wissenschaftlicher Assistent an diesem Lehrstuhl tätig.
Heike Berger und Julia Gronauer" sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen von Professorin Seitz-Stein.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 2/2009, Seite 24-26
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität,
Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU, 85071 Eichstätt
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. November 2009