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FORSCHUNG/184: Warum haben wir bei Stress mehr Lust auf Süßes? (Gehirn und Geist)


Gehirn und Geist 7/2014
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Hirnforschung
Warum haben wir bei Stress mehr Lust auf Süßes?

Von Achim Peters



Glukose ist der wichtigste Treibstoff für das Gehirn. Obwohl unser Denkorgan nur zwei Prozent des Körpergewichts ausmacht, verbraucht es die Hälfte unseres täglichen Bedarfs an Kohlenhydraten. Unter Stress benötigt es sogar noch mehr Energie, wie eine Studie meiner Arbeitsgruppe an der Universität zu Lübeck zeigt.

Wir untersuchten 40 Probanden jeweils zweimal. Während einer der Sitzungen mussten sie vor Fremden eine zehnminütige Rede halten, in der anderen nicht. Am Ende jedes Termins bestimmten wir die Konzentrationen von Cortisol und Adrenalin im Blut der Teilnehmer und ließen sie an einem reichhaltigen Büfett eine Stunde lang essen. Wer zuvor eine Rede gehalten hatte, war nicht nur deutlich gestresster, sondern aß auch im Schnitt 34 Gramm Kohlenhydrate mehr - das sind fast zwei kleine Brötchen zusätzlich, ein Sechstel des Tagesbedarfs! Der Grund: Unter akutem Stress braucht das Gehirn zwölf Prozent mehr Energie, sonst leidet unsere Leistungsfähigkeit. Und aus Kohlenhydraten gewinnt der Körper am schnellsten Energie. Tatsächlich schnitten die gestressten Probanden vor dem Essen in kognitiven Tests schlecht ab, erst danach kehrte ihre Leistungsfähigkeit zurück.

Bei akutem Stress braucht das Gehirn zwölf Prozent mehr Energie - die erhält es am einfachsten über Kohlenhydrate

Wenn wir Hunger haben, ist ein ganzes Netzwerk von Hirnregionen aktiv. Im Zentrum stehen der ventromediale und der laterale Hypothalamus, zwei Regionen im oberen Hirnstamm. Hier laufen aus dem ganzen Körper Informationen darüber zusammen, wie gut Nervenzellen, Blut, Muskel- und Fettgewebe sowie Verdauungstrakt mit Energie versorgt sind. Allerdings gibt es einen vorgeschalteten »Pförtner«, den Nucleus arcuatus im Hypothalamus. Wenn dieser registriert, dass dem Gehirn selbst Glukose fehlt, blockiert er die Informationen aus dem restlichen Körper. Deshalb greifen wir zu kohlenhydrathaltigen Nahrungsmitteln, sobald unser Gehirn meldet »Ich brauche Energie!« - selbst wenn der restliche Körper gut versorgt ist.

Wenn jemand zum Beispiel immer nachmittags Lust auf Schokolade bekommt, rate ich ihm, die Schokolade zu essen, um leistungsfähig zu bleiben und die Stimmung zu halten. Denn im Beruf ist man häufig gestresst, und das Gehirn hat einen gesteigerten Energiebedarf. Isst man dann nichts, gibt es zwei Möglichkeiten: Das Gehirn kann sich bei Glukose aus dem Körper bedienen, die eigentlich für Fett- und Muskelzellen gedacht war. Dafür muss es jedoch noch viel mehr Stresshormone ausschütten. Das macht uns nicht nur mies gelaunt, sondern erhöht auf Dauer wohl auch das Risiko, einen Herzinfarkt, einen Schlaganfall oder eine Depression zu bekommen. Alternativ kann das Gehirn an anderen Funktionen sparen - dabei sinken allerdings Konzentration und Leistung.

Um den erhöhten Bedarf des Gehirns zu decken, kann man entweder mehr von allem essen, wie es die gestressten Probanden in unserem Experiment getan haben - oder man macht es dem Körper einfach und isst vor allem süße Speisen. Schon Säuglinge haben eine ausgeprägte »Süßpräferenz«. Ihr Gehirn ist im Vergleich zum Körper extrem groß und braucht daher immens viel Energie. Die bekommt es etwa durch die Muttermilch, die viel Zucker enthält. Im Lauf der Zeit nimmt unsere Vorliebe für Süßes zwar ab, aber sie verschwindet selbst bei Erwachsenen nie ganz. Wie stark sie erhalten bleibt, ist individuell verschieden und scheint unter anderem von den Lebensumständen abzuhängen. So deuten Studien darauf hin, dass Menschen, die in der Kindheit viel Stress erleben, auch später noch eine stärkere Präferenz für Süßes haben.

Kinder, die viel Stress erleben, haben auch als Erwachsene noch eine stärkere Präferenz für Süßes

Bei manchen Menschen kann sich das Gehirn seine Energie nicht gut aus den Körperreserven holen, selbst wenn genügend Fettpolster vorhanden sind. Die wichtigste Ursache dafür ist chronischer Stress. Damit ihr Gehirn trotzdem nicht unterversorgt wird, müssen diese Personen stets genug essen - und dabei in Kauf nehmen, dick zu werden. Dennoch essen auch sie bedarfsgerecht: Sie orientieren sich am Bedarf des Gehirns, nicht des restlichen Körpers. Oft ist der einzige Ausweg, eine dauerhaft belastende und stressige Umgebung zu verlassen. Dann braucht das Gehirn wieder weniger Nahrung, und die Person kann abnehmen.

Etwa 80 Prozent der Deutschen denken, dass Übergewichtige mehr essen, als sie eigentlich brauchen, weil sie zu wenig Disziplin haben. Aus diesem Grund werden »Dicke« oft diskriminiert. Tatsächlich gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass Menschen dauerhaft mehr essen, als sie benötigen, also aus reiner Lust. Vier große Studien mit Kindern und Erwachsenen kamen zu dem Ergebnis, dass sich Übergewichtige beim Essen sogar besser zügeln können als Normalgewichtige. Vermutlich haben sie das gelernt, um den gesellschaftlichen Druck, der auf ihnen lastet, etwas zu lindern - doch der Preis dafür ist ständiger Hunger.


Achim Peters ist Hirnforscher und Diabetologe. An der Universität zu Lübeck leitet er die Forschergruppe »Selfish Brain«. Er hat zwei Bücher darüber geschrieben, wie das »egoistische Gehirn« unter chronischem Stress das Gewicht beeinflusst.


Webtipp
Macht Schokolade glücklich? Ob Kakao tatsächlich die Stimmung hebt, erfahren Sie unter:
www.gehirn-und-geist.de/artikel/1256297


Literaturtipps

Peters, A.: Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung. C. Bertelsmann, München 2013
Warum Übergewichtige nicht undiszipliniert essen und warum ein paar Pfunde zu viel sogar gesund sein können

Peters, A.: Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft. Ullstein, Berlin 2011
In diesem Buch erklärt der Autor erstmals ausführlich, wie Stress und Übergewicht zusammenhängen.


Quellen

Hitze, B. et al.: How the Selfish Brain Organizes its Supply and Demand. In: Frontiers in Neuroenergetics 2, S. 1-13, 2010

Peters, A. et al.: The Selfish Brain: Competition for Energy Resources. In: Neuroscience and Biobehavioral Reviews 28, S. 143-180, 2004



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© 2014 Achim Peters, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
Gehirn und Geist 7/2014, Seite 66 - 67
URL: http://www.spektrum.de/alias/pdf/66-67-gug-07-2014-pdf/1287321
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. September 2014