Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → PSYCHOLOGIE

JUGEND/083: Der Unernst des Lebens (GEHIRN&GEIST)


GEHIRN&GEIST 7-8/2009
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Titelthema / Spielen
Der Unernst des Lebens

Von Melinda Wenner


Freies, fantasievolles Spielen ist keine Zeitverschwendung, sondern unverzichtbar für die gesunde Entwicklung von Kindern. Mehr noch: Es macht auch Erwachsene kreativer und ausgeglichener.



Auf einen Blick

Wer spielt, gewinnt

1. Kindliches »Freispiel« ohne Regeln und unmittelbaren Zweck tritt immer mehr zu Gunsten organisierter Aktivitäten in den Hintergrund.

2. Dabei fördert gerade ausgelassenes Spielen ohne Vorgaben die soziale Kompetenz, die Sprachentwicklung sowie das Problemlösevermögen von Kindern. Auch Erwachsene profitieren von kreativen Auszeiten.

3. In Tierversuchen fördert Spielen die Hirnentwicklung, indem es das Wachstum neuer Nervenzellen anregt.


*


Am 1. August 1966 trat der Psychiater Stuart Brown seine Assistentenstelle am Baylor College of Medicine in Houston an. Am selben Tag stieg der 25-jährige Charles Whitman auf einen Turm auf dem Campus der University of Texas in Austin. Von der Aussichtsplattform aus erschoss der Ingenieurstudent und ehemalige Scharfschütze der US-Marines 46 Menschen. Brown wurde als psychiatrischer Gutachter in dem Fall zu Rate gezogen. Jahre später, nachdem er 26 weitere wegen Mordes verurteilte Häftlinge interviewt hatte, stellte der Psychiater fest, dass die meisten dieser Gewalttäter zwei Dinge mit Whitman gemeinsam hatten: Sie waren als Kinder missbraucht worden - und hatten nie gespielt.

Brown wusste zunächst nicht, welcher dieser Faktoren höher zu gewichten war. In den folgenden vier Jahrzehnten sprach er mit rund 6000 Menschen, die er auch über ihre Kindheit befragte. Seine Erkenntnis: Ein Mangel an spontanem, fantasievollem Spiel verhindert offenbar, dass Kinder zu glücklichen und verträglichen Menschen heranwachsen. Im »Freispiel«, so der Fachbegriff, erwerben wir soziale Kompetenz, lernen mit Stress umzugehen und Probleme zu lösen.

Psychologen sind heute davon überzeugt, dass Spielen sich positiv auf den Menschen auswirkt - und zwar bis ins Erwachsenenalter. Weniger klar ist dagegen, wie sehr es Kindern schadet, zu wenig Zeit zum freien Herumtollen zu haben. Dabei scheint diese wichtige Säule der Kindesentwicklung langsam zu bröckeln: 2001 errechneten die Soziologen John Sandberg von der McGill University in Montreal und Sandra Hofferth von der University of Maryland, dass sich die Freizeit US-amerikanischer Kinder zwischen 1981 und 1997 um ein Viertel verringert habe. Aus Sorge, ob es der Nachwuchs später auf die richtige Schule schafft, füllen immer mehr Eltern den Alltag ihrer Kinder mit planvollen, angeleiteten Aktivitäten. Schon im Kindergarten werden die Nachmittage der Kleinen mit Musikschule und Sportunterricht gefüllt - auf Kosten des ausgelassenen Tobens.

Brown und andere Psychologen befürchten, die Abnahme des kindlichen Freispiels könne eine Generation von ängstlichen, unglücklichen und sozial auffälligen Erwachsenen hervorbringen. »Wenn Kinder nicht ausreichend Zeit zum Spielen haben, kann das sehr ernste Konsequenzen haben«, sagt Brown.


Wider den Freizeitstress

Die Gegenbewegung formierte sich bereits 1961: Damals gründete sich in Dänemark die International Play Association mit dem Ziel, das freie Spiel zu schützen und als ein Grundrecht aller Kinder zu verankern. Vor etwa zehn Jahren begannen weitere Non-Profit-Organisationen rund um den Globus - wie das von Brown gegründete National Institute for Play oder die Association for the Study of Play - über den Wert des Spiels aufzuklären und vor der aktuellen Entwicklung zu warnen.

Aber Kinder spielen doch Fußball, Scrabble und Klavier - meinen viele. Warum also sehen Fachleute in diesen und anderen strukturierten Tätigkeiten eine Bedrohung für die Gesundheit? »Natürlich machen auch Spiele mit festen Regeln Spaß und fördern zum Beispiel das soziale Miteinander«, sagt Anthony Pellegrini, Psychologe an der University of Minnesota. »Das freie Spiel aber kennt keine fixen Konventionen und erfordert daher mehr kreativen Input.«

Ein Spiel selbst zu gestalten, fordert und fördert das sich entwickelnde Gehirn ungleich mehr, als vorgegebene Regeln zu übernehmen. Denn bei spontanen Rollenspielen wie »Doktor und Patient« oder »Vater-Mutter-Kind« ist Fantasie gefragt. Vor allem Jungs raufen und ringen gern miteinander, wechseln dabei aber immer wieder die Rollen, so dass keiner als eindeutiger Sieger hervorgeht. Das freie Spiel bei Kindern ähnelt damit stark dem, was man auch bei Tieren beobachten kann - offenbar ist es tief in der Evolution verwurzelt (siehe Interview ab S. 48).

Der Biologe Gordon Burghardt von der University of Tennessee in Knoxville hat 18 Jahre lang zahlreiche Tierarten beobachtet, um verschiedene Formen des Spielverhaltens zu definieren. Das jeweilige Tun muss sich wiederholen - ein Tier, das einen Gegenstand nur einmal anstupst, spielt nicht -, es muss freiwillig geschehen und in entspannter Umgebung stattfinden. Unterernährte oder gestresste Tiere und Kinder spielen nicht. Am wichtigsten laut Burghardt: Das Verhalten darf in der Umgebung, in der es beobachtet wird, keine offensichtliche Funktion erfüllen; freies Spielen hat also kein bestimmtes Ziel.

Was aber nützt Kindern dieses scheinbar sinnlose Treiben? Zunächst einmal fördert Spielen die Entwicklung sozialer Fähigkeiten. »Niemand erwirbt Sozialkompetenz, indem der Lehrer ihm sagt, wie er sich verhalten soll«, so Pellegrini. »Das lernt man nur, indem man mit seinen Altersgenossen interagiert und merkt, welches Verhalten akzeptabel ist und welches nicht.« Kinder lernen dadurch, fair zu sein - wer immer die Prinzessin sein will, steht bald ohne Hofstaat da. Damit das Spiel weitergeht, nehmen sie auch Kompromisse in Kauf. Indem sie sich mit anderen Kindern einigen müssen, lernen sie Selbstbeherrschung und finden letztlich Bestätigung.

Gemeinsames Spielen fördert auch die Fähigkeit, sich sprachlich auszudrücken - vielleicht die wichtigste soziale Kompetenz überhaupt. Studien zeigen, dass Kinder eine viel anspruchsvollere Sprache benutzen, wenn sie mit Altersgenossen spielen, als wenn sie mit Erwachsenen zusammen sind. Bei einem improvisierten Rollenspiel beispielsweise müssen sie über Dinge reden, die unsichtbar sind. »Um ihren Spielkameraden verständlich zu machen, was sie meinen, müssen sie eine relativ komplexe Sprache verwenden«, erklärt Pellegrini.


Über Unsichtbares reden

So reiche es nicht, »Vanille oder Schokolade?« zu fragen, wenn sie ihrem Freund eine imaginäre Eiswaffel hinhalten. Stattdessen müssen die Kinder erklären, wovon sie reden: »Vanille- oder Schokoladeneis, was möchtest du lieber?« Erwachsene machen es den Kleinen dabei meist zu leicht, denn sie können sich die fehlenden Wörter selbst zusammenreimen.

Nicht nur Rollenspiele, auch Bauklötze helfen dem Spracherwerb auf die Sprünge. Das konnten Forscher um den Kinderarzt Dimitri Christakis von der University of Washington in Seattle 2007 zeigen. Sie untersuchten Kinder im Alter zwischen 18 Monaten und zweieinhalb Jahren. Die Hälfte der Teilnehmer erhielt zwei Pakete mit Spielsteinen per Post, zusammen mit Anregungen, was man mit den Klötzchen alles anfangen könnte. Die übrigen Kinder erhielten das Spielzeug erst nach Abschluss der Studie. Alle Eltern mussten an vier zufällig ausgewählten Tagen ein detailliertes 24-Stunden-Tagebuch darüber führen, was ihre Kleinen so alles trieben.

Nach sechs Monaten erzielten Kinder, die an den fraglichen Tagen öfter mit Bausteinen gespielt hatten, bei einem Sprachtest signifikant bessere Ergebnisse. Die Forscher sind sich jedoch nicht sicher, ob dieses bessere Abschneiden mit dem Klötzchenspiel an sich zusammenhing - denn indem sie damit spielten, brachten die Kleinen auch weniger Zeit mit unproduktiven Tätigkeiten wie Fernsehen zu.

Umgekehrt könnte ein Mangel an Spiel die soziale Entwicklung hemmen. 1997 veröffentlichten Forscher der Highscope Educational Research Foundation in Ypsilanti (US-Bundesstaat Michigan) eine Langzeitstudie, in der sie die Sprösslinge armer Familien ins Visier nahmen. Wer eine Vorschule besucht hatte, in der das freie Spiel einen großen Stellenwert besaß, legte später ein sichereres Sozialverhalten an den Tag als andere, die stets von Lehrern angeleitet wurden. Im Alter von 23 Jahren waren mehr als ein Drittel dieser Kinder straffällig geworden - bei den Schülern von spielorientierten Vorschulen war es weniger als ein Zehntel. Kinder, die viel gespielt hatten, verloren im späteren Leben zudem seltener ihre Arbeitsstelle.

Auch im Tierreich mangelt es Individuen, die zu wenig spielen, an sozialen Fertigkeiten. 1999 demonstrierten dies niederländische Biologen um Berry Spruijt von der Universität Utrecht. Die Forscher hielten Ratten während der vierten und fünften Woche nach der Geburt isoliert - diese Zeit verbringen die Nager normalerweise vorrangig damit, gemeinsam herumzutoben. Bei späteren Tests zeigten diese Tiere deutlich weniger Interesse an ihren Artgenossen als Ratten, die man im selben Entwicklungszeitraum nicht isoliert gehalten hatte.

Eine weitere Studie dieser Forschergruppe aus dem Jahr 2002 ergab, dass in der kritischen Phase isoliert aufgezogene Ratten auch nicht die normale Abwehrhaltung einnehmen, wenn sie dominanten männlichen Artgenossen begegnen, selbst wenn diese sie wiederholt angreifen. Natürlich bleibt dabei eine Frage offen: Ist wirklich die mangelnde Gelegenheit zu spielen der Grund für das auffällige Sozialverhalten, oder ist die »Einzelhaft« als solche daran schuld?


Wachstumsschub fürs Gehirn

Eine andere Untersuchung an Ratten legt nahe, dass Spielen die Entwicklung neuer Nervenzellen anregt, was vor allem jenen Hirnregionen zugutekommt, die mit Emotionen und sozialem Lernen zu tun haben. 2003 hielt die Psychologin Nakia Gordon von der Bowling Green State University in Ohio 14 Nager für dreieinhalb Tage isoliert. 13 Kontrolltiere durften dagegen die ganze Zeit über frei mit ihren Artgenossen spielen. Als die Forscher anschließend die Ratten untersuchten, stellten sie fest, dass die Gehirne der spielenden Tiere viel mehr von dem so genannten Brain-Derived Neurotrophic Factor (BDNF) gebildet hatten - einem Protein, welches das Wachstum von Nervenzellen anregt. Vor allem in der Großhirnrinde, im Hippocampus und in der Amygdala waren die Unterschiede deutlich. »Ich glaube, dass das Spielen der wichtigste Mechanismus ist, durch den die höheren Hirnregionen sozialisiert werden«, sagt Jaak Panksepp, Neurowissenschaftler von der Washington State University und Koautor der Studie.

Spielen hilft Kindern auch, Angst und Stress abzubauen, wie ein Feldexperiment aus dem Jahr 1984 nahelegt. Die Psychologin Lynn Barnett von der University of Illinois untersuchte 74 Drei- und Vierjährige an ihrem ersten Vorschultag. Sie erfasste etwa, ob die Kleinen weinten und ihre Eltern nicht gehen lassen wollten, und wie sehr ihre Handflächen schwitzten. Anhand dieser Daten stufte Barnett jedes Kind entweder als »ängstlich« oder »nicht ängstlich« ein. Dann teilte sie die Kinder willkürlich in vier Gruppen auf: Eine Hälfte wurde in Räume geführt, in denen viel Spielzeug stand. Hier durften sie entweder allein oder mit ihren Altersgenossen eine Viertelstunde lang spielen. Die andere Hälfte wurde - ebenfalls allein oder mit anderen - an kleine Tische gesetzt und lauschte einem Lehrer, der 15 Minuten lang eine Geschichte erzählte.

Anschließend erfasste die Psychologin erneut den Grad der Anspannung. Bei den ängstlichen Kindern, die gespielt hatten, war die Furcht doppelt so stark zurückgegangen wie bei jenen, die der Geschichte gelauscht hatten. Interessanterweise waren die Kleinen, die allein gespielt hatten, noch ruhiger geworden als jene, die mit anderen Kontakt gehabt hatten. Barnett vermutet, dass es die auf sich allein gestellten Kinder leichter hatten, beim Spielen ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Das könnte ihnen geholfen haben, die schwierige Situation besser zu bewältigen.


Gemeinsam Stress abbauen

Bei Tieren scheint vor allem das gemeinsame Spielen dabei zu helfen, Stress abzubauen - eine Vorstellung, die unter Forschern als social buffering (zu Deutsch etwa »soziales Abfedern «) bekannt ist. 2008 setzte der Neurowissenschaftler Stephen Siviy vom Gettysburg College (US-Bundesstaat Pennsylvania) jeweils eine Ratte in eine Box und legte ein Halsband dazu, das zuvor eine Katze getragen hatte. Dies versetzte den Nager sichtlich in Furcht. Anschließend wurde der Käfig gesäubert, um den Katzengeruch zu vertreiben, und die Ratte nun ohne das Halsband wieder hineingesetzt.

Das Tier erstarrte erneut vor Angst, es schien den Raum also mit dem Geruch seines Fressfeinds verknüpft zu haben. Doch als die Forscher einen Artgenossen in die Box dazusetzten, der das Katzenhalsband nicht kannte und daher furchtlos war, begannen die beiden Tiere bald, miteinander zu spielen: Sie jagten einander nach, balgten und rauften. Danach war die erste Ratte offensichtlich beruhigt - das Spielen hatte ihr die Angst genommen.

Das freie Herumtoben fördert also soziale Kompetenz und hilft bei der Stressbewältigung. Doch Forscher erkannten noch einen dritten, nicht sofort ersichtlichen Einfluss: Spielen macht anscheinend auch klüger. In einer klassischen Studie untersuchten 1973 die Psychologen Jeffrey Dansky von der Bowling Green State University und Irwin Silverman von der Eastern Michigan University in Ypsilanti drei Gruppen von Vorschülern. Eine Gruppe sollte zehn Minuten lang nach Belieben mit vier Alltagsgegenständen spielen: einem Stapel Handtücher, einem Schraubenzieher, einem Holzbrett und einer Hand voll Büroklammern. Eine zweite Gruppe sollte so tun, als seien sie Wissenschaftler, und dabei die Materialien als Requisiten nutzen. Die dritte Gruppe bekam diese gar nicht zu sehen, die Kinder wurden stattdessen gebeten, sich an einen Tisch zu setzen und etwas zu malen.

Im Anschluss daran sollten die kleinen Probanden so viele Ideen wie möglich produzieren, wozu man die vier Dinge benutzen könne. Kinder, die zuvor mit den Sachen frei gespielt hatten, kamen auf dreimal so viele ungewöhnliche Einfälle wie die anderen beiden Gruppen. Mit Gegenständen zu spielen und verschiedene Verwendungsmöglichkeiten auszutesten, regt also offenbar das kreative Denken an.

Auch wildes Herumtoben hilft beim Problemlösen. Pellegrini veröffentlichte 1989 eine Studie, die ergab: Je öfter Jungs im Grundschulalter miteinander rauften, umso besser schnitten sie bei einem Test zur Lösung zwischenmenschlicher Konflikte ab. Die jungen Probanden sahen fünf Bilder von einem Kind, das versucht, von einem Kameraden ein Spielzeug zu ergattern. Auf fünf anderen Bildern versucht der dargestellte Junge, einem Tadel durch die Mutter zu entgehen. Die Aufgabe lautete: Finde so viele verschiedene Lösungen für die jeweilige Situation wie möglich! Kinder, die sich regelmäßig gekabbelt hatten, ersonnen deutlich mehr und kreativere Antworten.

Pellegrini gibt jedoch zu bedenken, dass Ursache und Wirkung bei diesen Studien nicht ganz klar seien: »Spielen könnte eine Vorstufe von Lernen sein. Dann ist es eine Voraussetzung dafür, bestimmte Kompetenzen zu entwickeln. Vielleicht werden im Spiel aber auch schlicht bereits erlernte Fähigkeiten immer wieder angewendet und somit eingeübt - doch beides ist natürlich nützlich.«

Nicht zu spielen, wirkt sich hingegen negativ auf die Problemlösefähigkeit aus. Schon 1978 demonstrierten das Forscher mit der folgenden Versuchsanordnung: Während der vierten und fünften Lebenswoche hielten sie Ratten durch Maschendraht voneinander getrennt, so dass sie sich zwar gegenseitig sehen, riechen und hören konnten, aber nicht gemeinsam herumtollten. Die Wissenschaftler brachten diesen Nagern und einer weiteren Gruppe, die frei miteinander hatte spielen dürfen, anschließend bei, einen Gummiball wegzuziehen, um an eine Extraportion Futter zu kommen.


Öfter mal was Neues

Einige Tage später änderten die Forscher das Szenario. Nun mussten die Ratten den Ball wegschieben, um an die Belohnung zu kommen. Nager, die zuvor getrennt voneinander gehalten worden waren, erwiesen sich als gedanklich unflexibel: Sie brauchten eine Weile, um den neuen Bewegungsablauf zu entdecken und das Problem zu lösen. Ihre Artgenossen, die frei miteinander herumgetobt hatten, waren deutlich schneller - offenbar hatten die Tiere im Spiel gelernt, Neues auszuprobieren.

Aber wie genau fördert dies nun die kindliche Entwicklung? »Spielen ist, wie an einem Kaleidoskop zu drehen: Das Resultat ist unvorhersehbar und immer wieder neu«, sagt der Evolutionsbiologe Marc Bekoff. Daher rege es die gedankliche Flexibilität und den Einfallsreichtum an, was gerade bei unerwarteten Problemen oder in neuen Umgebungen von Vorteil sein kann. Der Kinderpsychologe David Elkind von der Tufts University in Medford (US-Bundesstaat Massachusetts) sieht das genauso: Spielen sei die ursprünglichste Art des Lernens, sagt er. »Wenn ein Kind nicht spielt, entgehen ihm zahllose lehrreiche Erfahrungen.«

Der Psychologe rät Eltern vor allem eins: ihre Kinder öfter als bisher einfach Kinder sein zu lassen. Nicht nur, weil das den Kleinen am meisten Spaß mache, sondern auch, weil sie ohne kreative Auszeiten nicht zu wissbegierigen, einfallsreichen Menschen werden könnten. »Wir dürfen Spielen nicht länger als das Gegenteil von Arbeiten ansehen, sondern vielmehr als eine Ergänzung dazu«, sagt Elkind. »Neugier, Fantasie und Kreativität sind wie Muskeln: Wenn man sie nicht benutzt, verkümmern sie.« Marc Bekoff pflichtet dem bei: »Wenn Spielen überflüssig wäre, hätte es sich nicht dieser Form entwickelt.«

Wenn Spielen so bedeutend ist, was geschieht dann mit Heranwachsenden, die nicht genug Zeit dafür haben? Letztlich weiß das niemand genau - aber viele Psychologen sind besorgt. Eltern glauben, sie täten ihren Kindern etwas Gutes, wenn sie das freie Spiel durch »pädagogisch wertvollere« Tätigkeiten ersetzen. Manche Väter und Mütter schränken die Zeit für das Herumtoben vielleicht auch ein, um ihre Kinder zu schützen - bei Raufereien und wilden Rollen spielen können sich die Kleinen schon mal Schrammen oder gar Knochenbrüche zuziehen. Es sei zwar ganz normal, seine Kinder behüten zu wollen, meint der Neurowissenschaftler Sergio Pellis von der University of Lethbridge in Alberta (Kanada). »Doch damit verschiebt man diese leidvollen Erfahrungen nur auf später. Denn solche Kinder haben es später schwerer, sich in unserer komplexen Welt zurechtzufinden. Wer dagegen spielerisch bereits einen reichen Schatz an Erfahrungen sammelt, kann als Erwachsener besser mit unvorhersehbaren Konflikten umgehen.«


Melinda Wenner ist Wissenschaftsjournalistin und lebt in New York.


Quellen

Christakis, D. et al.: Effect of Block Play on Language Acquisition and Attention in Toddlers. In: Archives of Pediatrics and Adolescent Medicine 161(10), S. 967-971, 2007.

Gordon, N. et al.: Socially-Induced Brain »Fertilization«: Play Pomotes Brain Derived Neurotrophic Factor Transcription in the Amygdala and Dorsolateral Frontal Cortex in Juvenile Rats. In: Neuroscience Letters 341, S. 17-20, 2003.

Siviy, S.: Effects of Pre-Pubertal Social Experiences on the Responsiveness of Juvenile Rats to Predator Odors. In: Neuroscience and Biobehavioral reviews 32, S. 1249-1258, 2008.

Weitere Quellen unter:
www.gehirn-und-geist.de/artikel/996873


Literaturtipp

Mogel, H.: Psychologie des Kinderspiels: Von den frühesten Spielen bis zum Computerspiel. Springer, Berlin 2008.
Psychologisches Lehrbuch über alle Formen des Spielverhaltens


*


ZUSATZINFORMATIONEN:

SPIELEN GEGEN ADHS?

Der Neurowissenschaftler Jaak Panksepp von der Washington State University sieht einen Zusammenhang zwischen zu wenig freiem Spielen und der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Schon 1995 hatte der Psychiater Benjamin Handen von der University of Pittsburgh festgestellt, dass Kinder mit ADHS umso zurückhaltender spielten, je mehr Ritalin sie erhielten. Auch Ratten nimmt das Medikament die Spiellaune. Laut Panksepp führt aber gerade das ungebändigte Treiben in der Jugend später zu mehr Ruhe und Ausgeglichenheit - zumindest in Tierstudien. Der Forscher hält daher Spielen für eine Möglichkeit, ADHS einzudämmen.

(Panksepp, J.: Can Play Diminish ADHD and Facilitate the Construction of the Social Brain? In: Journal of the Canadian Academy of Child and Adolescent Psychiatry 16(2), S. 57-66, 2007.)


Faxen machen statt Faxe senden: einige »Spiel-Regeln«

Forscher stimmen darin überein, dass Spielen wichtig für die Hirnentwicklung ist. Doch auch Erwachsene brauchen hier und da etwas Ausgelassenheit: Wer nie spielt, laufe Gefahr, »in der täglichen Geschäftigkeit und Eile aufgerieben zu werden«, meint etwa Marc Bekoff, Evolutionsbiologe der University of Colorado in Boulder. Erwachsene, die sich keine kreativen Auszeiten nehmen, seien schneller erschöpft - ohne recht zu wissen, warum.

Doch wie können wir mehr Spaß in unser Leben bringen? Der Psychiater Stuart Brown gründete dafür eigens das National Institute for Play im kalifornischen Carmel Valley. Es berät unter anderem Unternehmen, wie sie ihre Mitarbeiter mehr spielen lassen können, um deren Kreativität und Belastbarkeit zu steigern. Brown hat drei Vorschläge, was jedermann selbst tun kann:

Aktiv sein!

Pflegen Sie irgendeine Form körperlicher Bewegung, ohne Zeitdruck und ohne sich dabei ein Ziel zu setzen - schon wenn die Absicht dahintersteckt, Fett zu verbrennen, handelt es sich nicht mehr um ein Spiel!

Den Tastsinn fordern!

Benutzen Sie Ihre Hände, um Gegenstände zu untersuchen, sie wegzuschnippen oder daraus etwas zu basteln, was Ihnen gefällt. Das kann alles Mögliche sein, doch wieder gilt: Es sollte keinen »nützlichen« Zweck erfüllen.

Schwätzchen halten!

Treffen Sie sich mit anderen Menschen, um sich zu unterhalten - vom Small Talk bis zu absurden Wortgefechten ist alles erlaubt.

Vielen Erwachsenen fällt es jedoch schwer, einfach »irgendwas« zu machen. Brown rät, daran zurückzudenken, wie man früher gerne seine Freizeit verbracht hat: »Erinnern Sie sich an Ihr wichtigstes Kindheitsspiel und versuchen Sie, es in eine Aktivität umzuwandeln, die zu Ihren aktuellen Lebensumständen passt.« Der Evolutionsbiologe Gordon Burghardt von der University of Tennessee sagt: »Es hilft Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge, wenn Sie Zeit mit Kindern verbringen.« Letztlich zählt weniger die Art des Spielens als die ungezwungene Beschäftigung an sich. Marc Bekoff empfiehlt, sich eine bestimmte Zeit des Tages für ungeplante und nutzlose Aktivitäten zu reservieren. Spaß und frische Energie, die daraus erwachsen, machen die »vertane« Zeit mehr als wett!


WEBLINK
http://nifplay.org
Webseite des National Institute for Play, auf der verschiedene Arten des Spielens vorgestellt werden


*


Nur kein Streit

Normalerweise steht Tieren und Menschen in Stresssituationen nicht der Sinn danach, herumzutollen. Ganz anders bei den Bonobos: Sie spielen besonders viel, wenn Konflikte drohen. 2006 beobachteten Primatenforscher um Elisabetta Palagi von der Università di Pisa an einer Gruppe von Bonobos in Apeldoorn (Niederlande), dass die Tiere stets eine halbe Stunde vor der Fütterungszeit anfingen, viel miteinander zu spielen. Sie rollten übereinander und neckten sich. Die Forscher vermuten, dass die Affen damit versuchen, Konflikten um die Nahrung vorzubeugen.

(Palagi, E. et al.: Short-Term Benefits of Play Behavior and Conflict Prevention in Pan paniscus. In: International Journal of Primatology 27(5), S. 1257 - 1270, 2006.)


*


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

EINE HAND VOLL FREUNDE
Kinder schlüpfen gern in andere Rollen und erwecken Puppen und Stofftiere zum Leben. Forschern zufolge hilft solches »freie Spielen« dabei, soziale Fähigkeiten zu erwerben.

KEIN TURMBAU ZU BABEL
Vorschulkinder, die oft mit Bauklötzen spielen, besitzen im Schnitt bessere Sprach fertigkeiten als ihre Alters genossen.

ÜBERMUT TUT GUT
Nicht nur Kinder sollten ausgelassen herumtoben dürfen: Forscher glauben, dass ein bisschen Albernheit auch die Kreativität und den Ideenreichtum von Erwachsenen anregt.

NEUGIERIGE NAGER
Ratten verbringen vor allem die vierte und fünfte Lebenswoche damit, wild herumzutoben. Haben sie in dieser Zeit keine Möglichkeit zu spielen, sind sie später weniger sozial und schlechtere Problemlöser.

GUT GERANGELT
Auch harmlose Balgereien fördern offenbar die soziale Kompetenz: Laut einer Studie an Grundschulkindern sind Jungen, die häufiger mit Klassenkameraden raufen, erfinderischer bei der Lösung zwischenmenschlicher Konflikte.


*


Quelle:
GEHIRN&GEIST 7-8/2009, Seite 40-47
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
Redaktion und Verlag:
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg
Telefon: 06221/91 26-776, Fax 06221/91 62-779
E-Mail: redaktion@gehirn-und-geist.de
Internet: www.gehirn-und-geist.de

GEHIRN&GEIST erscheint zehnmal pro Jahr.
Das Einzelheft kostet 7,90 Euro,
das Abonnement 68,00 Euro pro Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. August 2009