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SOZIALES/124: Gemeinsam sind wir - anders (GEHIRN&GEIST)


GEHIRN&GEIST 6/2010
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Soziale Ansteckung
Gemeinsam sind wir - anders

Von Nikolas Westerhoff


Familie, Arbeitskollegen, Nachbarn, Freunde: Jeder von uns verfügt über viele soziale Netzwerke. Wie stark sie unser Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen, überrascht selbst Wissenschaftler. Laut Psychologen reicht die Macht des Miteinanders bis in unsere privatesten Bereiche hinein.


AUF EINEN BLICK

Individuum und Gruppe

1. Als soziale Ansteckung bezeichnen Psychologen die Ausbreitung von Einstellungen, Gefühlen und Verhaltensweisen in Gemeinschaften. Diese Beeinflussung bleibt den Betreffenden selbst meist verborgen.

2. Die zu Grunde liegenden Mechanismen sind noch unklar. Doch scheint die unbewusste Identifikation mit der jeweiligen Gruppe besonders wichtig zu sein - sei es der Freundeskreis, eine Kirchengemeinde oder die Familie.

3. Viele soziale Netze zu pflegen, stärkt im Allgemeinen die psychische und körperliche Verfassung. Ein »Allheilmittel« für Gesundheit und Zufriedenheit ist es allerdings nicht.


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Am 30. Januar 1962 brachen drei Mädchen in einem Dorf in Tansania in unkontrolliertes Lachen aus. Ihre Anfälle dauerten mehrere Stunden - und wirkten ansteckend: Bis zum 18. März verfielen 95 Einwohner in hysterische Heiterkeit. Weitere zehn Tage später erreichte das Gelächter die Ortschaft Nshamba, rund 90 Kilometer vom Ursprungsort entfernt. Hier »erkrankten« Berichten zufolge mehr als 200 Personen. So breitete sich die Welle immer weiter aus und infizierte schließlich Tausende von Menschen in dem westafrikanischen Land.

Das als »Tanganyika-Lachepidemie« bekannt gewordene Phänomen ist verlässlich dokumentiert worden - zuletzt 2007 von dem Humorforscher Christian F. Hempelmann von der Georgia Southern Univerity in Statesboro (USA). Für den Mediziner und Soziologen Nicholas A. Christakis von der Harvard University in Boston zeigt dieser Fall eindrucksvoll, wie sich Emotionen von Mensch zu Mensch fortpflanzen können. Ein schlagender Beweis für den großen Einfluss, den andere auf unser Fühlen und Handeln ausüben.

Gemeinsam mit dem Politologen James H. Fowler von der University of California in San Diego trug Christakis viele solcher Beispiele - historische und aktuelle, skurrile und alltägliche - in dem Buch »Connected!« zusammen (siehe Rezension auf S. 79 der Printausgabe). Das Fazit der beiden Forscher: Nicht nur Krankheitserreger werden von einem Menschen zum anderen weiter gegeben, sondern auch Verhaltensweisen - ob Lachen oder Suizidhandlungen, Kaufentscheidungen oder Essgewohnheiten. Diese »soziale Ansteckung« dominiere viele Lebensbereiche, oft ohne dass wir uns dessen bewusst wären.

Um ihre These zu untermauern, werteten Fowler und Christakis die sozialen Beziehungen von über 5000 US-Bürgern aus. Da jeder Proband im Schnitt zehn engere Kontakte unterhielt, entstand ein Gesamttableau von 50 Personen, von denen regelmäßig zahlreiche persönliche Daten erhoben wurden. Die statis tische Analyse offenbarte zum Beispiel, dass Gewichtszunahmen der Teilnehmer stark davon abhingen, ob jeweils die drei nächsten Freunde eines Probanden zu- oder abgenommen hatten!

Dieser Effekt ließ sich laut der Forscher nicht allein durch gemeinsame Mahlzeiten erklären. »Die Gewichtszunahmen glichen sich zwischen ganz verschiedenen Sozialkontakten an«, so Fowler. »Ehepartner und Geschwister beeinflussten einander genauso wie Kollegen oder Freunde.«


Landkarte der Einsamkeit

Solche Netzwerkanalysen belegen, wie bereitwillig Menschen Verhaltensweisen anderer übernehmen. Dass sich dies auch auf Einstellungen und Gefühle erstreckt, zeigte eine weitere Studie von Christakis und Fowler: Die regelmäßig erhobenen Stimmungswerte von mehreren tausend Personen setzten die Forscher grafisch in eine Art Landkarte der Einsamkeit um.

Resultat: »Wenn ein in der Nähe wohnender Freund sich an zusätzlichen zehn Tagen im Jahr einsam fühlt, steigt die Zahl der eigenen einsamen Tage um drei bis vier«, erklärt Fowler. »Das Gefühl des Alleinseins wird auch unter nur lose miteinander Bekannten weitergegeben: Fühlt sich der Nachbar an zehn Tagen mehr im Jahr einsam, kommen auf der anderen Seite des Gartenzauns zwei Tage hinzu. Erst zwischen Menschen, die weiter als anderthalb Kilometer voneinander entfernt wohnen, verliert sich diese Wirkung.«

In sozialen Netzwerken, davon sind die Forscher überzeugt, breiten sich Gefühle und Vorlieben nach mathematischen Gesetzmäßigkeiten aus. Was eine Person empfindet, hat dabei nicht unbedingt nur mit direkten Angehörigen oder Nachbarn zu tun, sondern auch mit Leuten, zu denen sie nicht laufend Kontakt pflegt.

Bei einer weiteren Untersuchung erfassten Christakis und Fowler in minutiöser Kleinarbeit per Fragebogen wiederholt die Glückswerte von tausenden Einwohnern der Stadt Framingham (im US-Bundesstaat Massachusetts). Die Resultate der insgesamt 32 Jahre, von 1971 bis 2003, dauernden Langzeitstudie stellten sie wiederum bildlich dar. Siehe da: Unglücklichere Menschen bewegten sich eher »am Rand des Netzwerks und am Ende einer Kette von sozialen Beziehungen«.


Sind seelische Leiden ansteckend?

Rund 16 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter psychischen Störungen. Dabei treten seelische Probleme vermehrt dort auf, wo es ein engmaschiges Netz von niedergelassenen Psychotherapeuten gibt: In Regionen mit hoher Therapeutendichte sind meist auch mehr Menschen psychisch krank!

Einige Forscher werten dies als Sonderform der sozialen Ansteckung: Wo es viele Psychologen gibt, nimmt man sie auch eher in Anspruch. Allerdings spielen hier wohl zudem Unterschiede in der Bevölkerungsstruktur etwa zwischen Stadt und Land eine Rolle.

(Bundespsychotherapeutenkammer, siehe: www.bptk.de)


Glück? Hoch ansteckend!

Die Analysen offenbarten auch, wie ansteckend Glück ist: Wer mit einem glücklichen Menschen direkt in Kontakt stand, dessen Zufriedenheit stieg im Mittel um 15 Prozent! Wer nur mit dem Freund eines glücklichen Menschen bekannt war, profitierte um zirka zehn Prozent. Zum Vergleich: Materielle Zugewinne von 10.000 US-Dollar steigerten das individuelle Glück lediglich um zwei Prozent.

Dass die Zufriedenheit von Menschen tatsächlich stark davon abhängt, wie glücklich andere in ihrer Umgebung sind, bestätigten die Ökonomen John Knight von der University of Oxford und Ramani Gunatilaka von der Monash University in Melbourne im Jahr 2009. Die beiden Forscher werteten Daten des China Household Income Project (CHIP) aus. Darin sind die Einkünfte und Zufriedenheitswerte tausender Chinesen aus 22 ländlichen Provinzen erfasst. War eine Dorfgemeinschaft insgesamt »gut drauf«, gab es nur vereinzelte Ausreißer nach unten mit desolaten Glückswerten.

Wie die Forscher feststellten, ließ sich das individuelle Hochgefühl dennoch nicht allein aus sozialen Faktoren erklären: Wohlstand, Arbeitsbedingungen und nicht zuletzt die körperliche Gesundheit spielten weitere wichtige Rollen. Hinzu kommt: Soziale Netze sind komplexe Gebilde, in denen viele Gefühle gleichzeitig übertragen werden. Augenscheinlich bestimmen sie jedenfalls mit darüber, ob wir zu- oder abnehmen, depressiv oder fröhlich sind, uns einsam fühlen oder nicht.

Doch prägen sie auch persönliche Lebensentscheidungen? Zwar nehmen wir zumeist wie selbstverständlich für uns in Anspruch, autonom zu handeln - übernehmen aber gleich zeitig oft die Ansichten unserer Nächsten. Und was wir für richtig oder falsch halten, für erstrebenswert oder verwerflich, beeinflusst wiederum unser Handeln - ob bei politischen Wahlen, in Sachen Karriere oder Familienplanung.

Die Wirtschaftswissenschaftlerin Ilyana Kuziemko von der Princeton University (US-Bunedesstaat New Jersey) analysierte eine große Zahl amerikanischer »Familiendynastien«, die von Forschern der University of Michigan in Ann Arbor seit 1968 untersucht worden waren. Anhand der Daten der Panel Study Income Dynamics (PSID) beschrieb Kuziemko 823 Primärfamilien. Aus diesen gingen im Lauf der Zeit 1817 Kinder hervor, die ihrerseits 3666 Kinder zur Welt brachten. Wichtigster Befund: Geschwister stecken sich untereinander mit ihrem Kinderwunsch an.

Wessen Bruder oder Schwester kürzlich Vater oder Mutter geworden war, der bekam mit großer Wahrscheinlichkeit selbst in den nächsten zwei Jahren ein Kind. Sogar den Altersabstand zwischen den Kindern sowie die Anzahl der Nachkommen gebe die familiäre Gemeinschaft weit gehend vor, so Kuziemko. Galten etwa zwei Kinder als wünschenswert, strebten Familien eher doppelten Nachwuchs an; herrschte das Ideal der Ein-Kind-Familie vor, so gab es entsprechend nur einen Sprössling. Nicht nur Gefühle, auch private Wünsche und Lebensentwürfe sind offenbar ansteckend.


Im Bann der Gruppenidentität

Doch wie kommt es zu alldem? Viele Sozialpsychologen glauben: Oberstes Ziel der Mitglieder eines Netzwerks ist, zu beweisen, dass sie ebenso denken, fühlen und handeln wie die anderen - nur sind sie sich dieser Tendenz oft nicht bewusst. Das stärkt die eigene Gruppenidentität und fördert im Nebeneffekt das »Mit-dem-Strom-Schwimmen«, das sich für die meisten Menschen gut anfühlt, ihnen Sicherheit gibt.

In diese Richtung deutet etwa die Add-Health-Studie, eine der größten Erhebungen zur Wirkung sozialer Netzwerke überhaupt. Forscher der University of North Carolina in Chapel Hill befragten in den Jahren 1994 bis 2008 insgesamt mehr als 90.000 Schüler. Jeder Teilnehmer sollte fünf enge Bezugspersonen nennen und unter anderem Auskunft geben über sein Liebesleben, seine religiöse Einstellung und eventuelle Drogenerfahrungen. Auf diese Weise ließ sich belegen, dass in den engmaschigen Beziehungsnetzen von Jugendlichen ein besonders hohes Maß an sozialer Ansteckung stattfindet. Ob ungeschützter Sex, regelmäßige Kirchgänge oder Marihuanakonsum - die Kids taten zumeist das, was ihnen der Freundeskreis nahelegte.

Eine Studie des Soziologen Peter Shawn Bearman von der Columbia University in New York aus dem Jahr 2001 bestätigte die subtile Macht der Cliquenbildung. Bearman untersuchte gläubige Teenager aus dem Umkreis der Southern Baptist Church, die ein feierliches »Jungfräulichkeitsgelöbnis« abgelegt hatten. Die meisten von ihnen hielten sich fortan an ihr Bekenntnis und praktizierten keinen vorehelichen Sex. Wurde ein Anhänger deswegen von anderen, außen Stehenden abgelehnt oder belächelt, so behielt er sein restriktives Sexualverhalten umso wahrscheinlicher bei. Sammelte er jedoch Sympathisanten um sich, die ebenfalls keusch leben wollten, brach er das Gelöbnis eher!

Bearmans Erklärung: Wenn das Versprechen einer religiösen Minderheit von der Mehrheit übernommen wird, verliert es seine identitätsstiftende Wirkung. Die Konventionen sozialer Gemeinschaften haben aber genau diese Funktion: Sie sollen eine Gruppe zusammenschweißen und nach außen hin abgrenzen. Klappt das nicht mehr - etwa, weil sich schon zu viele haben »anstecken« lassen -, verlieren sie ihren Zweck.

Die Mitglieder eines Netzwerks wollen beweisen, dass sie ebenso denken, fühlen und handeln wie die anderen - sie sind sich dieser Tendenz aber oft nicht bewusst

Womöglich gibt es aber noch einen weiteren, weniger subtilen Grund für das Phänomen der sozialen Ansteckung: »Wenn Menschen tun können, was sie wollen, ahmen sie einander nach«, erklärte schon der amerikanische Moralphilosoph Eric Hoffer (1902-1983). Unsere Spezies habe allgemein eine Vorliebe fürs Synchronisieren: Soldaten marschieren im Gleichschritt, Liebende denken im Einklang, Gläubige beten unisono, Sportfans singen aus einer Kehle.

Um die Auswirkungen synchronen Handelns zu erforschen, verwandelte der Psychologe Scott S. Wiltermuth von der Stanford University in Kalifornien seinen heimischen Campus in eine Militärakademie: Für seine 2009 erschienene Studie ließ er Probanden im Gleichschritt marschieren. Daraufhin forderte er sie auf, in einem Spiel um Geld gegeneinander anzutreten. Es zeigte sich, dass die zuvor Seite an Seite marschierenden Studenten stärker miteinander kooperierten als die Mitglieder einer Konk trollgruppe, die beim vorbereitenden Ausflug nur gemeinsam über das Universitätsgelände geschlendert war. Die »Synchronläufer« vertrauten einander offensichtlich mehr und fühlten sich stärker zusammengehörig als die Flanierer, so Wiltermuths Schlussfolgerung.

Sein Kollege Charles R. Seger von der University of Indiana in Bloomington wies kürzlich nach, wie leicht sich Gemeinschaftsgefühle wecken lassen. Er fragte seine Probanden: Wie fühlen Sie sich momentan - als US-Amerikaner? Die Teilnehmer sollten angeben, ob sie in Sachen Patriotismus aktuell eher Stolz, Schuldgefühle oder gar Wut empfanden und ob sie eher zuversichtlich oder ängstlich in die Zukunft blickten. Für jede Versuchsperson erstellte Seger daraufhin ein »emotionales Profil«.

Dann spielte er einigen von ihnen entweder die amerikanische Nationalhymne vor oder zeigte ihnen Fotos nationaler Symbole. Schließlich bat er sie ein weiteres Mal, ihre Gefühle detailliert einzuschätzen. Sowohl die Hymne als auch patriotische Embleme näherten die jeweiligen Gemütslagen der Probanden einander an. Ähnlich wie körperliche Bewegungen synchronisieren sich unter bestimmten Umständen also auch Emotionen, resümierte Seger.

Der Akt des wechselseitigen Nachahmens basiert - wie die meisten Prozesse in sozialen Netzwerken - auf der Ähnlichkeit zwischen den Mitgliedern. Gemeinsamkeiten stiften Vertrauen und gegenseitiges Verständnis. Nicht zuletzt deshalb sind Ärzte eher mit Ärzten befreundet und Handwerker mit Handwerkern; Familienväter treffen sich mit anderen Familienvätern und allein Erziehende mit allein Erziehenden.


Gemeinsinn macht Laune

Das klassische »Gefängnis-Experiment« des Psychologen Philip Zimbardo von der Stanford University (USA) wiederholten 2006 die Briten S. Alexander Haslam und Stephen Reicher in Kooperation mit der BBC. Dabei zeigte sich ein verblüffender Effekt: Obwohl die per Zufallslos bestimmten Gefangenen den Aufsehern schutzlos ausgeliefert waren, waren sie mit der Zeit immer weniger gestresst, anders als die Wärter (siehe Grafik a). Vermutlicher Grund: Bei Ersteren war die soziale Identifikation höher - die Situation schweißte die Gruppe zusammen (b).

(Haslam, S. Reicher, S. Stressing the Group: Social Identity and the Unfolding Dynamics of Responses to Stress. In: Journal of Applied Psychology 91(5), S. 1037-1052, 2006)

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

a: Stressempfinden
b: soziale Identifikation

Verkehrte Welt In einem eigens eingerichteten »Gefängnis« wurden Probanden zufällig in Wärter und Inhaftierte eingeteilt. Während sich die Gefangenen nach und nach mit dem Leben hinter Gittern arrangierten (Bild), fühlten sich die Wärter zunehmend unter Druck.


Wann Ähnlichkeit bedrohlich wird

Doch birgt es auch Risiken, sich vor allem mit Menschen zu umgeben, die einem selbst in der einen oder anderen Hinsicht ähnlich sind. Ers tens ist empirisch belegt, dass in homogenen Gruppen oft nur solche Informationen ausgetauscht werden, über die die Mitglieder ohnehin schon verfügen. Und zweitens kann die empfundene Ähnlichkeit mit anderen zur Bedrohung werden - etwa wenn »artverwandte« Menschen in Krisen geraten. Dann beschleicht uns unwillkürlich die Angst, wir könnten womöglich das gleiche Schicksal erleiden.

Für einen Familienvater ist die Scheidung eines befreundeten Familienvaters bedrohlicher als für einen Single. Erkrankt ein Nachbar, der raucht, an Lungenkrebs, fühlen sich andere Raucher dabei unwohl. Häufige Folge: Der Betreffende wird ausgegrenzt, denn die Krankheit stellt die Lebensweise der anderen Mitglieder des sozialen Netzes in Frage.

Die Münchner Soziologin Martina Eller analysierte vor einigen Jahren die Sozialbeziehun gen von rund 1000 Diabetikern. Dabei stellte sie fest: Mit dem Ausbruch der Krankheit schrumpften deren sozialen Netze. Mindestens zwei Ursachen dürften hierfür verantwortlich sein: Wer krank ist, wird eher ausgeschlossen; zugleich ziehen sich kranke Menschen aber auch selbst zurück und sind nicht mehr so aktiv.

Dies sei umso kritischer, als der Verlauf einer Erkrankung wie Diabetes auch von Größe und Stabilität der Beziehungen der Betroffenen abhängt, so Eller. »Wenn jemand ein großes soziales Netz hat, steht er Jahre später gesundheitlich besser da als derjenige, dessen Netz von Anfang an klein war.«

Mittlerweile belegen zahlreiche Studien, dass soziale Isolation ein bedeutendes Gesundheitsrisiko darstellt (siehe auch G&G 10/2009, S. 48). Menschen, die sich von anderen unterstützt fühlen, leben zufriedener, länger und altern langsamer. Wichtiger als die tatsächliche Hilfe der anderen ist das Gefühl, im Notfall aufgefangen zu werden. Ob diese Annahme begründet ist oder nicht, erscheint dabei zweitrangig.

Soziale Isolation stellt ein bedeutendes Gesundheitsrisiko dar. Wer sich hingegen von anderen unterstützt fühlt, lebt zufriedener und länger

Die Medizinerin Bernadette Boden-Alaba von der Columbia University in New York stellte in einer Studie an 656 Herzinfarktpatienten fest: Wer sozial isoliert war, erlitt mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit einen zweiten Infarkt wie gut integrierte Patienten. Dieser Risikofaktor wog erstaunlicherweise sogar schwerer als Bewegungsmangel oder Arteriosklerose. Ärzte nähmen die soziale Komponente der Gesundheit immer noch zu wenig in den Blick, kritisiert Boden-Alaba.

Die Psychologin Sheldon Cohen von der Carnegie Mellon University fand heraus, dass Menschen, die über vielfältige Beziehungen verfügen, seltener an Grippe oder Erkältung leiden - und das, obwohl sie als sozial aktive Menschen einer höheren Belastung mit Viren ausgesetzt sind. Resilienzforscher wissen, wie wichtig es ist, gerade in Krisenzeiten sozialen Halt zu finden (siehe G&G 3/2010, S. 46).

Die Psyche profitiert in aller Regel von vielfältigen Kontakten: Laut der Sozialpsychologin Jolanda Jetten von der University of Queensland in Brisbane (Australien) sind Studierende, die sich in verschiedenen Netzwerken engagieren, langfristig eher vor Depressionen gefeit. In einer anderen Untersuchung von 2010 stellte Jetten gemeinsam mit den Demenzforschern Cara Pugliese und James Tonks von der University of Exeter (Großbritannien) fest, dass Menschen mit beginnender Demenz ihren Gesundheitszustand im Schnitt schlechter einschätzen als solche, bei denen die Erkrankung bereits weiter fortgeschritten ist. Offenbar glauben schwerer Erkrankte irrtümlich, sozial immer noch gut integriert zu sein. Und solange sie sich gut vernetzt fühlen, geht es ihnen ganz ordentlich.


Viele Rollen - weniger Stress?

Lange Zeit glaubten Forscher, zu viele soziale Rollen und Kontakte würden sich negativ auf die psychische Verfassung auswirken, da sie auch mehr Verpflichtungen und Stress bedeuten. Neuere Studien sprechen allerdings dafür, dass die bloße Anzahl der Beziehungen weniger ins Gewicht fällt als deren subjektiv empfundene Qualität.

Die niederländischen Psychologinnen Elianne van Steenbergen und Naomi Ellemers von der Universität in Leiden befragten Frauen, die im Beruf erfolgreich und sehr engagiert waren. Demnach aktivierte es die »Power-Jobber« umso mehr, wenn sie auch ihr Familienleben als reich empfanden. Umgekehrt gaben viele Befragte an, sich zu Hause einzubringen, gerade weil ihnen die berufliche Arbeit einen »Kick« gebe. Offenbar ist der vermeintliche Widerspruch zwischen Job und Familie auch eine Frage der Bewertung.

(van Steenbergen, E. Ellemers, N.: Is Managing the Work-Familiy Interface Worthwhile? Benefits for Employee Health and Performance. In: Journal of Organizational Behavior 30(5), S. 617-642, 2009)



Kein sozialer »Rundum-Schutz«

Die Annahme, dass soziale Unterstützung die Gesundheit fördert, ist weit verbreitet. Tatsächlich aber schützt sie nicht vor allen Krankheiten gleichermaßen. »Soziale Netzwerke wirken sich positiv auf das Herz-Kreislauf-System aus«, resümiert die Psychologin Beate Ditzen von der Universität Zürich den Stand der Forschung. Ob dies auch für Immunerkrankungen wie Aids oder Hepatitis C gilt, ist hingegen bislang unklar. In einigen Studien mit Aidskranken ergab sich sogar ein negativer Zusammenhang: Je größer und fürsorglicher das Netzwerk war, desto schlechter fielen die Immunwerte der Betroffenen aus.

Der verallgemeinernde Slogan »Netzwerke machen gesund« ist vermutlich ähnlich irreführend wie die Behauptung, Fernsehkonsum trage zur Vereinsamung bei. Soziale Netzwerke sind keine Allheilmittel gegen Krankheit und Schmerzen - entscheidend ist vielmehr, was in ihnen passiert.


Soziale Netze: klein, aber fein

Laut dem Soziologen Sören Petermann von der Universität Halle-Wittenberg umfassen die einzelnen sozialen Netzwerke eines Menschen durchschnittlich elf Personen. Die Streubreite ist jedoch groß: Sie reicht im Allgemeinen von 1 bis rund 30. Petermann unterschiedet drei Arten sozialer Unterstützung: instrumentelle (beim Umzug helfen, Freundschaftsdienste übernehmen), emotionale (Rat geben, ein offenes Ohr bei Problemen haben) sowie gesellige (zu Partys eingeladen werden, mit anderen ausgehen). Als Faustregel gilt: Gesellige Unterstützung findet sich am leichtesten, instrumentelle am schwersten.

Netzwerkmitglieder, die alle drei Aspekte in sich vereinen, sind in kleinen Zirkeln wie dem nahen Freundeskreis eines Menschen häufiger. Je größer eine Gemeinschaft, desto spezialisierter sind meist die jeweiligen Rollen. In Onlinenetzwerken wie Facebook oder Twitter ist es zwar theoretisch möglich, Hunderte von Kontakten zu knüpfen. Dennoch finden sich hier im Schnitt sogar nur sechs engere Bezugspartner, mit denen man zum Beispiel Bilder und persönliche Erfahrungen austauscht. Fazit: Auch im Internet pflegen Menschen normalerweise nicht wesentlich größere Netzwerke - dazu fehlt den meisten schlicht die Zeit.


Doch worin unterscheidet sich günstiger von ungünstigem Umgang miteinander? Die Psychologinnen Barbara G. Melamed und Gail F. Brenner beobachteten systematisch das Verhalten von 35 älteren Ehepaaren, bei denen einer von beiden seit mindestens 14 Jahren an einer chronischen Erkrankung litt. Detailliert erfassten die Forscherinnen, welche Hilfe sich die Partner gegenseitig anboten. Wird aus der Zeitung vorgelesen? Bekommt der Erkrankte Ernährungsratschläge? Wird er gestreichelt? Und als wie hilfreich bewertete dies derjenige?

Ergebnis: Zupackendes Helfen kam nicht besonders gut an - vermutlich, weil sich der kranke Partner dadurch schnell bevormundet fühlte. Wer das Essen kleinschnitt, die Kleider zurechtlegte und einen Tagesplan entwarf, meinte es zwar gut, gab dem anderen aber erst recht das Gefühl, krank und hilfsbedürftig zu sein. Besser geeignet war dagegen »wohlwollendes Stützen«. Mit anderen Worten: Es reicht meist schon aus, einfach nur da zu sein.

Besser weniger tun als das Falsche, so lautet die Quintessenz der Forscher. Statt Dinge abzunehmen, Ratschläge zu geben und Aktionismus zu verbreiten, möge man es zunächst dabei belassen, »bloß« anwesend zu sein. Das ist freilich leichter gesagt als getan. Denn gerade wenn uns ein Mensch am Herzen liegt, wollen wir ihm mit Rat und Tat zur Seite stehen. Doch überaktive Mitglieder sozialer Netzwerke verkennen offenbar häufig einen schlichten Sachverhalt: Man muss nicht viel tun, um Vertrauen und Sympathie zu gewinnen. Es genügt meist ein einziges Signal - ich bin da, wenn du mich brauchst.


Nikolas Westerhoff ist promovierter Psychologe und freier Wissenschaftsjournalist in Berlin.


QUELLEN

Christakis, N.A., Fowler, J.H.: The Spread of Obesity in a Large Social Network over 32 Years. In: New England Journal of Medicine 357, S. 370-379, 2007.

Ditzen, B., Heinrichs, M.: Psychobiologische Mechanismen sozialer Unterstützung. In: Zeitschrift für Gesundheitsspsychologie 15(4), S. 143-157, 2007.

Fowler, J.H., Christakis, N.A.: Estimating Peer Effects on Health in Social Networks. In: Journal of Health Economics 27(5), S. 1400-1405, 2008.

Fowler, J.H., Christakis, N.A.: Dynamic Spread of Happiness in a Large Social Network: Longitudinal Analysis Over 20 Years in The Framingham Heart Study. In: British Medical Journal 337, S. a2338, 2008.

Hempelmann, C.F.: The Laughter of the 1962 Tanganyika »Laughter Epidemic«. In: International Journal of Humor Research 20(1), S. 49-71, 2007.

Jetten, J. et al.: Declining Autobiographical Memory and the Loss of Identity: Effects on Well-Being. In: Journal of Clinical and Experimental Neuropsychology 32(4), S. 408-416, 2010.

Kuziemko, I.: Is Having Babies Contagious? Estimating Fertility Peer Effects Between Siblings. Princeton University, 2006.

Wiltermuth, S.S., Heath, C.: Synchrony and Cooperation. In: Psychological Science, 20 (1), S. 1-5, 2009.

Weitere Literaturhinweise und Links im Internet:
www.gehirn-und-geist.de/artikel/1029279


MEHR ZUM TITELTHEMA → Digitale Bande - Wie uns das »soziale Internet« verändert (S. 54 der Printausgabe)


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S.46:
Hand drauf! Menschliche Gemeinschaften pflegen äußerlich sichtbare Rituale. Doch der Einfluss der Mitmenschen prägt auch die Psyche des Einzelnen.

Abb. S.48:
Kollektives Krisenmanagement
Menschen, die vielen sozialen Netzen angehören, meistern Lebensumbrüche im Schnitt leichter. Wer etwa arbeitslos wird, verliert meist auch den Kontakt zu Kollegen, was häufig das Wohlbefinden schwächt. Je mehr Alternativen von vornherein zur Verfügung stehen - vom Tennisklub bis zur Gemeidearbeit -, desto eher können die alten Bande erhalten oder neue geknüpft werden.

Abb. S.49:
Topologie der Pfunde
Dieses Diagramm spiegelt ein komplexes soziales Netz wider, das der Politologe James H. Fowler und der Mediziner Nicholas A. Christakis erforschten: Jeder Kreis steht für eine Person; die Linien für Beziehungen familiärer oder freundschaftlicher Art. Je weiter innen sich ein Kreis befindet, desto stärker ist er mit anderen vernetzt. Hellgrün hervorgehoben sind stark übergewichtige Personen. Sie haben besonders viele Verbindungen zu anderen Schwergewichtlern, wie die statistische Auswertung ergibt.


© 2010 Nikolas Westerhoff, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
GEHIRN&GEIST 5/2010, Seite 46 - 52
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2010