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INTERVIEW/044: Beteiligungsmodul Psychologie - Selbstkritik ...    Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder im Gespräch (SB)



Titelseite des Programmflyers -Quelle: Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP)

Quelle: Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP)

Kritik der Politischen Psychologie muss deutlicher werden. - Interview mit dem Psychologen und Psychoanalytiker Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder

Schattenblick: Der Titel des diesjährigen Kongresses der Neuen Gesellschaft für Psychologie, deren Vorsitzender Sie sind, lautet "Krieg nach innen - Krieg nach außen". Warum so eine provokante Überschrift?

Klaus-Jürgen Bruder (KJB): Warum nicht? Warum sollen wir uns nicht trauen die Dinge zu benennen? Ein Mann wie Warren Buffet - US-amerikanischer Großunternehmer und Milliardär - zögert nicht zu formulieren: "There's class warfare, all right, but it's my class, the rich class, that's making war, and we're winning." Warum sollten wir da zögern, die Erniedrigung von Menschen unter Hartz IV-Bedingungen, die Verunsicherung der Bevölkerung, deren Lenkung gegen ihre eigenen Interessen oder die Manipulation durch Mainstreammedien als Krieg nach innen zu bezeichnen und die Feindbild-Kreationen samt militärischen Interventionen als Krieg nach außen? Ist das kein Krieg?

Ausgangspunkt unserer Kongresse waren auch in früheren Jahren immer gesellschaftliche Problemlagen - siehe "Migration und Rassismus", "Gesellschaftliche Spaltungen" und andere. Auch in diesem Jahr beschreibt der Titel eine Problemlage. Im Untertitel rücken wir die Verantwortung der Intellektuellen in den Fokus, besonders derjenigen, die in den Medien arbeiten. Aber wir nehmen uns als Psychologen und Psychotherapeuten nicht aus, obwohl unsere Wirkung verglichen mit der Manipulation einer ganzen Bevölkerung gering ist.

SB: Ihre Kritik geht in viele Richtungen, ein Rundumschlag, der tatsächlich auch um die Psychologie keinen Bogen macht. Was werfen Sie Ihrer Disziplin vor?

KJB: In der Psychologie ebenso wie in der Soziologie und Politikwissenschaft, in der Geschichtswissenschaft usw. kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als wollten die Vertreter dieser Disziplinen lieber die Politiker beraten, wie sie die Bevölkerung bei der Stange halten können, statt die Anliegen und Forderungen der Bevölkerung an die Regierung mit ihrer wissenschaftlichen Expertise zu unterstützen. Die Seite der Bevölkerung zu vertreten, entspräche unseren - "ewig gestrigen"? - Vorstellungen von Demokratie sicher besser, wäre aber ohne eine Kritik der herrschenden Verhältnisse als den menschlichen Möglichkeiten zutiefst widersprechend nicht zu machen.

SB: Sie üben Kritik an den Linken, die Ihres Erachtens die Rolle der Psychologie unterschätzen. Und Sie haben an anderer Stelle formuliert: "Es ist die Psychologie, mit der die Kapitalisten gesiegt haben." Geht es also nicht um Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, die in der Vergangenheit die Ablösung einer Gesellschaftsordnung durch eine andere erforderlich gemacht haben? Werfen Sie Karl Marx und die Politische Ökonomie damit über den Haufen?

KJB: Tatsächlich unterschätzen meines Erachtens die meisten Marxisten die Rolle der Psychologie, die Bedeutung der Erzählungen, des Diskurses. Die Diskurse und die darin transportierten Erzählungen sind es, die den Kapitalismus aufrechterhalten. Und das, obwohl die Krisen des Systems längst auf einen Systemfehler hinweisen, wie Vladimiro Giaché schreibt. Dafür sprechen nicht nur die Unfähigkeit, den Klimawandel aufzuhalten, die Ausplünderung armer Länder, Terrorismus und die Formen "sauberer Gewalt", wie wirtschaftlicher Verdrängungswettbewerb, Massenentlassungen für kurzfristige Börsengewinne, ausgefeilte Überwachungsmethoden und vieles mehr.

SB: Was soll/kann Psychologie dagegen ausrichten?

KJB: Wir müssen die "geheimen Verführer" besiegen und das können wir weder durch Ignoranz noch durch eigene Verführungskünste in Gestalt von linkem Populismus.

SB: Ich nehme an, Sie beziehen sich da auf den Dramaturgen Bernd Stegemann und sein Buch "Die Moralfalle"?

KJB: Er sieht im sogenannten Populismus weniger eine Gefahr für die Demokratie als vielmehr ein Symptom dafür, was in ihr falsch läuft. Er legt mit seiner Analyse der "Dramaturgie des politischen Sprechens" die Vermutung nahe, dass die - wie er schreibt - "eingespielten Regeln des politischen Sprechens über Alternativlosigkeiten" eine große Abwehr provoziert haben und den Populismus als einen "Versuch der Mitsprache" derjenigen erkennen lassen, "die sonst über keine Stimme verfügen". Daraus ergebe sich die Notwendigkeit für die Linke, sich selbst "populistischer Rede" zu bedienen.

Die Fiktion der Möglichkeit eines linken Populismus verleugnet dessen Klasseninteresse - auch wenn Stegemann den gegenteiligen Eindruck erweckt: in seinem letzten Buch »Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik« kritisiert er am Beispiel der Debatte über Einwanderung, Asyl und Migration die Forderung nach offenen Grenzen. Sie blende die sozialen Folgen aus: die Verschärfung des Kampfes um Arbeitsplätze und bezahlbare Wohnungen, vertrete also die Interessen des Kapitals.

SB: Sie wollen sagen, er und andere Fürsprecher eines linken Populismus unterstützten damit die Parolen der Rechten für die Verschärfung der Asyl- und Migrationspolitik?

KJB: Die "Dramaturgie des politischen Sprechens" ist nicht vom Klasseninteresse der Sprecher zu trennen. Wenn ich das trotzdem versuche und die Sprache des politischen Gegners übernehme, transportiere ich damit zugleich dessen Inhalte.

Diese Trennung von Form und Inhalt finden wir auch in der sich kritisch verstehenden psychologischen "Politikberatung". Dort dient sie zur Verkehrung von Ursache und Wirkung: die Antwort der Subjekte auf die ihnen vorliegenden gesellschaftlichen Bedingungen wird zur Ursache derselben verkehrt (verdreht), "vergessend", dass die Menschen zwar ihre eigene Geschichte schreiben, jedoch - laut Marx - "nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen" machen. Diese Umstände gälte es zur Kenntnis zu nehmen, und zwar nicht als unveränderbare, sondern als zu verändernde, solange der Mensch in ihnen "ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist".

SB: Sie fordern, die Psychologie müsse die geheimen Verführer besiegen. Wie soll das aussehen?

KJB: Verführung ist immer begleitet von Zwang, bzw. geht Zwang der Verführung voraus, er existiert immer im Hintergrund. Am Beispiel des ersten Weltkriegs schildert der Psychologe Alfred Adler diese Vorbereitung sehr plastisch: Das Volk wurde nicht nur brutal gezwungen, sondern bereits lange vorher auch erniedrigt, "verhetzt, versklavt". Es war bereits Jahre zuvor die stetige, umfassende "Dressur des Volkes", die es zur Selbstunsicherheit und zum Gehorsam gegen die Oberen erzog (Adler 1919a, S. 121). Dieses Hintergrundgeschehen gilt es auch heute zu entlarven, z.B. wenn es um das Feindbild Russland geht.

SB: Teilen Sie die von Noam Chomsky in seinem Buch "Media Control" geäußerte Auffassung, wonach die Medien einerseits Propagandainstrument der Außenpolitik sind, andererseits der Herstellung von Konsens dienen, Nachrichten unterdrücken, die die Bevölkerung verunsichern könnten, andere abmildern, damit an der politischen Führung kein Zweifel aufkommt?

KJB: Das tue ich. Diskurse können als Ensembles definiert werden, ?die festlegen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt von und/oder für eine(r) bestimmte(n) Gruppe über einen Gegenstand gesagt werden kann (s. Foucault, 1970/1977). Dadurch üben sie bereits Macht aus. Der Diskurs der Macht ist aber darüber hinaus Medium nicht nur zwischen den vergesellschafteten Individuen, sondern zwischen den 99% der Bevölkerung und dem herrschenden Rest. "Dank der Vermittlung der Medien" werden die unterschiedlichen Diskurse der politischen Klasse, der massenmedialen Kultur, und der akademischen Kultur miteinander verschmolzen". "Sie kommunizieren und zielen in jedem Augenblick auf den Punkt der größten Kraft hin, um die politisch-ökonomische Hegemonie und den Imperialismus zu sichern" (Derrida, 1993/95, S. 91).

Dieselben Medien bieten sich als Vermittler aller Informationen an, die wir brauchen, um uns im Alltag zu orientieren: Sie geben uns Ratschläge über das "richtige" Verhalten, Denken, Anleitungen für die Wahrnehmung unserer Umwelt und unserer Stellung in ihr. Die in jedem Diskurs, ja bereits im Gespräch zwischen zweien mögliche Differenz steigert sich im Diskurs der Macht zum Gegensatz, zur Verkehrung ins Gegenteil: Verkehrung von Krieg und Frieden, Verkehrung von Ursache und Wirkung, Aktion und Reaktion. Beispiele: bereits die Begriffe, Bezeichnungen "Sicherheits-Konferenz", "Verteidigungs-Ministerium", "Innere Sicherheit", Verantwortung für "Deutschland" usw.

Die Sprachregelungen, Bewertungen, Ratschläge, Behauptungen, Parolen dieses Diskurses (der Macht) entfalten ihre normative Wirkung, indem das Individuum sie übernimmt, sie weiterträgt in den Alltag seines Lebensraumes. Sie diffundieren in die Kommunikation der vergesellschafteten Individuen: In unseren Gesprächen mit den unterschiedlichen Gesprächs-Partnern geht es um die Vergewisserung der eigenen Position innerhalb des Diskurses der Macht, unserer "korrekten" Haltung zu dessen Parolen.

Indem wir uns an diesem Diskurs beteiligen, in ihn eintreten, tragen wir zu seiner Aufrechterhaltung bei. Der Diskurs der Macht ist eine, wenn nicht die wichtigste, Bedingung für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der psychologischen Mechanismen der Herrschaftsstabilisierung von Seiten der Beherrschten ("kulturelle Hegemonie") - der unsichtbare immaterielle Link zwischen dem Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse und den vergesellschafteten Individuen.

SB: Das klingt für mich, als wären wir, die Individuen, dem Diskurs der Macht und damit ihrer Manipulation und Ruhigstellung ausgeliefert.

KJB: Das sind wir nicht. Das Individuum nimmt vielmehr einen (seinen) Platz im Diskurs ein, ergreift die Parolen, versucht sie zu seinen eigenen zu machen bzw. (dann) als eigene auszugeben - oder widerspricht, verweigert sich diesen. Jeder Diskurs lässt immer auch die Möglichkeit zu, gegen die Regeln zu verstoßen, ihm nicht zu folgen. (s. Lyotard (1983/1987, S. 46).

Die Perspektive der Großen Weigerung (Marcuse 1968, S. 69 ff.) wird hier sichtbar: als Weigerung, die Regeln des Diskurses der Macht zu befolgen. Allerdings hat die Weigerung Konsequenzen, wie wir an der Geschichte - angefangen vom "Radikalen"-Erlass und Berufsverboten, der Suspendierung demokratischer Rechte (Demonstrationsrecht, "Vermummungsverbot") seit den 68er Jahren über die gleichzeitige Militarisierung der Polizei; den Krieg gegen den Terror bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Demonstrationen der Staatsgewalt bei G7 oder G20 - sehen können. Immer wird die Weigerung, die Regeln des Diskurses der Macht zu befolgen, staatlicherseits mit Gewalt beantwortet. In dem Dilemma, dass Verweigerung nicht ohne Konsequenzen zu haben ist, bietet sich die Möglichkeit der Verleugnung an. Menschen können sagen, es gebe keine Chance für Weigerung oder Ungehorsam, keine Möglichkeit, gegen die Regeln zu verstoßen. Sie versuchen so, ihre Anpassung zu rechtfertigen. Sie nehmen Anerkennung dankend entgegen ebenso wie den Dienstwagen, die Beförderung in eine höhere Gehaltsklasse und die Erhöhung der Boni, oder was es so an Handsalben gibt.

SB: Werfen Sie der Psychologie oder den Psychologen in diesem Zusammenhang vor, nicht als Katalysator berechtigter Wut zu funktionieren?

KJB: Gegen die Verleugnung hilft nur der Erfolg bei der Überwindung der Verleugnung. Jede erfolgreiche Aktion der Befreiung wirkt ansteckend auf die bis dahin abseits Stehenden (Verleugner). Dagegen arbeiten die heimlichen Verführer auf allen Kanälen des Diskurses der Macht, um die Erfolglosigkeit von Widerstand und Protest, Empörung und Solidarität vorzuführen.

Solange Politische Psychologie nicht die Kritik dieser Verhältnisse ins Zentrum ihrer Arbeit stellt, nimmt sie Partei für deren Fortbestehen. Darin ist sie politisch. Und auch darin, dass sie diese Parteinahme verleugnet. Sie tut so, als erforsche sie das allgemein Gültige des politischen Verhaltens, Denkens, Bewusstsein, Fühlens usw.. Die Psychologie insgesamt behauptet zwar nicht (nicht mehr) die vollkommene Kulturunabhängigkeit des Denkens und Verhaltens aber: das Vorgefundene als das "gemeine Elend" zu bezeichnen, ist eine große Ausnahme (die auch bei Freud keine weiteren Konsequenzen hat als die des therapeutischen Skeptizismus). Sie ist eine konsequent "bürgerliche" Wissenschaft, (um nicht zu sagen Herrendisziplin - wie Reiten vielleicht) - angesiedelt im "Rayon der privilegierten Entfremdung" (Brückner 1972). Dazu gehört, die Entfremdung nicht als solche zu reflektieren

Die Kritik dieser Verhältnisse macht selbige dafür verantwortlich, dass die Menschen sich nicht als Menschen entfalten und verwirklichen können. Diese Kritik wäre unvollständig, wenn sie nicht zugleich auch diejenigen benennte und damit zur Verantwortung zöge, die diese Verhältnisse mit allen Mitteln aufrecht zu erhalten suchen. Das wäre: Kritik der Politischen Psychologie.


12. Februar 2019


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