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GESELLSCHAFT/222: Geschlecht - die überschätzte Dimension sozialer Ungleichheit (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 129/September 2010
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Geschlecht - die überschätzte Dimension sozialer Ungleichheit
Zentrale Herausforderungen liegen anderswo

Von Jens Alber


Die Industriegesellschaft war eine patriarchalisch geprägte Männergesellschaft, die Frauen den Zugang zu privilegierten Positionen versperrte. Post-industrielle Dienstleistungsgesellschaften werden hingegen zunehmend zu Frauengesellschaften, in denen geschlechtsspezifische Unterschiede an Bedeutung verlieren. Seit den 1960er Jahren haben sich die Geschlechterverhältnisse stärker verändert als in den 100 Jahren zuvor. Diese stille Revolution findet in aktuellen Gleichheitsdiskursen zu wenig Berücksichtigung. Ungleichheitsforscher und Gleichstellungsbeauftragte sollten ihr Augenmerk stärker auf die zentralen Herausforderungen unserer Tage richten: das Fortdauern von Klassenunterschieden sowie die prekäre Integration von Migrantenkindern im Bildungswesen.


Soziale Ungleichheit hat viele Facetten. Lange Zeit hat die Sozialforschung vorzugsweise die Ungleichheit zwischen Klassen, zuweilen auch die zwischen Ethnien oder Religionsgruppen in den Blick genommen, die Ungleichheit zwischen Geschlechtern oder Generationen aber vernachlässigt. Das hat sich seit einiger Zeit deutlich geändert. Insbesondere die Ungleichheit zwischen Geschlechtern ist zum Thema spezialisierter Lehrstühle und Fachzeitschriften sowie unzähliger Konferenzen geworden, und in der Presse vergeht kaum eine Woche, ohne dass die ungleiche Bezahlung oder unterschiedliche Repräsentation von Männern und Frauen in diversen Spitzenpositionen in den Schlagzeilen stünde. Zur erhöhten Aufmerksamkeit für Geschlechterungleichheit trägt in Deutschland auch die Tatsache bei, dass das Bundesgleichstellungsgesetz ausschließlich diese Form der Ungleichheit zum Angelpunkt staatlicher Egalisierungsbestrebungen erklärt.

Bei genauerer Betrachtung manifestiert sich eine bemerkenswerte Kluft zwischen der Bedeutung einer Dimension sozialer Ungleichheit in der gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihrer Thematisierung in öffentlichen Diskursen. Überspitzt formuliert, war die Industriegesellschaft eine von Patriarchat und Frauenbenachteiligung gekennzeichnete Männergesellschaft, während die moderne Dienstleistungsgesellschaft immer mehr zur Frauengesellschaft wird, in der sich Unterschiede zwischen den Geschlechtern abschleifen. Dennoch richtete sich die Aufmerksamkeit der Sozialforscher bis in die 1970er Jahre fast ausschließlich auf den Klassenkonflikt, während die seither immer geringer werdenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern verstärkte Beachtung der Politiker und Sozialforscher fanden, weil die Sensibilität für verbleibende Ungleichheiten gewachsen ist. Die stille Revolution der Geschlechterverhältnisse, die sich in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat, droht dabei aus dem Blickfeld zu geraten. Ich will einige Facetten dieser verkannten Revolution im Folgenden kurz beleuchten.

Radikal gewandelt hat sich zunächst einmal die demographische Situation der Frauen. Befreit von der permanenten Fesselung an das Kindbett und vom Kindbettfieber, hat sich die Lebenserwartung der Frauen beträchtlich erhöht, wobei ihre Zugewinne deutlich höher ausfielen als die der Männer. Die Lebenserwartung der Frauen lag um 1901/10 bei 48,3 Jahren im Vergleich zu 44,8 der Männer, heute beträgt der weibliche Vorsprung 82,4 gegenüber 77,1 Jahren. Die Müttersterblichkeit hat sich zwischen 1892 und 1950 in etwa halbiert (von 409 auf 201 Todesfälle pro 100.000 Lebendgeborene), ist seit 1960 aber um den Faktor 19 auf 5,6 im Jahr 2000 geschrumpft. Die Fruchtbarkeit hat sich zwischen 1900 und 1930 halbiert, verharrte dann bis in die 1950er Jahre auf ähnlichem Niveau, stieg zwischen 1950 und 1965 wieder an und ging danach deutlich zurück, so dass heute nur noch 1,37 Kinder pro Frau geboren werden.

Mit der Befreiung vom Kindbett verbanden sich für Frauen wachsende Chancen in Bildung und Beruf, aber bis in die 1960er Jahre blieben die Institutionen sperrig, wenn es darum ging, ihnen ihre Türen zu öffnen. Ein kurzer Rückblick auf die Situation der 1960er Jahre macht das deutlich. Im Bildungswesen waren im westeuropäischen Durchschnitt aus zehn EU-Ländern 1965 gut ein Drittel (35 Prozent) der Studierenden Frauen, in Deutschland war es nur rund ein Viertel (27 Prozent). Bei deutschen Promotionen beschränkte sich der Frauenanteil auf 15 Prozent. Zwar stand knapp die Hälfte (48 Prozent) der deutschen Frauen im Beruf, aber nur 15 Prozent der Ärzte und nicht ganz 3 Prozent der Richter und Staatsanwälte waren weiblich. Im Bundestag lag der Frauenanteil mit 6,9 Prozent niedriger als im Reichstag zu Beginn der Weimarer Republik (8,7 Prozent im Jahr 1920).

Ganz ähnlich war die Situation in den 1960er Jahren auch in den USA. Dort hatten sich die Universitäten zwar schon ausgangs des 19. Jahrhunderts den Frauen sehr viel weiter geöffnet als in Europa, aber auch dort waren 1960 ähnlich wie um 1900 nur 36 Prozent der Studierenden weiblich. Der Frauenanteil bei Promotionen betrug 11 Prozent, bei Ärzten lag er mit 6 Prozent sowie bei Richtern und Anwälten mit 3 Prozent genauso niedrig wie in Deutschland.

Seither hat sich die Situation nicht nur in den USA dramatisch gewandelt. Frauen stellen dort heute das Gros aller Studierenden (57 Prozent im Jahr 2006), rund die Hälfte (48 Prozent) aller frisch Promovierten sowie der Law-School-Absolventen, 45 Prozent des wissenschaftlichen Personals an Hochschulen, ein Drittel (34 Prozent) aller Richter und Anwälte sowie 31 Prozent der Ärzte. Auch in Westeuropa ist die Mehrzahl der Studierenden inzwischen weiblich. In Deutschland beträgt der Anteil der Frauen unter den Ärzten inzwischen 40 Prozent, bei Richtern und Staatsanwälten ebenso wie beim wissenschaftlichen Personal der Hochschulen 30 Prozent. Damit entspricht der Frauenanteil noch nicht in allen privilegierten Bereichen der Dienstleistungsgesellschaft dem Anteil von Frauen in der Gesellschaft, aber zweifellos ist nach sehr langer Stagnation seit den 1960er Jahren ein tiefgehender Wandel im Gang, dessen Tempo und Tiefgang sich erst in historischer Perspektive voll erschließt.

Kaum etwas illustriert die Radikalität dieses Wandels deutlicher als der Anteil der Frauen in nationalen Parlamenten. Nachdem die Frauen in den meisten Ländern erst nach dem Ersten Weltkrieg das Wahlrecht erlangt hatten, blieb ihr Anteil in nationalen Parlamenten in Deutschland wie in Europa und den USA bis zum Beginn der 1970er Jahre weit unter 10 Prozent. Erst seither erobern sich Frauen zunehmend Parlamentssitze, kommen allerdings nur in Finnland und Schweden schon über die 40-Prozent-Marke und bleiben insbesondere im amerikanischen Kongress noch deutlich hinter den Anteilen zurück, die sie im Bildungswesen und bei den Professionen oder in Europa erreicht haben. Selbst in den USA ist das Muster einer über lange Dekaden anhaltenden Stagnation in jüngster Zeit aber gebrochen.

Kurzum: In den Gesellschaften des Westens hat sich die Situation der Geschlechter in den letzten 30 Jahren in mancherlei Hinsicht stärker verändert als in den 100 Jahren zuvor. Bis in die 1960er Jahre waren die Gesellschaften Westeuropas ganz dominant Männergesellschaften, seither haben sich die Unterschiede zwischen den Geschlechtern aber abgeschliffen, ohne schon vollständig eingeebnet zu sein. Zu klären bleiben damit zwei Fragen: Welchen Maßstab sollten wir anlegen, um zu klären, welcher Frauenanteil als verzerrende Unterrepräsentation bzw. sogar als Resultat von Diskriminierung zu gelten hat? Wie stark unterscheidet sich die in vielen Bereichen zweifellos noch immer bestehende Ungleichheit zwischen den Geschlechtern - die sich heute insbesondere in der überproportionalen Armutsquote allein erziehender Mütter manifestiert - von anderen Formen sozialer Ungleichheit? Welche Formen sozialer Ungleichheit haben also besondere Prägekraft, wenn es um die Lebenschancen der Menschen oder den Integrationsgrad unserer Gesellschaften geht?

Die Antwort auf die Frage nach Unterrepräsentation oder Diskriminierung scheint in vielen Diskursen über Geschlechterungleichheit vorgegeben. Wir neigen alle wie selbstverständlich zu der Annahme, der Frauenanteil in diversen Bereichen solle in etwa ihrem Bevölkerungsanteil von 50 Prozent entsprechen. Ist das nicht der Fall, so ist die Abweichung - anders als bei anderen Formen der Ungleichheit - gut sichtbar, und wir vermuten rasch Diskriminierung. Das gilt aber nur dann, wenn wir unterstellen dürfen, dass die Präferenzen für die im Leben zu treffenden Wahlen zwischen Männern und Frauen gleich verteilt sind. Die empirische Sozialforschung meldet hier durchaus Zweifel an. Der 7. Familienbericht der Bundesregierung verweist auf die Forschungsarbeiten der Britin Catherine Hakim, die gezeigt hat, dass Männer häufiger als Frauen ihren Lebenssinn ausschließlich über den Beruf definieren und auch sehr viel seltener als Frauen eine Teilzeitbeschäftigung anstreben. Der European Working Conditions Survey von 2000 ergab zum Beispiel, dass nur 25 Prozent aller Männer, aber 55 Prozent aller Frauen eine wöchentliche Arbeitszeit von weniger als 35 Stunden präferieren. Man sieht also nicht jeder Ungleichverteilung an sich schon an, in welchem Maße sie auf Diskriminierung oder auf ungleiche freie Entscheidungen zurückgeht.

Zur zweiten Frage, der Frage nach der Prägekraft verschiedener Formen sozialer Ungleichheit, sind historische Untersuchungen leider immer noch spärlich gesät, aber einige Aufschlüsse sind auch zeitgenössischen Erhebungen zu entnehmen. Einen ersten nützlichen Hinweis bieten hier die Daten der PISA-Studien, die zeigen, wie stark das intellektuelle Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler von diversen sozialen Hintergrundfaktoren geprägt wird. Die PISA-Forscher vergleichen den Einfluss des Geschlechts mit dem Einfluss des elterlichen Berufs, der sozio-ökonomischen Schicht und der im Elternhaus gesprochenen Sprache. Das Muster ist für Deutschland, Europa und die USA sehr ähnlich (Grafik 2). Nahe Null bzw. vergleichsweise gering sind die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen, groß hingegen sind die Differenzen zwischen Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft. Bemerkenswert ist überdies zweierlei: Deutschland zählt zu den Ländern, wo Unterschiede der Herkunft besonders stark in unterschiedlichen Schülerleistungen zu Buche schlagen, und Unterschiede zwischen einheimischen und zugewanderten Kindern sind in den USA deutlich geringer als in Europa.

Ein zweiter Hinweis auf die relative Bedeutung verschiedener Formen sozialer Ungleichheit ergibt sich, wenn man die Europäer fragt, wie stark sie die Spannung zwischen verschiedenen sozialen Gruppen einschätzen (Grafik 3). Nur wenige erachten die sogenannten neuen Spannungslinien zwischen den Geschlechtern oder den Generationen als stark, wohingegen die vermeintlich alten Klassenkonflikte zwischen Armen und Reichen bzw. Arbeitern und Managern, aber auch Spannungen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen und Religionsgruppen insbesondere in Westeuropa als besonders prägend wahrgenommen werden. Anders als manche Politiker und Sozialwissenschaftler scheinen die europäischen Bürger damit durchaus begriffen zu haben, dass Geschlecht aktuell nicht zu den Dimensionen sozialer Ungleichheit zählt, die im Vordergrund stehen, wenn es um Fragen sozialer Integration geht, und dass Klassendifferenzen weniger obsolet sind, als oft unterstellt wird. Bemerkenswert ist überdies, dass Spannungen zwischen Einheimischen und Zuwanderern in Westeuropa inzwischen die dominant wahrgenommene Konfliktlinie sind.

Der letzte Befund ist auch von politischer Relevanz. Wer sich in den 1960er Jahren feministischen Vorstellungen verschloss, konnte sich wohl kaum glaubhaft als Universalist darstellen, der sich der Nicht-Diskriminierung verpflichtet sah. Heute hingegen kann man die Unterschiede zwischen den Geschlechtern nur dann für die zentrale Achse sozialer Ungleichheit halten, wenn man die soziale Wirklichkeit verkennt oder aber politische Interessen verfolgt. Es ist an der Zeit, dass wir unser Bewusstsein verstärkt an der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausrichten und erkennen, dass unterschiedliche Lebenschancen noch immer in bemerkenswertem Maße von der Klassenlage, daneben aber zunehmend vom Einwanderungsstatus geprägt werden und dass hier die zentralen Herausforderungen für die soziale Integration zeitgenössischer Gesellschaften liegen. Europäische Gesellschaften haben ein auffallendes Defizit bei der Hebung des Humankapitals von Migrantenkindern bzw. bei der Förderung der Fähigkeiten und Lebenschancen dieser Kinder. Es ist deshalb an der Zeit, dass Gleichstellungsgesetze und die für ihre Umsetzung zuständigen Gleichstellungsbeauftragten ihr Augenmerk vom höchst sichtbaren, aber zunehmend entschärften Aspekt der Geschlechterungleichheit auf die Integration von Kindern aus Unterschichten und Migrantenfamilien verlagern. Das eine muss dabei nicht unbedingt zu Lasten des anderen gehen. Wer durch den Ausbau vorschulischer Erziehungseinrichtungen sowie von Ganztagsschulen mehr für die Integration von Migrantenkindern tut, wird damit auch dem wachsenden Interesse von Müttern und Vätern an einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf gerecht.


Jens Alber ist Direktor der Abteilung Ungleichheit und soziale Integration und Professor für Soziologie an der FU Berlin. In seiner Forschung widmet er sich aktuell vor allem der Frage nach den Merkmalen des "europäischen Sozialmodells" und nach den sozialstrukturellen und gesellschaftspolitischen Unterschieden zwischen Europa und den USA.
jalber@wzb.eu


Literatur

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hg.): 7. Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit - Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik. Berlin: BMFSFJ 2006.

European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions: Second Wave of the European Quality of Life Survey 2007. Dublin: European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions 2008. Internet:
http:// www.eurofound.europa.eu/areas/qualityoflife/eqls/2007/index.htm (7.1.2010)

Fagan, Colette: Working-time Preferences and Work-life Balance in the EU: Some Policy Considerations for Enhancing the Quality of Life. Dublin: European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions 2003.

Flora, Peter: State, Economy, and Society in Western Europe 1815-1975. A Data Handbook. 2 Vols. Frankfurt a.M.: Campus 1983.

United Nations Development Programme (UNDP): Human Development Report 2009. Overcoming Barriers: Human Mobility and Development. New York: Palgrave Macmillan 2009.


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GESELLSCHAFT/224: Geschlecht bleibt eine wichtige Dimension sozialer Ungleichheit (WZB)


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 129, September 2010, Seite 7-11
Herausgeber:
Der Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Oktober 2010