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GESELLSCHAFT/224: Geschlecht bleibt eine wichtige Dimension sozialer Ungleichheit (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 129/September 2010
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Geschlecht bleibt eine wichtige Dimension sozialer Ungleichheit

Eine Replik auf Jens Alber (*)

Von Jutta Allmendinger


Trotz mancher Fortschritte gibt es weiterhin eine Kluft zwischen den Geschlechtern, wenn es um Lebenschancen und -verläufe geht. Frauen-Erwerbsquoten haben sich verbessert, doch gewaltige geschlechtsspezifische Unterschiede sind geblieben: In ein und demselben Beruf stehen Frauen in der Hierarchie oft unterhalb der Männer, sie unterbrechen häufiger und länger ihre Erwerbstätigkeit, arbeiten öfter Teilzeit als männliche Kollegen. Von freier Entscheidung der Frauen kann keine Rede sein, denn noch lassen die Strukturen ihnen keine echte Wahl - Vollzeitberufstätigkeit und Kinder sind für Frauen beispielsweise meist ein Entweder-Oder.


Lieber Jens,

bei jedem Deiner Sätze wird deutlich: Wir kommen aus derselben sozialwissenschaftlichen Schule. Du hast empirische Sozialstrukturanalyse in Konstanz erlernt, ich in Mannheim. Das erleichtert das Gespräch, ermöglicht eine Klärung der Zusammenhänge und unserer unterschiedlichen Perspektiven.

Wenn Du feststellst, dass sich die Lebensverläufe von Männern und Frauen über die letzten Jahrzehnte angenähert haben, stimme ich Dir voll zu. Als ich 1975 Abitur machte, legten um die 10 Prozent der Frauen eines Jahrgangs das Abitur ab. Zwanzig Jahre später waren es bereits um die 26 Prozent. Schon damals hatten Frauen die Männer überholt: 5 Prozentpunkte mehr Frauen als Männer machten Abitur. Heute sind es 32 Prozent Frauen und 24 Prozent Männer eines Jahrgangs. Ich traf damals auf einen Arbeitsmarkt, in dem das produzierende Gewerbe und die Dienstleistungen etwa gleich stark waren, heute entfallen nur noch 28 Prozent der Wirtschaftstätigkeit auf das produzierende Gewerbe und 70 Prozent auf Dienstleistungen. Und ein Letztes: In den 1980er Jahren betrug die Frauenerwerbsquote 46 Prozent, die der Männer 88 Prozent, heute liegt das Verhältnis bei 70 zu 80. Im Verlauf von nur zwei Generationen hat sich also die Sozialstruktur massiv verändert.

Nur zögernd würde ich die Angleichung allerdings mit dem Parlamentarierinnen-Beispiel illustrieren wollen. Viele Parteien quotieren nach Geschlecht. Das ist die Ausnahme: Die Repräsentanz von Frauen in politischen Parteien folgt anderen Gesetzmäßigkeiten als jenen, die in der Wirtschaft oder der Wissenschaft gelten. Nachdrücklich warnen würde ich davor, die Entwicklungen in Bildung und Beschäftigung als Beleg für Positionsgewinne auf dem Arbeitsmarkt zu werten. Der Frauenanteil in Führungspositionen ist robust niedrig - über die letzten zwei Jahrzehnte hinweg kann man sogar von Stillstand sprechen. Nicht umsonst forderte gerade die Justizminister-Konferenz der 16 deutschen Bundesländer die Frauenquote.

Die zu Recht von Dir aufgezeigten Veränderungen über die Generationen hinweg sagen nur wenig über das aus, was heute im Mittelpunkt der Gleichstellungsdebatten steht: die immer noch bestehende Ungleichheit in den Lebenschancen und -verläufen von Männern und Frauen. Genau hierauf würde ich viel nachdrücklicher hinweisen - und das unterscheidet uns wesentlich.

Der Vergleich fällt düster aus. Hinter der beachtlichen Annäherung der Erwerbsquoten von Frauen und Männern verbergen sich noch gewaltige Unterschiede. Vier Bereiche stechen besonders hervor: Frauen und Männer üben verschiedene Berufe aus (horizontale Segregation), sie arbeiten auf unterschiedlichen Positionen in diesen Berufen (vertikale Segregation), beim jeweiligen durchschnittlichen Arbeitsvolumen gibt es eine große Kluft, und Männer und Frauen sind über den Lebensverlauf hinweg unterschiedlich lang erwerbstätig (gender time gap). Dieses geschlechtstypische Bild der Erwerbsarbeit führt zu großen Differenzen zwischen Männern und Frauen beim Jahreseinkommen, beim Stundenlohn für vergleichbare Arbeit (gender wage gap) und bei der Rente aus eigener Erwerbsarbeit.

Die horizontale Segregation lässt sich mit wenigen Daten des Statistischen Bundesamts darstellen. Die Hälfte aller erwerbstätigen Frauen arbeitet in nur 5 von 87 Berufsgruppen: 20 Prozent der Frauen in Büroberufen, 10 Prozent in Gesundheitsdienstberufen, 8 Prozent als Verkaufspersonal, 7 Prozent in sozialen Berufen und 6 Prozent in Reinigungs- und Entsorgungsberufen. Von den erwerbstätigen Männern ist nur knapp ein Viertel in den fünf am stärksten besetzten Berufsgruppen beschäftigt: 6 Prozent in Büroberufen, 5 Prozent in der Unternehmensleitung und -beratung, 5 Prozent in den Berufen des Landverkehrs, 4 Prozent sind Ingenieure und ebenso viele Techniker. Die erwerbstätigen Männer verteilen sich also auf wesentlich mehr Berufsgruppen.

Die vertikale Segregation nun hat die Justizministerinnen und Justizminister der Länder veranlasst, eine Frauenquote in Führungspositionen zu fordern. Betrachtet man in Deutschland Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten, sind nur 6 Prozent der Führungspositionen mit Frauen besetzt, in mittelständischen Betrieben sind es 20 Prozent. Auch im öffentlichen Dienst finden sich weit weniger Frauen in Führungspositionen, als es ihrem Beschäftigtenanteil entsprechen würde.

Der gender time gap, die Arbeitszeitlücke, wird anhand der durchschnittlich geleisteten Arbeitszeit von Frauen und Männern gemessen. Zunächst entnehmen wir den Daten, dass die Erwerbsquote von Frauen ausschließlich wegen zunehmender Teilzeittätigkeit gestiegen ist. Diese hat sich von 12 Prozent im Jahr 1985 auf 30 Prozent im Jahr 2007 erhöht. Dabei ist der Anstieg von Arbeitszeiten, die unter 15 Stunden pro Woche liegen, auffallend stark: von 2,4 auf 8,7 Prozent. Bei Männern gab es einen Anstieg von 0,6 auf 2,5 Prozent. Die Vollzeitbeschäftigung ist im genannten Zeitraum dagegen von 30 Prozent auf 28 Prozent gesunken. Auch das sogenannte Normalarbeitsverhältnis - die unbefristete Vollzeitbeschäftigung als Angestellte und Arbeiterin - verringerte sich von 24 auf 21 Prozent.

Betrachten wir die Entwicklung bei Männern: Hier hat sich die Teilzeitbeschäftigung von 1 Prozent im Jahr 1985 auf 9 Prozent im Jahr 2007 erhöht. Allerdings nimmt hauptsächlich die Teilzeit von 15 oder mehr Stunden pro Woche zu. Die Vollzeitbeschäftigung von Männern ist von 67 Prozent im Jahr 1985 auf 55 Prozent im Jahr 2007 gefallen. Die Normalarbeitsverhältnisse gingen in diesen Jahren von 51 Prozent auf 41 Prozent zurück. Wir sehen also einen ähnlichen Trend bei Männern und Frauen, eine gewisse Annäherung. Dabei müssen wir uns jedoch vergegenwärtigen, dass weiterhin enorme Unterschiede in der Beschäftigungssituation bestehen. Männer arbeiten immer noch doppelt so häufig in Vollzeit wie Frauen.

Hinzu kommen deutliche Unterschiede bei der Lebensarbeitszeit. Noch immer unterbrechen Frauen ihre Erwerbstätigkeit lange, um ihre Kinder zu erziehen oder ihre Eltern zu pflegen. Männer nehmen nur selten - und wenn, dann nur kurze - Erziehungs- und Pflegezeiten. Nach den Ergebnissen des Mikrozensus 2005 sind 28 Prozent der Frauen im Alter von 25 bis 59 Jahren nicht erwerbstätig, von den Männern dieser Altersgruppe sind dies nur 18 Prozent. Infolgedessen ist auch der family wage gap - der Lohnunterschied zwischen Familien mit Kindern und kinderlosen Paaren - groß. All diese Unterschiede sind gravierender als in vielen anderen europäischen Ländern und den USA. Dort liegen die Einkommen von Paaren mit und ohne Kinder vor allem deshalb auf einem vergleichbaren Niveau, weil beide Elternteile in Vollzeit arbeiten.

Die Folgen dieses Geflechts aus frauentypischen Berufen, niedrigen Arbeitszeiten, geringen Einkommen und langen Unterbrechungen spüren die Frauen alle. Sie haben wenig eigenes Geld zum Leben, sind abhängig vom Unterhalt des Partners oder von Transferleistungen des Staates. Auf eigenen Beinen stehen? Das ist nicht. Betrachtet man die Altersrente als Lohn für die gesamte Lebensleistung - und dies tun die meisten Politiker noch heute -, so ist selbst bei den jüngsten Rentenzugängen in Westdeutschland die von Männern abgeleitete Rente höher als die eigene Altersrente der Frauen. In anderen Worten: Der Heiratsmarkt zahlt besser als der Arbeitsmarkt und dies, obgleich die Rechtsprechung seit längerem Frauen eindeutig auf den Arbeitsmarkt verweist.

Lieber Jens, ich denke, wir brauchen auch den Blick auf diese Aspekte, um die langfristigen Entwicklungslinien, die Du beschreibst, korrekt bewerten zu können. Sicher, der zeitliche Verlauf belegt, wie weit wir gekommen sind. Aber die verbleibenden Unterschiede sind groß und lassen erkennen, was noch zu tun ist. Dies bringt mich zu Deiner ersten Frage: Welcher Frauenanteil hat denn als verzerrende Unterrepräsentation oder als Ergebnis von Diskriminierung zu gelten? Wann also stehen Ungleichheiten auch für Ungerechtigkeiten? Du beantwortest diese Frage mit einem Hinweis auf die Arbeitszeit, folgst Catherine Hakim, sprichst von weiblichen Präferenzstrukturen und nimmst als gegeben an, dass die großen Unterschiede zwischen Männern und Frauen (auch) auf ungleiche freie Entscheidungen zurückgehen. Dieser Argumentation kann ich nicht folgen.

Entscheidungen können wir nur als frei bezeichnen, wenn die Strukturen wirklich verschiedene Optionen lassen und Offenheit für realistische Alternativen fördern. Sie müssten also Frauen die freie Wahl zwischen Teilzeit- und Vollzeiterwerbstätigkeit lassen. Diese Wahlmöglichkeiten bestehen aber heute so nicht. In Westdeutschland haben nur 15 Prozent der Eltern von Kindern unter drei Jahren Zugang zu außerhäuslicher Betreuung. Die Kindergärten sind nicht auf vollzeiterwerbstätige Eltern ausgerichtet, das Gleiche gilt für unsere Halbtagsschulen. Können Eltern die Betreuung ihrer Kinder nicht privat organisieren, muss ein Elternteil, meist die Mutter, unterbrechen und kann für einige Jahre nur in Teilzeit erwerbstätig sein - ob gewollt oder nicht.


Wahlfreiheit ist nicht gegeben

Darüber hinaus erweist sich die Teilzeiterwerbstätigkeit meist als Sackgasse, da der Weg nur selten zurück von einem Teilzeit- in einen Vollzeitjob führt. In Deutschland wird jungen Eltern nicht die Möglichkeit geboten, vollzeiterwerbstätig zu sein und Kinder zu erziehen. Ein Elternteil muss also zurücktreten und in Teilzeit arbeiten. Das ist meist die Frau. Wir haben also noch nicht die Präferenzen für Teilzeit zu diskutieren, sondern grundlegende Fragen: Warum hat Deutschland keine Arbeitszeit- und Betreuungsmodelle, die eine Vereinbarkeit von (Vollzeit-)Beruf und Familie ermöglichen? Warum wird die Kindererziehung bis heute Frauen übertragen, warum halten sich die meisten Männer noch immer weitgehend zurück? Diese Fragen sind umso dringlicher, als meines Wissens keine Theorie die im internationalen Vergleich deutlichen Unterschiede beim Anteil teilzeiterwerbstätiger Frauen mit nationalen Präferenzstrukturen erklären kann. Darauf weist auch der 7. Familienbericht der Bundesregierung deutlich hin.

Deine zweite Frage lautet: Wie prägend ist das Geschlecht im Vergleich zu anderen Dimensionen sozialer Ungleichheit? Das ist eine wichtige Frage. Am eigentlichen Sachverhalt ändert sie aber nichts. Denn die geringeren Chancen von Frauen bleiben ja auch dann bestehen, wenn die Chancen anderer Bevölkerungsgruppen noch niedriger sind. Es ist auch eine schwierige Frage, weil unterschiedliche Dimensionen sozialer Ungleichheit eng miteinander zusammenhängen und sich oft je nach der Lebensphase unterschiedlich entfalten. So korrelieren in den meisten Staaten Bildung, Migrationshintergrund und Geschlecht stark, wenn es um Erwerbstätigkeit, Einkommen, Gesundheit und Lebenserwartung geht. Die Frage einer solchen "Intersektionalität" war lange randständig, wie Du zu Recht beklagst. Nun aber entwickelt sie sich zu einem eigenständigen Gebiet der Soziologie. Sicherlich haben auch Umfragen ihren Stellenwert, die das Ausmaß der wahrgenommenen Spannungen zwischen Gruppen erheben. Doch wie tauglich ist dieser Indikator für unsere Frage? So sehen nur wenige Befragte Spannungslinien zwischen den Geschlechtern und zwischen Generationen. Wären diese Disparitäten durch den sozialen Wandel verschwunden, so hätten wir früher diese Spannungen messen müssen. Das haben wir aber nicht. Können wir daraus folgern, dass beide Dimensionen unwichtig sind für die Beschreibung von Disparitäten unserer heutigen Gesellschaft? Nein. Denn wir sind uns wohl einig, dass die Generationenzugehörigkeit eine zentrale Kategorie sozialer Ungleichheit darstellt. Der demographische Wandel führt schon heute zu großen Finanzierungskonflikten, und wir wissen, dass diese Konflikte zunehmen werden.

Und das Geschlecht? Hier haben wir eine kritische Masse von Frauen in Führungspositionen noch nicht erreicht. Es sind nicht die Alibi-Frauen, die einen Unterschied machen und zu wahrnehmbaren Spannungen führen. Wie wir aus der Empirie wissen und täglich neu beobachten können: In Unternehmen, Behörden, Forschungseinrichtungen, in Krankenhäusern, Stiftungen und gesellschaftlichen Organisationen braucht es einen Frauenanteil in gehobenen Positionen von etwa 30 Prozent, um zu mobilisieren. Spannungen gibt es also nur, wenn ein Mindestmaß an Teilhabe und die Aussicht auf Verantwortung und Macht gegeben sind. Ob wir überhaupt schon in diesem Anfangsstadium einer Veränderung angekommen sind, das ist die Frage.

Herzliche Grüße

Deine Jutta


Jutta Allmendinger ist Präsidentin des WZB und Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Soziologie des Arbeitsmarkts, Bildungssoziologie, Soziale Ungleichheit, Sozialpolitik, Organisationen und Lebensverläufe.
buero.praesidentin@wzb.eu


Literatur

Allmendinger, Jutta: Verschenkte Potenziale? Lebensverläufe nichterwerbstätiger Frauen. Frankfurt a.M.: Campus 2010 (im Erscheinen).

Allmendinger, Jutta/Leuze, Kathrin/Blanck, Jonna M.: "50 Jahre Geschlechtergerechtigkeit und Arbeitsmarkt". In: Aus Politik und Zeitgeschichte 24-25, 2008, S. 18-25.

Breiholz, Holger: "Ergebnisse des Mikrozensus 2004". In: Statistisches Bundesamt (Hg.): Wirtschaft und Statistik 4/2005. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt 2005, S. 327-337.

Brader, Doris/Lewerenz, Julia: Frauen in Führungspositionen: An der Spitze ist die Luft dünn. IAB-Kurzbericht, 2/2006. Nürnberg: IAB 2006.

Winkler, Gabriele/Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheit. Bielefeld: Transcript 2009.


(*) siehe im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de -> Infopool -> Sozialwissenschaften -> Soziologie -> Gesellschaft ->
GESELLSCHAFT/222: Geschlecht - die überschätzte Dimension sozialer Ungleichheit (WZB)


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 129, September 2010, Seite 12-15
Herausgeber:
Der Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Oktober 2010