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GESELLSCHAFT/228: Sicherheit als soziokulturelles und psychologisches Problem (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2010

Sicherheit als soziokulturelles und psychologisches Problem

Von Johano Strasser


Die grassierende Sicherheitshysterie beschert der Gesellschaft mehr Kontrolle und Unfreiheit. Statt aber gleich mit technischer und juristischer Aufrüstung die Symptome zu bekämpfen, sollte sinnvollerweise die Ursachenanalyse am Anfang stehen.


Sicherheit gehört ganz zweifellos zu den wertbeständigsten Münzen im politischen Geschäft. Kaum ein Begriff spielt in Parteiprogrammen, in Wahl- und Parlamentsreden, in politischen Lageberichten, Umfragen, Zeitungs-, Rundfunk- und Fernsehkommentaren eine derart zentrale Rolle. Kaum ein Begriff eignet sich so gut dazu, Menschen zu manipulieren, Andersdenkende zu diskriminieren. Kaum ein Begriff ist so bequem zur Hand, wenn es gilt, von den Menschen Opfer einzufordern. Wenn es um "unsere Sicherheit" geht, ist keine Summe zu fantastisch. Wenn es gilt, Gefahren für "unsere Sicherheit" abzuwehren, opfern wir Freiheiten gleich dutzendweise. Das Sicherheitsargument ist der Passepartout, mit dem die Exekutive noch jede Tür zu öffnen versteht, die ihr laut Verfassung (und nach den gängigen Regeln der Moral) verschlossen sein sollte.

Nie in ihrer Geschichte haben die Menschen gewaltigere Anstrengungen unternommen, um sich gegen Krankheit, Not, Unfälle, Diebstahl, Gewalt, Terror, Subversion und kriegerische Aggression abzusichern. Ein dichtes Netz von Versicherungen verspricht nahezu allen Gruppen Schutz gegen nahezu alle Lebensrisiken. Polizei und Verfassungsschutz, die Organe der Inlands- und Auslandsaufklärung sind mit modernstem Gerät und subtilen Observations- und Fahndungstechniken dabei sich zum allgegenwärtigen "Großen Bruder" zu mausern. Spezialtrupps zur Terroristenbekämpfung stehen Tag und Nacht in Bereitschaft. Objekt- und Personenschutz rund um die Uhr ist zur Routine geworden. Gewaltige Ausgaben für die militärische Verteidigung sollen uns vor Angriffen von außen bewahren. Unser Rechtssystem lässt kaum etwas ungeregelt. Wo unsere Juristen eine Rechtslücke erspähen, erfasst sie der horror vacui.

Eine blühende und expandierende Sicherheitsindustrie ergänzt das staatliche Angebot. Mit dem Verkauf von Sicherheit lassen sich glänzende Geschäfte machen, gerade in Krisenzeiten. Die Versicherungspaläste zeugen davon. Die Hersteller von Safes, Alarmanlagen, von Gaspistolen und anderen Waffen melden steigende Umsätze. Wer sich zu den Spitzen in Staat und Gesellschaft zählt, fährt im gepanzerten Spezialauto. Jedes größere Unternehmen hat einen eigenen Werkschutz. Sicherheitsberater, Privatdetektive und Bodyguards bieten in Zeitungsannoncen ihre Dienste an. Dienstleistungskonzerne stellen private Söldnerarmeen zur Verfügung, die die Drecksarbeit für Politiker und Wirtschaftsunternehmen erledigen. Kurse in Selbstverteidigung haben regen Zulauf.

Ganze Bibliotheken ließen sich füllen mit Kompendien wie Sicherheitstechnik bei Anwendung von Brenngasen, Brandschutz und Feuersicherheit im Verbrauchermarkt und Warenhaus, Sicherheitsbestimmungen im Schulbau. Längst ist Technisches Sicherheitsrecht Lehrfach an unseren Hochschulen. Heere von Beamten und Angestellten plagen sich und andere mit Vorschriften über die Sicherung von Baustellen, Gleisanlagen, Mülldeponien, über Arbeitsschutz, Jugendschutz und Seuchenschutz, über den Schutz der Gewässer vor den Menschen und der Menschen vor verseuchtem Wasser.

Sicherheit definiert Meyers Enzyklopädisches Lexikon (Aufl. 1977) als "Zustand des Unbedrohtseins, der sich objektiv im Vorhandensein von Schutz(einrichtungen) bzw. im Fehlen von Gefahr(enquellen) darstellt und subjektiv als Gewissheit von Individuen oder sozialen Gebilden über die Zuverlässigkeit von Sicherungs- und Schutzeinrichtungen empfunden wird. Individuelle Sicherheitsbedürfnisse bestehen gegen die Gefährdung der materiellen Existenz u.a. durch Krankheiten, Unfälle, soziale Notlagen sowie durch gegen Person und/oder Eigentum gerichtete Willkür- und Gewaltakte; Schutz vor letzteren bieten die Verfassung und die Institutionen des Rechtsstaats sowie die Garantie der Menschen- und Grundrechte. Angriffe von innen und außen wehren die Staaten durch Maßnahmen staatlicher Sicherheitspolitik ab."


Angst essen Seele auf

Allerdings ist, was sich in der wohlgeordneten Welt der Enzyklopädie so reibungslos ineinander fügt, in Wirklichkeit voller dorniger Widersprüche. Schutz soll uns die Verfassung bieten, Sicherheit vor Übergriffen Einzelner und des Staates. Darum die Garantie der Menschen- und Grundrechte. Aber die Behörden, die sich für unsere Sicherheit verantwortlich fühlen, greifen immer ungenierter in die grundgesetzlich garantierten Rechte ein, um terroristische Gewalt und Gefahren für die freiheitlich demokratische Grundordnung abzuwehren und der wachsenden organisierten Kriminalität Herr zu werden. Manchem übereifrigen konservativen Politiker ist jeder Bürger verdächtig - besonders wenn er von seinen Grundrechten Gebrauch macht. Verfassungswidrige Aktivität zum Schutze der Verfassung - das ist nur einer der vielen Widersprüche, denen man begegnet, wenn man sich mit dem Thema Sicherheit näher befasst.

Überall, so scheint es, werden die Systeme, die die Risiken minimieren sollen, selbst immer öfter zum unberechenbaren Risiko. Das gilt für die Militärapparate, für die Polizei, für den Staatsschutz, für die zentralen Versorgungseinrichtungen, auf die wir bei den einfachsten täglichen Verrichtungen angewiesen sind. Beunruhigende Fragen stellen sich: Was hat die explosionsartige Zunahme von Sicherheitsleistungen verursacht? Und: Hat sie uns tatsächlich, alles in allem, mehr Sicherheit, mehr Freiheit von Angst eingebracht? Oder ist die Maßlosigkeit unseres Sicherheitsbedürfnisses nur ein Indiz für die Maßlosigkeit unserer Angst? Und: Woher rührt die Angst, die uns zu so gewaltiger vorsorgender und versichernder Betriebsamkeit drängt?

Politiker aller Lager verweisen - nicht zu unrecht - auf die erhöhten Gefahren in unserer modernen Welt: Früher war es die Bedrohung aus dem Osten, heute ist es der - muslimisch-fundamentalistische - Terrorismus, der an erster Stelle genannt wird. Es folgen die Gefahren der Technik, des Autoverkehrs, die Erderwärmung, die sozialen Probleme, die Kriminalität. Kann man einen Schwerverbrecher nach 20, 30 Jahren Haft freilassen, wenn doch von ihm noch eine Gefahr ausgehen könnte? Der Konflikt um die Sicherungsverwahrung, ausgelöst durch das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes ist typisch, die Diskussion über die Zulässigkeit der Folter bei Kindesentführungen desgleichen. Angesichts wachsender Gefährdungen, so meinen die meisten Menschen, seien verstärkte Anstrengungen für unsere Sicherheit unerlässlich. Haben die tragischen Ereignisse bei der Duisburger Love Parade nicht bewiesen, dass wir noch mehr Kontrolle, noch mehr technisch-organisatorische Sicherheit brauchen? Wer bei der Frage nach den Gründen nicht tiefer dringt, landet unausweichlich bei der Forderung nach noch mehr und noch perfekteren Sicherheitsleistungen. Gestritten wird dann allenfalls darüber, wo zunächst und vor allem investiert werden soll: in die Rüstung, in den Ausbau der Polizei, in den Zivilschutz oder eher in die soziale Sicherung, in den Unfall- oder den Umweltschutz.

Andererseits: Wenn heute gegen übertriebenes Sicherheitsdenken polemisiert und größere Risikobereitschaft gefordert wird, handelt es sich meist um taktische Manöver im Interessenkampf. Manche Unternehmerverbandssprecher tarnen hinter solch grundsätzlicher Argumentation ihre Versuche, zulasten der Sozialhaushalte mehr öffentliche Gelder für Wirtschaftförderung zu erhalten. Neoliberale versuchen mit solchen Tönen ihrem Eintreten für einen entfesselten Markt und für die Privatisierung öffentlicher Leistungen eine philosophisch-kulturelle Dimension zu geben. Kaum je ist unter den Lobrednern auf Risikobereitschaft und Lust am Abenteuer einer, der sein Schäfchen nicht schon im Trockenen hätte.

Die Mehrheit der Menschen hält wenig von solch frivolem Umgang mit Fragen der Sicherheit. Dass eine Kultur der Freiheit und des zivilen Umgangs nicht entstehen kann, wenn die Menschen schutzlos tausend Gefahren ausgeliefert sind, ist allzu offensichtlich. Aber das heißt nicht, dass es sinnvoll und möglich wäre, vorbeugend alle Risiken auszuschalten. Auch in puncto Sicherheit sind Optimierung und Maximierung nicht dasselbe. Zwar können Menschen sich ohne ein gewisses Maß an Sicherheit nicht frei entfalten; insofern kann die organisierte Entlastung von Risiken tatsächlich ein Gewinn an Freiheit darstellen. Aber die ständige Perfektionierung der Sicherheitssysteme schafft nicht immer günstigere Bedingungen für die Entfaltung eines freien Individuums und eines freien gesellschaftlichen Lebens.


Sicherheit als destruktives Ideal

Das Problem ist, dass wir vordringlich auf technisch-organisatorische Sicherheit, auf formalisierte Regelungen und Verträge setzen und dabei die soziokulturelle Dimension der Sicherheit allzu oft außer Acht lassen. Die Fachleute glauben an die Systeme und misstrauen den Menschen. Ihr Rat: Delegiert eure Entscheidungsfreiheit an die Experten und an die Apparate. Die entscheiden objektiv, unbestechlich, fehlerlos; dadurch allein gewinnt ihr optimale Sicherheit. Es ist dieser Prozess der ständigen Verlagerung von Verantwortung auf die Experten und ihre Systeme, der uns zwar einerseits von quälender Unsicherheit, von der Qual der Wahl, von täglicher Sorge und Vorsorge entlastet, der uns aber gleichzeitig immer gründlicher anonymen Mächten ausliefert. Und wenn die Systeme versagen wie in Tschernobyl, in der Finanzkrise oder jüngst im Golf von Mexiko, dann zeigt sich auf einmal, dass das Gefühl der Sicherheit trog. Dann erfasst uns Panik und mündet regelmäßig in den Ruf nach der Perfektionierung der Systeme. Aber diese erhöht zugleich unsere Abhängigkeit von ihnen. Sicherheit wird so zum destruktiven Ideal. Der Versuch, sich gegen alle Risiken, auch gegen die nichtversicherbaren, perfekt zu schützen, kann alles zerstören, was das Leben lebenswert macht.

Wieviel mögliches Liebesglück ist schon verdorben worden, weil einer vom anderen immer wieder Liebesbeweise verlangt? Kann man es zulassen, fragen sich sicherheitsbesessene Eltern, dass Kinder auf dem Schulhof mit Schneebällen werfen? Im Bund mit überfürsorglichen Behörden erwarten sie allen Ernstes, dass die Schule das Risiko einer Verletzung ausschaltet. Das Ergebnis: Versicherungsbestimmungen, Erlasse der Schulbehörde, Schulordnungen und Pausenregelungen grenzen (im Wortsinne) Spielräume immer mehr ein, knebeln die Spontaneität der Kinder. Passiert trotzdem etwas, wird der aufsichtführende Lehrer regresspflichtig gemacht. Folglich lebt er in ständiger Angst vor der Spontaneität, dem Bewegungsdrang der Schüler. Aus Angst greift er allzu oft disziplinierend ein - und provoziert seinerseits Angst, Aggression, Unsicherheit.

Ein Staat, der überall Subversion, Unterwanderung, Bereitschaft zu Gewalt und Terror wittert und alles daran setzt, jede mögliche Gefährdung der freiheitlichen Ordnung schon im Keim zu ersticken, vernichtet als erstes die Freiheit selbst. Die ständige Perfektionierung unserer militärischen Sicherheit kann, wie sich zum Ende des Ost-West-Konflikts zeigte, selbst zur Quelle tödlicher Gefahren werden. Die Tendenz unseres Rechtssystems, möglichst jeden denkbaren Tatbestand eindeutig zu regeln, führt dazu, dass kein Bürger ohne Hilfe von Experten mehr durchschaut, dass Abhängigkeit und Unsicherheit wachsen.

Wenn wir uns dieser destruktiven Dynamik nicht ausliefern wollen, müssen wir die Ursachen, die subjektiven und die objektiven, unseres übermäßigen Sicherheitsbedürfnisses genauer ins Auge fassen. Vielleicht erkennen wir dann, dass wir, um relativ angstfrei leben zu können, die Struktur und Dynamik unserer Gesellschaft und die Form unseres Zusammenlebens tiefgreifend verändern müssen. In vielen Lebensbereichen könnte eine Reduktion von kritischer Komplexität, eine organisatorische Dezentralisierung und eine Verminderung der Abhängigkeit von Fremdleistungen durch Stärkung der Selbsthilfekompetenz der richtige Weg sein. Entscheidend wäre die Herausbildung eines neuen Techniktyps gemäß sozialen und ökologischen Parametern, die bewusste Begrenzung des wissenschaftlich-technischen Zugriffs auf die außermenschliche und die menschliche Natur, die Rückbesinnung auf die soziale Produktivität kleinerer Einheiten in einem Raum der Öffentlichkeit, der die Spannung des Andersseins aushält.

Was wir gemeinhin als ein technisches Problem behandeln, ist im Kern ein soziokulturelles und psychologisches Problem. Nicht die immer weiter getriebene technische Perfektionierung am alten Modell ist die Antwort auf unser Sicherheitsproblem, sondern die Korrektur von Fehlentwicklungen in unserem Zivilisationsmodell, die drauf und dran sind, die Segnungen der Moderne in ihr Gegenteil zu verkehren.


Johano Strasser (* 1939) ist Politologe, Publizist und Schriftsteller und seit 2002 Präsident des PEN-Zentrums Deutschland. Im Diederichs-Verlag erschien in diesem Jahr: Kolumbus kam nur bis Hannibal. Vierzehn subversive Geschichten.
(johano.strasser@t-online.de)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2010, S. 37-40
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2011