Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → SOZIOLOGIE

GESELLSCHAFT/235: Der Messie oder der Chaosmensch (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2011

Symptom der Moderne
Der Messie oder der Chaosmensch

Von Albrecht von Lucke


Unlängst war in einem Internet-Portal folgende Meldung zu lesen: "Frau in den USA starb unter Müllberg im Haus. Nach Angaben der Polizei ist die Frau, die durch ihren Mann als vermisst gemeldet worden war unter den Müllhaufen in ihrer Wohnung erstickt." Schenkt man Statistiken Glauben, handelt es sich bei diesem Vorfall keineswegs um einen Einzelfall. Es gibt vielmehr unzählige solcher bis an die Decke vollgestopften Wohnungen, in denen sich die Bewohner wie Höhlenmenschen in schmalen Gängen ihren Weg zu ihren Rastplätzen bahnen.


Wenn vor 20 Jahren von Vermüllung die Rede war, dann war meist die von Städten und Landschaften gemeint. Heute haben wir es mit einem psychischen oder charakterologischen Phänomen zu tun, das in seiner klinischen Variante auch als "Vermüllungssyndrom" bekannt ist. Landläufig werden diese Personen verniedlichend "Messies" genannt - von englisch "Mess" für Unordnung oder Durcheinander. Man könnte vom "Chaosmenschen" sprechen. Sein äußerer Zustand ist dabei nur die Widerspiegelung innerer Zustände, nämlich das äußerlich sichtbare Spiegelbild des inneren Chaos: Der Müll verweist auf die Unfähigkeit, das eigene Leben sinnvoll zu ordnen.

Messies sind schlicht unfähig, Gegenstände nach dem Kriterium brauchbar und unbrauchbar zu unterscheiden. Das Gleiche gilt für ihr sonstiges Leben: Auch in ihm gelingt diesen Menschen keine sinnvolle Ordnung. Der vermüllte Mensch kann nicht mehr zwischen "verwertbaren", sinnvoll fortsetzungsfähigen, und unverwertbaren Anteilen seiner Biografie unterscheiden. Alles wird zu einem potenziellen Anfang, einmal angefangene und wieder abgerissene Lebensstränge überlagern sich in wildem Durcheinander. Mit tragischer Konsequenz, denn nichts kann deshalb endgültig beendet oder abgeschlossen werden.


Der Messie als Symptom

Der Chaosmensch erscheint seiner Umwelt als hochgradig irrational und pathologisch; er rührt an die Grundfesten des bürgerlichen Charakters, der in der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft mit ihrer protestantischen Arbeitsmoral seine markante Ausformung erfahren hat.

Dass die äußere Vermüllung laut psychologischen Befunden die innere widerspiegelt, ist aber nur die eine Seite der Medaille. Aus gesellschaftlicher Sicht wäre zu fragen, inwieweit dieses innere Chaos nicht die Widerspiegelung einer zunehmend chaotischen Außenwelt ist, die ihrerseits immer weniger zwischen Wertvollem und Wertlosem unterscheidet. Dann wäre der Messie weniger Krankheitsbild als vielmehr Symptom, vielleicht sogar Signatur unserer durchkapitalisierten Moderne.

Tatsächlich spricht vieles dafür, dass die globalisierte Überflussgesellschaft im Messie ihren eigentlichen Exponenten gefunden hat. Im Zeichen der Globalisierung wächst die Unübersichtlichkeit, die den Messie, als Reaktion auf das wachsende Chaos, an allem festhalten lässt. Mit bestechender Konsequenz: Wo es keine letztgültigen Werte oder zumindest einen linearen, zielgerichteten Fortschritt gibt, wo nur noch das postmoderne "Anything goes" gilt, ist alles gleich wert - und gleich bewahrenswürdig.

Der vermüllte Mensch wäre somit tatsächlich Avantgarde der globalisierten Moderne. Avantgarde in einer Welt, die von immer mehr Menschen als permanente Entwertung des vormals Werthaltigen und, im Gegenzug, als permanente Aufwertung des vormals Wertlosen erlebt wird. Wir alle erfahren täglich, wie aus eben noch wertvollen Dingen, etwa Schallplatten, binnen kurzer Zeit wertloses Zeug, ja Schrott, werden kann, und umgekehrt sprichwörtlich "aus Scheiße" Gold, nämlich gewaltige Einnahmen - ob im "Big Brother"-Container oder beim Verspeisen von Maden und Kakerlaken im "Dschungelcamp".

Der Profanierung des vormals "Heiligen" in den westlichen Konsumgesellschaften entspricht die Vergötzung des Profanen und, in letzter Konsequenz, sogar des Mülls. Eine derartige Gesellschaft jedoch, die das Wesentliche nicht länger vom Unwesentlichen scheidet, macht ihrerseits alles aufbewahrenswert. Und wer wüsste wirklich noch objektiv zu definieren, was morgen Wertsache und was schlichtweg Müll ist?

Der rasende Wertverlust macht auch vor den Menschen nicht Halt. Der durch den beschleunigten Kapitalismus geforderte "flexible Mensch" (Richard Sennett) ist immer weniger zur Herausbildung eines echten Charakters in der Lage. Wenn der auf sich selbst zurückgeworfene Jobber oder "Freelancer" für die nächsten Jahre oder Monate nicht mehr auf eine feste Tätigkeit zählen kann, erhält für ihn alles in seinem Leben eine konkrete Verwertungsbedeutung. Das Festhalten an Allem und Jedem erscheint somit keineswegs als irrational, vielmehr als adäquate Reaktion auf eine rational nicht mehr fassbare, postmoderne Welt.

Der hortende Mensch klammert sich deswegen an seine gesammelten "Schätze"; sein Chaos schützt ihn vor Identitätsverlust und gibt ihm zugleich ein Gefühl der Sicherheit. "My mess is my castle" - meine Unordnung ist meine Burg.


Die Messie-Bohème

Wenn aber, wie weitgehend erwiesen ist, eine traumatische Verlusterfahrung der häufigste Ursprung des Hortens ist, dann verweist auch das auf eine heute verbreitete Erfahrung. Im digitalen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts ist die Möglichkeit des Verlustes total und gleichzeitig alltäglich geworden. Der jüngste Crash des Finanzkapitalismus hat exemplarisch gezeigt, dass sich vermeintliche Millionenwerte von einem Tag auf den anderen in Nichts auflösen können. Als einziger Schutz gegen eine derartige Katastrophe erscheint nur der Besitz von Information und Wissen.

Die digitalisierte Wissensgesellschaft bringt daher eine neue Art hortender Menschen hervor, die digitale Spielart des Messie. Die wirkliche Avantgarde, die Messie-Bohème sammelt ihre Informationen längst virtuell - im unendlichen Raum des Cyberspace. Auch in dieser Hinsicht erleben wir eine Zweiteilung der Gesellschaft. Die einen, die global Abgehängten und Überflüssigen der neuen Moderne, halten sich in sentimentaler Anhänglichkeit an die rasend schnell vergängliche Hardware des 20. Jahrhunderts; sie sammeln Schallplatten und Plattenspieler, Cassetten und Rekorder, obwohl deren Zeit unweigerlich abgelaufen ist. Die anderen, die digitalen Messies, sammeln Gigabyte um Gigabyte an Daten; sie stellen komplette Musik- oder Filmsammlungen auf winzigen Datenspeichern zusammen.

Ihre Gefährdung aber bleibt grundsätzlich die gleiche. Auch wenn der digitale Messie nicht von seinem eigenen Müll erstickt zu werden droht: Das Netz als Ort seiner Sammelleidenschaft muss nicht weniger gefährlich sein. Im Gegenteil: Das Wissen, auf das heute angeblich alles ankommt, wächst dort tendenziell ins Unendliche, es kann mithin ad infinitum gesammelt und gehortet werden. So ist der digitale Messie dazu gezwungen, ständig auszuwählen. Eben das aber stellt für ihn das größte Problem dar. Nicht ohne Grund träumen viele digitale Messies vom perfekten Archiv, ohne es je zu erreichen. Zwar liefert die Festplatte den erforderlichen, fast unbegrenzten Raum für Daten, sie stiftet aber von sich aus noch keine Ordnung.

Zur Ironie der Geschichte gehört, dass Menschen mit guter Bildung und von breit gefächerten Interessen durch die digitale und reale Vermüllung besonders gefährdet sind. Je ausgeprägter die intellektuelle Neugierde, desto unbegrenzter die potenzielle Sammelwut. Ohnehin haben wir es bei hortenden Menschen oft mit kreativen Personen zu tun. Viele große Künstler - Picasso, Warhol, Neruda - waren manische Sammler.


Die tragische Vergeblichkeit des Messie

Eines ist deutlich: Chaosmenschen machen keineswegs den Bodensatz der Gesellschaft aus, sie finden sich in allen Schichten und Altersgruppen. Heute gehen Experten aufgrund von Schätzungen davon aus, dass etwa 15% der Bevölkerung Elemente des Messie-Erlebens kennen. Zwar ist das Phänomen der Vermüllung noch keine Volkskrankheit wie die Depression, aber es steht mit dieser in dramatisch enger Verbindung. Denn obwohl wir in einer unendlich offenen, globalisierten Welt leben, die digital noch "unendlich weit" darüber hinaus reicht, werden die Handlungsspielräume des Einzelnen anscheinend immer kleiner. Am Ende der permanenten konkurrenzgesteuerten Selektion steht millionenfache Überflüssigkeit. Für dieses Phänomen tragischer Vergeblichkeit ist der Messie ein sichtbares Zeichen. Die räumliche Enge des vermüllten Menschen entspricht der Enge seines Handlungsspielraums. Wie Sisyphos plagt er sich Tag für Tag an den eigenen Müllbergen, an der "ungeheuren Last des Überflüssigen", bei dem vergeblichen Versuch einer Ordnung der Dinge und des Lebens in seiner immer kleiner werdenden Welt. Gelingt es der kapitalistischen Gesellschaft nicht, die permanenten Erlebnisse des Scheiterns und des Verlustes durch andere Formen der Anerkennung zu kompensieren, werden in Zukunft immer mehr Menschen Heil und Halt im eigenen Müll suchen - dem letzten Hort ihrer Sicherheit.


Albrecht von Lucke (* 1967) ist Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik in Berlin. Bei Wagenbach erschien zuletzt: Die gefährdete Republik. Von Bonn nach Berlin.
(albrecht.vonlucke@blaetter.de)


*


Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2011, S. 62-64
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53
Telefax: 030/26 935-92 38
ng-fh@fes.de
www.ng-fh.de

Die NG/FH erscheint monatlich, wobei die Hefte 1+2
und 7+8 im Januar bzw. Juli als Doppelheft erscheinen.
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juli 2011