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GESELLSCHAFT/251: Familienzentren und Mehrgenerationenhäuser - Neue Orte der Begegnung (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2012 - Nr. 97

Neue Orte der Begegnung
In Familienzentren und Mehrgenerationenhäusern können sich Alt und Jung treffen.
Aber findet der Austausch der Generationen wirklich statt?

Von Birgit Riedel



Der demografische und soziale Wandel stellt auch die sozialen Dienste vor neue Herausforderungen. Dabei geht es nicht allein um die Frage einer ausreichenden Versorgung mit Pflegediensten oder Betreuungsplätzen für Kleinkinder. Vielmehr müssen sich Dienste zunehmend daran messen, welchen Beitrag sie leisten, um den generationalen und sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken. Zwar ist die Solidarität vor allem innerhalb der Familie nach wie vor hoch. Die vielfältigen Kontakte und gegenseitigen Hilfeleistungen zwischen Angehörigen sind, selbst über größere Entfernungen hinweg, empirisch belegt. Gleichzeitig werden Familiennetze kleiner und sind längst nicht für jeden vor Ort verfügbar. Ebenso ergeben sich Gelegenheiten für Beziehungen außerhalb der Familie und zwischen Angehörigen verschiedener Generationen nicht mehr ohne Weiteres. Die Bindekraft von Sozialmilieus, von Vereinen, aber auch die Integrationsfähigkeit von Nachbarschaften wird schwächer. Diese sind immer weniger imstande, als »stabilisierende Geländer der Lebensführung« (Heitkötter u.a. 2008) Hilfen und Orientierung im Alltag zu bieten. Damit fallen aber nicht nur leicht abrufbare Ressourcen der Unterstützung weg. Es gehen auch Erfahrungs- und Begegnungsräume zwischen Jung und Alt, beiläufige Gelegenheiten für Kontakte und für den Austausch von Wissen und Lebenserfahrung verloren, die einen wichtigen Nährboden für intergenerationelle Solidarität bilden.

Vor diesem Hintergrund sind in den vergangenen Jahren Einrichtungen wie Familienzentren, Mehrgenerationenhäuser oder Eltern-Kind-Zentren entstanden, die die Ressourcen informeller Netze, alltäglicher Kontakte und gelebter Nachbarschaft aktivieren. Neben professionellen Hilfen räumen sie freiwilligem Engagement und Formen der Selbsthilfe einen wichtigen Stellenwert ein. Sie verkörpern zugleich eine neue Generation von Diensten, die flexibel und dialogisch Bedürfnisse aufgreifen, Angebote bündeln und alltagsnah verfügbar machen und sich als wichtiger Ankerpunkt für Familien im sozialen Nahraum verstehen. Das Deutsche Jugendinstitut hat 2004 die Anfänge der Familienzentren in einer bundesweiten Recherche untersucht (Peucker/Riedel 2004). Mittlerweile hat sich eine vielfältige Landschaft entwickelt. Bundes- und Länderprogramme haben Anreize dafür gesetzt und die Entwicklung vorangetrieben. Aber auch auf der Ebene von Kommunen und Trägern wurden entsprechende Anstöße gegeben, und es erfolgten innovative Praxisentwicklungen »von unten«, orientiert am jeweiligen lokalen Bedarf. Ein aktueller Überblick über die Reichweite dieser Entwicklung fehlt allerdings, zumal die Grenzen zu herkömmlichen Einrichtungen fließend sind. So ist im Kita-Bereich gute Praxis ohne Kooperationen mit anderen Diensten und ein stärkeres Zugehen auf die Eltern immer weniger denkbar. Daher finden sich zunehmend Kindertageseinrichtungen, die beispielsweise Eltern-Kind-Kurse anbieten, regelmäßige Elterncafés einrichten, mit der Erziehungsberatungsstelle kooperieren oder als Stützpunkt für aufsuchende frühe Hilfen fungieren - ohne dass sie sich als Familienzentrum bezeichnen.

Wenn hier von Familienzentren und Mehrgenerationenhäusern die Rede ist, so deshalb, weil es sich dabei um die politisch und fachlich profiliertesten »Prototypen« handelt. Die Mehrgenerationenhäuser gehen auf ein Aktionsprogramm des Bundes zurück, das 2006 ins Leben gerufen wurde und zur Gründung von rund 500 Häusern bundesweit geführt hat. Die Familienzentren wiederum haben sich durch ein ambitioniertes Programm in Nordrhein-Westfalen, das 2005 in Kraft getreten ist, als Marke etabliert und eine bundesweite Vorbildwirkung entfaltet. Seitdem wurde in Nordrhein-Westfalen nahezu jede dritte Kindertageseinrichtung zu einem Familienzentrum ausgebaut (Stöbe-Blossey 2010). Andere Bundesländer wie Brandenburg, Hamburg, Sachsen-Anhalt, Berlin oder Hessen sind dem Beispiel gefolgt und fördern, wenngleich in unterschiedlichem Umfang, Weiterentwicklungen ihrer Kitas (Diller 2010). Die Programmziele sind unterschiedlich akzentuiert. Während bei den Familienzentren, die sich ursprünglich am Vorbild der englischen Early Excellence Centers orientieren, der Gedanke im Vordergrund steht, ein positives Umfeld für das Aufwachsen von Kindern zu schaffen und Familien in ihrem Erziehungsauftrag zu stärken, haben die Mehrgenerationenhäuser den größeren Generationenzusammenhang im Blick. Ihnen geht es vor allem auch darum, über die Familie hinaus Begegnungen zwischen Jung und Alt zu ermöglichen und Brücken zwischen Menschen verschiedenen Lebensalters zu schlagen. Dazu inszenieren sie vielfältige Gelegenheiten und führen Dienste und Alltagshilfen für unterschiedliche Lebensphasen und -lagen zusammen. Ein wichtiges Anliegen der Mehrgenerationenhäuser ist es, der älteren Generation neue Zugänge zu freiwilligem Engagement zu eröffnen.


Breite Unterstützung für Familien, Freizeitangebote und Lernmöglichkeiten

Zu Recht lässt sich fragen, ob sich Familienzentren und Mehrgenerationenhäuser überhaupt in einem Atemzug nennen lassen. So haben sich Familienzentren in der Regel aus Kindertageseinrichtungen heraus entwickelt, die auch konzeptionell im Mittelpunkt stehen. Um das zentrale Angebot Kita herum werden weitere Angebote angedockt, die sowohl an den Bedürfnissen der Kinder als auch den Bedürfnissen von Eltern ausgerichtet sind. Primärer Bezugspunkt sind die Kinder. Um sie nach bester Möglichkeit zu fördern, wird die Zusammenarbeit mit Eltern und deren Unterstützung großgeschrieben. Typisch für Familienzentren ist, dass sie jenseits bestehender Fragmentierungen sozialstaatliche Angebote zusammenbringen, indem sie Beratungsangebote, Angebote der Familienbildung, der Kindertagespflege, der sozialpädagogischen Familienhilfe, aber auch Gesundheits- und therapeutische Dienste integrieren. Meist ergeben sich die breite Angebotspalette und der Mehrwert der Familienzentren durch die Kooperation mit anderen Trägern und innovative Formen der Verknüpfung der Angebote. Während die Vernetzung professionalisierter Angebote im Vordergrund steht, wird aus der Praxis berichtet, dass insbesondere informelle Begegnungsmöglichkeiten für Familien sich als ein zentrales und bei den Eltern besonders beliebtes und stark genutztes Angebot herausstellen (Schreiber/Tietze 2008). Ein regelmäßiges Elterncafé, ein offenes Elternfrühstück mit Begleitung durch eine Erzieherin bieten zum Beispiel viel Raum für informellen Austausch und eine leicht zugängliche Alltagsberatung, und sie sind nicht selten Ausgangspunkt für wechselseitige Unterstützung. Mit ihnen lassen sich vielfach Gruppen erreichen, für die die Inanspruchnahme eines spezialisierten Hilfeangebots eine unüberwindbare Hürde darstellt.

Demgegenüber steht in Mehrgenerationenhäusern der Begegnungsaspekt von vornherein stärker im Vordergrund. Die Herkunftseinrichtungen sind dabei unterschiedlich. Vielfach haben Familienbildungsstätten, Familien- oder Mütterzentren, Nachbarschaftszentren und Bürgertreffs bis hin zu Kirchengemeinden und Seniorenbüros ihre Arbeit intergenerationell ausgerichtet und sich zu einem Mehrgenerationenhaus weiterentwickelt. Die Angebote gruppieren sich fast immer um einen offenen Treffpunkt als dem Herzstück jedes Mehrgenerationenhauses, oft ist es ein Café oder Bistro, das ungezwungene Begegnungen ermöglicht. Spezielle Aktivitäten und Angebote entwickeln sich meist unter Beteiligung oder in Eigenregie der Besucher, wobei sich die Grenzen zwischen Besuchern, regelmäßigen Kursteilnehmern, freiwillig Engagierten bis hin zu Honorarkräften durch eine hohe Durchlässigkeit auszeichnen. Zu den Aktivitäten zählen in der Regel ein breites Kurs-, Freizeit- und Kulturangebot (Hobbykurse, Musizieren, Theatergruppe), aber auch die Bereitstellung familienorientierter Alltagshilfen (wie flexible Kinder- und Hausaufgabenbetreuung, Mittagstisch, Wäscheservice, kleinere Reparaturdienste, Begleitdienste für Ältere). Manche Angebote fördern gezielt das Von-und-Miteinander-Lernen der Generationen - etwa in Form von Mentorenprogrammen, Geschichtswerkstätten oder Internetkursen für Senioren. Freiwillig Engagierte zu gewinnen, Möglichkeiten für Engagement zu eröffnen, Sozialkapital zu pflegen und zu fördern sind dabei nicht, wie in den Familienzentren, Nebenprodukt, sondern vielmehr Motor der Mehrgenerationenhäuser. Dem entsprechen eine oft ausgeprägte »Engagementkultur« sowie die Vernetzung mit örtlichen Vereinen, Initiativen, Schulen oder Firmen.


Gelungene Solidarität oder bleiben doch alle unter sich?

Welchen Beitrag aber können Familienzentren und Mehrgenerationenhäuser bei der Förderung von Generationenbeziehungen und Engagement leisten? Betrachtet man, wer erreicht wird, so sind dies bei Familienzentren in der Regel Familien mit kleinen Kindern, die zu den Nutzern der Kita zählen. Die hohe Akzeptanz und der tägliche Kontakt zur Kita sind idealer Ausgangspunkt, damit Eltern untereinander Kontakte knüpfen. Daraus entstehen oft langfristige und tragfähige Hilfenetze. Manche Familienzentren versuchen darüber hinaus gezielt, über leicht zugängliche Angebote und solche, bei denen die Familien zu Hause besucht werden, ihre Einrichtung auch für Gruppen zu öffnen, die sonst kaum öffentliche Räume nutzen. Aber nicht allen gelingt das. Darüber hinaus fördern Familienzentren eher die Querverstrebungen zu Familien in der gleichen Lebensphase. Eine biografiebegleitende Perspektive ist bisher die Ausnahme, und mit der Einbeziehung von Senioren als freiwillig Engagierten tun sich Familienzentren oft schwer.

In Mehrgenerationenhäusern verteilen sich die Nutzer tendenziell über die gesamte Lebensspanne. Aber auch hier stellen Erwachsene in der Familienphase die größte Gruppe dar (BMFSFJ 2011). Jugendliche bleiben hingegen weitgehend außen vor, ihnen haben die Einrichtungen offenbar wenig zu bieten. Insbesondere in der Pubertät geht es Jugendlichen in erster Linie um Abgrenzung von der Familie, steigt die Bedeutung von Gruppen Gleichaltriger und wollen sie eigene Räume besetzen. Betrachtet man diejenigen, die sich in den Mehrgenerationenhäusern freiwillig engagieren, so ist es erneut vor allem die mittlere Generation. Der Befund ist nicht neu: Die Generation, die durch Berufstätigkeit und Kindererziehung am stärksten belastet ist, erweist sich zugleich als sozial gut eingebettet und besonders aktiv. Jenseits des Renteneintritts sinkt die Zahl der Engagierten. Auch wenn die Mehrgenerationenhäuser den Älteren hier neue Zugänge eröffnen, geht damit die Rechnung »Ältere mit viel Zeit entlasten gestresste Familien in der Rushhour des Lebens« nicht auf.

Nicht zuletzt finden mit Blick auf intergenerationelle Beziehungen auch in Mehrgenerationenhäusern alte Menschen und Jugendliche nicht automatisch den Zugang zueinander. Nicht nur für Jugendliche, auch für Ältere gibt es ein starkes und berechtigtes Bedürfnis, unter sich zu bleiben. Gelingende Beziehungen zwischen den Generationen, so zeigen die Erfahrungen der Praxis, setzen gemeinsame Interessen und subjektiv wichtige, eher langfristige Bindungen voraus. Gute Erfahrungen werden etwa mit Mentorenprogrammen oder gemeinsamen Kulturprojekten gemacht (BMFSFJ 2011). In diesem Punkt zeigt sich aber auch das Potenzial der neuen offenen Begegnungsorte: Sie stellen eine Experimentierwerkstatt dar, in der Vieles ausprobiert werden kann, Erfahrungen gesammelt werden und sich langfristig eine Kultur intergenerationeller Ansätze entwickeln kann. Von solchen Ansätzen guter Praxis wiederum muss das institutionelle Umfeld wie Schulen und Vereine lernen, um für den demografischen Wandel gerüstet zu sein.


DIE AUTORIN

Birgit Riedel ist Grundsatzreferentin in der Abteilung »Kinder und Kinderbetreuung« des Deutschen Jugendinstituts.
Kontakt: riedel@dji.de


LITERATUR

BUNDESMINISTERIUM FÜR FAMILIE, SENIOREN, FRAUEN UND JUGEND (BMFSFJ; 2011): Starke Leistung für jedes Alter

DILLER, ANGELIKA (2010): Familienzentren und Co. In: Cloos, Peter / Karner, Britta (Hrsg.): Erziehung und Bildung von Kindern als gemeinsames Projekt. Zum Verhältnis familialer Erziehung und öffentlicher Kinderbetreuung. Baltmannsweiler, S. 137-153

HEITKÖTTER, MARTINA / RAUSCHENBACH, THOMAS / DILLER, ANGELIKA (2008): Veränderte Anforderungen an Familien - Ausgangspunkte für integrierte Infrastrukturangebote für Kinder und Eltern. In: Diller, Angelika / Heitkötter, Martina / Rauschenbach, Thomas (Hrsg.): Familie im Zentrum. Kinderfördernde und elternunterstützende Einrichtungen - aktuelle Entwicklungslinien und Herausforderungen. Wiesbaden, S. 9-14

PEUCKER, CHRISTIAN / RIEDEL, BIRGIT (2004): Häuser für Kinder und Familien. Recherchebericht. München

SCHREIBER, NORBERT / TIETZE, WOLFGANG (2008): Familienzentren NRW: Familienzentren im Entwicklungsprozess. Die Perspektive von Einrichtungen und Eltern. Berlin

STÖBE-BLOSSEY, SYBILLE (2010): Familienzentren in Nordrhein-Westfalen. Neue Wege der Erbringung und Steuerung sozialer Dienstleistungen. In: Sozialer Fortschritt, Heft 4/2010, S.113-118


DJI Impulse 1/2012 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2012 - Nr. 97, S. 35-37
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Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juni 2012