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GESELLSCHAFT/281: Arme Menschen wollen von der Gesellschaft eingebunden werden (idw)


Universität Rostock - 19.11.2014

Arme Menschen wollen von der Gesellschaft eingebunden werden

Rostocker Forscher untersuchen, wie Betroffene mit ihrem Schicksal umgehen.

von Wolfgang Thiel



"Die Armut in M-V hat viele Gesichter", sagt Soziologe André Knabe vom Institut für Soziologie und Demographie (ISD) der Universität Rostock. Es sei nicht nur die materielle Armut, sie werde gleichwohl als Armut an sozialer Anerkennung und Teilhabe erlebt. "Wir beobachten eine große Sehnsucht der Menschen, sich gesellschaftlich einzubringen", sagt Knabe.

Wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden gestern (19. November 2014) mitteilte, galten im vergangenen Jahr 2013 bundesweit rund 12,3 Millionen Menschen in Deutschland von Armut gefährdet. Armutsgefährdung (oder "relative Armut") beginnt in Deutschland bei einem Monatseinkommen von 892 Euro netto für einen Single und bei 1873 Euro für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren. Grundlage der Berechnungen ist die Definition der Europäischen Union, nach der diejenigen Menschen als armutsgefährdet gelten, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung zur Verfügung haben.

Das Statistische Bundesamt hat aktuell auch ermittelt, wo die Armutsgefährdung älterer Menschen ab 65 in Deutschland am größten ist. Gemessen am Bundesdurchschnitt sind die Unterschiede zwischen Ost und West nach wie vor groß, aber auch im Westen gibt es Armuts-Metropolen. In Mecklenburg-Vorpommern (M-V) liegt die Armutsquote der über 65-Jährigen bei 14,7 Prozent. Für die neuen Bundesländer ist für diese Altersgruppe eine Armutsquote von 12,5 Prozent ermittelt worden. Nahezu jeder Fünfte ist in M-V ist somit von Armut bedroht. Für die alten Bundesländer ist die Armutsquote der über 65-Jährigen mit 14,8 Prozent ausgewiesen, liegt also mit 2,3 Prozent höher als in den neuen Ländern.

"Die Armut in M-V hat jedoch viele Gesichter", sagt Soziologe André Knabe vom Institut für Soziologie und Demographie (ISD) der Universität Rostock. Im Auftrag der Arbeiterwohlfahrt Mecklenburg-Vorpommern (AWO M-V) und unter der Leitung von Prof. Dr. Peter A. Berger und Dr. Andreas Klärner untersucht der 29-jährige Sozialwissenschaftler in einem Team, wie konkret die Armut in M-V sich zeigt und wie die Betroffenen damit umgehen. Dazu führten er und seine Kolleginnen und Kollegen zahlreiche Gespräche in Rostock, aber auch im ländlichen Raum, darunter Hartz IV-Empfänger, Alleinerziehende, Menschen mit Behinderung, Rentner und Migranten. "Man sieht es den Menschen nicht an der Nasenspitze an, ob sie arm sind", sagt Knabe. Und: "Armut lässt sich nicht objektiv messen". Es sei nicht nur die materielle Armut, sie werde gleichwohl als Armut an sozialer Anerkennung und Teilhabe erlebt. "Wir beobachten eine große Sehnsucht der Menschen, sich gesellschaftlich einzubringen", sagt Knabe. "Man braucht aber dazu Strukturen", hat der Wissenschaftler erfahren. Als positives Beispiel nennt er Stadtteil- und Begegnungszentren. "Nichts zu tun und keine Aufgabe zu haben, erst das verursacht Probleme, die letztlich auch zu gesundheitlichen Beschwerden führen können".

Knabe hat sich beispielsweise von Betroffenen sensibel von ihrem Tagesablauf oder von ihrem Wochenbeginn erzählen lassen. "Wir wollten wissen, wie lebt es sich arm und wie bewahrt man sich seine Würde, wenn man zur Gruppe am Rande der Gesellschaft gehört", berichtet der Wissenschaftler. Er hat dabei erfahren: Man grenzt sich auch nach unten ab und betont die soziale Einbindung, die den meisten besonders wichtig ist. Viele würden sagen, ich bin ja gar nicht arm, andere sind noch viel ärmer. Das meinten vor allem jene, die ein Ehrenamt, also eine soziale Rolle und somit einen Anknüpfungspunkt haben. "Durch alternative Strukturen erfährt man Anerkennung, wenn die Arbeit weg ist".

Das tägliche Brot und somit die Ernährung ist für Menschen in Armut der größte Ausgabeposten. Doch da, so erfuhren die Rostocker Forscher, würde sehr gespart. Ob man die ganze Woche Nudeln mit Tomaten-Sauce isst, das sieht ja keiner. Viele kaufen lieber gute Kleidung, die sie sich im Prinzip nicht leisten können. Jüngere würden sich hingegen Geld fürs Internet und Smartphone vom Essen absparen. "Facebook ist so etwas wie der Anker in die Welt", hat Knabe von ihnen immer wieder gehört. Da müsse man nicht die vielleicht spartanisch eingerichtete Wohnung zeigen. Oft bestünden über Facebook Kontakte zu alten Schulfreunden, die man in der "realen" Welt nicht mehr sehe.

Die größte Unzufriedenheit würden daher vor allem Leute zeigen, die gar keine oder sehr kleine Netzwerke und nur Kontakte zu Menschen in einer ähnlichen Lage haben.

Deshalb wollen die Rostocker Forscher in einem nächsten Schritt herausfinden, welche Aufgaben die Politik lösen muss, um Betroffene aktiv in die Gesellschaft einzubinden.



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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Rostock, Ingrid Rieck, 19.11.2014
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. November 2014