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KULTUR/045: Kulturhauptstadt - Mittendrin statt nur dabei (mundo - TU Dortmund)


mundo - Das Magazin der Technischen Universität Dortmund Nr. 12/10

Mittendrin statt nur dabei
Ronald Hitzler und sein Team tauchen in die Kulturhauptstadt ein

Von Stephanie Bolsinger


»Wir sind wie das Gegenteil von Wallraff!« beschreibt Ronald Hitzler seinen ethnografischen Forschungsansatz. Ethnografie - das ist vor allem die Erforschung fremder Kulturen oder Strukturen durch teilnehmende Beobachtung. Genau wie der Enthüllungsjournalist geht Hitzler mitten in das von ihm untersuchte Feld und taucht regelrecht darin ein. Auf diese Weise hat er in der Vergangenheit schon eine Vielzahl von Szenen, Jugendkulturen oder Organisationen untersucht. Aber er ist eben doch ganz anders als Günter Wallraff, denn Ronald Hitzler spielt mit offenen Karten und verkleidet sich nicht. »Wir wollen ja nichts aufdecken! Wir möchten nur herausfinden, was die da machen.« Die - das waren bislang unter anderem die Akteure des Weltjugendtages, der Loveparade und der Spielhallen sowie Globalisierungskritiker. Und die, das sind die aktuellen Akteure von RUHR.2010.


Soziologe und sein Team tauchen in die Kulturhauptstadt ein

Im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsprojekts Management multipler Divergenzen tauchen der Soziologe und sein Team zurzeit in die Kulturhauptstadt ein. Das Ganze ist, wie der Untertitel des Projekts verrät, eine Begleitstudie zur Organisation und Koordination des Mega-Event-Projekts Kulturhauptstadt Europas 2010. Bei der RUHR.2010 GmbH laufen die Fäden der Aktivitäten zusammen. Ob Schachtzeichen, Still-Leben oder !SING - Day of Song: Im Essener Büro der GmbH werden alle 300 offiziellen Projekte, die sich über 53 Städte und Gemeinden verteilen, organisiert - von der Programmplanung über die Gewinnung von Sponsoren bis hin zum Marketing. Organisatorisch sind die Projekte in die vier Handlungsfelder Stadt der Möglichkeiten, Stadt der Künste, Stadt der Kreativität und Stadt der Kulturen aufgeteilt. »Das sind nun doch ziemlich komplexe Strukturen«, weiß Hitzler. Dass es dabei zu Divergenzen kommen kann, scheint auf der Hand zu liegen. Ob und wie diese - sogar multiplen - Divergenzen auftreten und wie mit ihnen umgegangen wird, das untersuchen Hitzler und seine Mitarbeiter.

Sie beschäftigen sich also nicht mit den einzelnen Kulturveranstaltungen, sondern mit der Organisation des kompletten Events durch die RUHR.2010 GmbH. Hitzlers 'Mann in Essen' ist der Sozialwissenschaftler Gregor Betz. Er übernimmt den Part des teilnehmenden Beobachters und ist vor Ort bei der Organisation oder - wie er es nennt - »im Auge des Orkans«, dabei. Dazu mussten die Wissenschaftler zunächst einmal Geschäftsführer Prof. Oliver Scheytt von ihrem Vorhaben überzeugen. »Der war aber sehr sehr offen«, berichtet Hitzler. Und so nimmt Betz nicht nur ganz selbstverständlich an den Teamsitzungen und Geschäftsführerbesprechungen teil - er hat sogar sein eigenes Büro und ist ganz normal in den Arbeitsalltag integriert. So wurde er schnell nicht nur als Beobachter - als der Forscher, der allen auf die Finger schaut - sondern als Teil der Organisation aufgenommen. Mit Ressentiments der Mitarbeiter hatte er nicht zu kämpfen. Dazu gibt es aber auch keinen Grund. Denn, so Hitzler nochmals: »Das ist keine kritische Sozialforschung. Wir wollen nur wissen, wie so etwas läuft.«

Ja, und wie läuft so was? Und wie erfasst man so ein riesiges Gebilde - eben so ein Megaevent - wissenschaftlich? Um die Kulturhauptstadt als Organisation zu untersuchen, verbringt Betz einen Großteil seiner Zeit bei der RUHR.2010 GmbH. Er sammelt Daten und Dokumente, interviewt die Menschen, schaut genau hin und schreibt Beobachtungsprotokolle. Ethnografie ist nur mit viel Engagement möglich: »Wenn das Feld ruft, muss es direkt bestellt werden«, so Hitzler. »Am Anfang war ich drei bis vier Mal die Woche vor Ort. Mittlerweile ist es nicht mehr so häufig - jetzt ziehe ich mich etwas zurück und analysiere das gesammelte Material«, erzählt Betz von seiner Tätigkeit als Teilnehmender Beobachter. Genau das ist entscheidend für die Forschung an Hitzlers Lehrstuhl: hohes Engagement im Feld und bei der Datenerhebung - aber dann hohe Distanz bei der Auswertung.


In die Trickkiste greifen und abduktive Schlüsse ziehen

Beim Verarbeiten der vielen gesammelten Informationen zu Annahmen und Schlüssen greifen Hitzler und sein Team in ihre methodische Trickkiste. Wichtig ist zunächst, das Material auf verschiedenen Ebenen anzuordnen, um die Übersicht zu behalten. »Dann ziehen wir im Prinzip abduktive Schlüsse«, erklärt Betz. Bei der Abduktion geht es darum, wirklich Neues zu finden und dann dafür erklärende Hypothesen zu bilden. Wenn Betz also etwas beobachtet und bestimmte Vermutungen anstellt, versucht er diese anhand seines Materials zu belegen - oder eben zu widerlegen. Dazu verdichtet er die Daten mit Blick auf verschiedene Fragestellungen 'trichterförmig' - arbeitet also vom Allgemeinen hin zum jeweils Speziellen. Verschiedene solcher Daten-'Trichter' werden dann nach und nach analysiert. So hat Betz beispielsweise festgestellt, dass die Mitarbeiter der GmbH höchst motiviert wirken: »Trotz der unheimlich hohen Belastung ist die Stimmung im Team stets konzentriert und gut gelaunt.« Anders, so die Annahme von Hitzler, könne so ein Betrieb auch nicht aufrechterhalten werden. Die ganze Kulturhauptstadt sei schließlich chronisch unterfinanziert. Offenbar identifiziert sich die Belegschaft in besonderem Maße mit ihrer Tätigkeit und sieht darin mehr als einen Job. Infos und Beobachtungen, die dieses Phänomen bestätigen und erklären, sortiert Betz dann in den entsprechenden Trichter ein. »Wichtig ist dabei immer, sich klar zu machen: Wie weiß ich, was ich weiß? Das muss stets hinterfragt werden und nichts darf als selbstverständlich vorausgesetzt werden!« warnt Hitzler. Da die Daten von einem Menschen - noch dazu einem hochgradig eingebundenen Menschen - erhoben wurden, sind sie natürlich völlig subjektiv. Bei der Analyse müssen sie dann so plausibilisiert werden, dass es auch für Außenstehende nachvollziehbar ist. »Man muss immer wieder zurück auf den Boden der Daten!«

Ein großer Schwerpunkt in der Analyse ist das Thema Temporalität. Denn so eine Organisation auf Zeit hat ihre ganz eigene Dynamik. Das fängt schon bei scheinbar banalen Dingen wie Büroräumen an. »Erst waren es nur sechs Mitarbeiter - dann ganz schnell 150. Die müssen ja irgendwo sitzen. Und im nächsten Jahr schrumpft die GmbH wieder zusammen«, umreißt Betz eines der vielen eigentlich trivial erscheinenden Probleme. Da die Organisation nur eine gewisse Zeit lang existiert, ist der Weggang von Personal ein weiteres Problem. »Typischerweise suchen sich viele Mitarbeiter in den letzten Monaten von temporären Gesellschaften schon was Neues«, weiß Hitzler aus vergleichbaren Konstrukten. Doch nicht nur Räumlichkeiten oder Personalwechsel sind Probleme für temporäre Organisationen. Auch die Organisation als solche ist eine Herausforderung. »Eine Organisation ist schließlich nichts anderes als ein Bündel von Kommunikationsroutinen«, definiert Betz. Und diese Routinen haben kaum Möglichkeiten, sich zu entwickeln, wenn eine Organisation nicht kontinuierlich wächst, sondern direkt von Null auf Hundert schießt. Die Organisation hatte keine Zeit zu wachsen - plötzlich war sie da. Dabei braucht gerade ein Mammutprojekt wie die Kulturhauptstadt funktionierende Strukturen - Betz versucht also zu ergründen, wie und warum die Arbeit in der GmbH dennoch möglich ist.

Ein weiteres großes Problem der Kulturhauptstadt 2010 ist die Sichtbarkeit. Hitzler bringt es auf den Punkt: »Wenn man im vergangenen Jahr in Linz 50 Plakate aufgehängt hat, dann hat man das in der Innenstadt schon wahrgenommen. Wenn man hier 50 Plakate aufhängt, ist noch nicht mal in jeder Kommune eines.« Es ist schwierig, über fünf Millionen Menschen anzusprechen. »Und es ist auch schwierig, die Spannung über ein ganzes Jahr aufrecht zu erhalten«, ergänzt Betz. Eine gute Möglichkeit, den Fokus in den Kommunen wenigstens für eine Weile auf RUHR.2010 zu lenken, sieht Betz in den Local Hero-Wochen, bei denen jede Woche eine andere Stadt im Mittelpunkt steht. Und er setzt auf den Sommer: »In der Open-Air-Saison wird das Ereignis sicher verstärkt wahrgenommen!«

Reibungspotenzial gibt es reichlich. Gregor Betz macht hier zwei Ebenen aus: Zum einen die Divergenzen innerhalb der RUHR.2010 GmbH, wo die Projekte und Handlungsfelder in ständiger Konkurrenz um Ressourcen stehen. Zum anderen nimmt er auch Divergenzen in der Region und zwischen den Kommunen um Projekte und Aufmerksamkeit wahr. »Eigentlich soll die Kampagne ja helfen, das Kirchturmdenken der einzelnen Städte zu überwinden. Aber das geht natürlich nicht von heute auf morgen.« Ein großes Ziel ist der Aufbau einer regionalen Identifikation. Ein weiteres Ziel ist es, das Image der Region zu verbessern und sie im Vergleich zu anderen konkurrenzfähig zu machen. Bei Hitzler selbst ist hier keine Überzeugungsarbeit mehr notwendig - er ist ein bekennender Ruhrstadtfan. Für die Imagepolitur hält er einen totalen Bruch mit der Vergangenheit der Region nicht für sinnvoll, sondern rät eher zu einem Aufbau auf Bestehendem - ruhig auch auf bestehenden Klischees: also einen Wandel durch Kultur, aber keine komplette Veränderung. Die RUHR.2010-Projekte knüpfen vielfach an gängige Bilder an - wie Bergbau und Bude oder Kumpel und Kohle. Und für Hitzler gibt es keinen Grund, diese Historie verschämt zu verstecken: »Wir haben hier total spannende Sachen, die gibt es sonst nirgendwo! Ich kann mir vorstellen, dass so etwas wie eine Bergbau-Folklore auch eine touristische Attraktion sein kann und die Menschen zum Urlaub machen ins Ruhrgebiet kommen«, so die Vision des Soziologen.


ZUR PERSON
Prof. Dr. Ronald Hitzler wurde 1950 im baden-württembergischen Königsbronn geboren. Er studierte von 1974 bis 1978 Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie an der Universität Konstanz. Im Juni 1987 promovierte Hitzler zum Dr. rer. pol. an der Universität Bamberg. Im April 1995 folgte die Habilitation in Soziologie an der Freien Universität Berlin. Seit 1997 ist Ronald Hitzler Professor für Allgemeine Soziologie an der TU Dortmund. Modernisierung als Handlungsproblem ist der Rahmen seiner Forschungsarbeiten. Häufig untersucht Hitzler Szenen und Events - beispielsweise die Loveparade oder den Weltjugendtag.
Kontakt: E-Mail: ronald.hitzler@fk12.tu-dortmund.de

ZUR PERSON
Gregor Betz wurde 1983 in Aachen geboren. Von 2004 bis 2007 studierte er Sozialwissenschaft und Erziehungswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Direkt im Anschluss begann er dort das Masterstudium Stadt- und Regionalentwicklung. Bereits 2008 forschte und publizierte er zum Thema Kulturhauptstadt Ruhrgebiet. Durch diese Arbeiten wurde Prof. Ronald Hitzler auf Betz aufmerksam und holte ihn an seinen Lehrstuhl, wo er seit Januar 2009 als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig ist.
Kontakt: E-Mail: gregor.betz@fk12.tu-dortmund.de


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Quelle:
mundo - das Magazin der Technischen Universität Dortmund, Nr. 12/10, S. 28-33
Herausgeber: Referat für Öffentlichkeitsarbeit
Universität Dortmund, 44221 Dortmund
Redaktion: Angelika Willers (Chefredakteurin)
Telefon: 0231/54 49
E-Mail: redaktion.mundo@tu-dortmund.de

mundo erscheint zwei Mal jährlich


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. August 2010