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KULTUR/048: Zur religiösen Wissenskrise in einer nachchristlichen Gesellschaft (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 3/2012

Sie wissen nicht, was sie glauben
Zur religiösen Wissenskrise in einer nachchristlichen Gesellschaft

Von Elisabeth Hurth



Wir leben angeblich in einer "Wissensgesellschaft". Gleichzeitig zeigt sich überall, dass jedenfalls das religiöse Wissen stark abgenommen hat. Es herrscht verbreitete Unkenntnis in Bezug auf die biblisch-christliche Tradition. Die Kirchen wären deshalb gut beraten, einen Schwerpunkt auf die zeitgemäße Vermittlung von religiösem Basiswissen zu legen.


Aktuellen Diagnosen zufolge schreitet der Niedergang der katholischen Kirche unaufhaltsam fort. Die Beteiligung am kirchlichen Leben - vom Gottesdienstbesuch über Laienarbeit bis zum ehrenamtlichen Engagement - schwindet zusehends. Auch andere Bedingungen für die herkömmliche Seelsorge brechen weg: Kirche kommt im Alltag der meisten Menschen einfach nicht mehr vor. Sie scheint keine Antworten zu haben auf Fragen, die Menschen heute wirklich betreffen. Es gelingt der Kirche kaum noch, den Glauben so zu verkünden, dass seine orientierende Kraft und vor allem seine Bedeutung für die Lebensführung und Lebensbewältigung zur Geltung kommen. Die Kirche wird zunehmend lediglich als hilfreiche "Sozialstation" wahrgenommen und genutzt. Religiöse Abbrüche setzen sich derweil fort, und zwar so dramatisch, dass prominente Kirchenkritiker wie Hans Küng fragen, ob die Kirche "noch zu retten" sei, und bekannte Religionspädagogen wie Hubertus Halbfas fordern, das Christentum müsse sich "neu erfinden".

Wer solche Fragen und Forderungen stellt, darf nicht an Symptomen herumdoktern, sondern muss nach den Ursachen fragen. So wird die Krise, in der sich die katholische Kirche befindet, häufig als eine pastorale Krise und eine Krise der Struktur beschrieben. Es mehren sich jedoch auch Stimmen, die von einer Gotteskrise sprechen.

Ob man nun eine Gotteskrise oder eine strukturell und pastoral bedingte Kirchenkrise diagnostiziert - in beiden Fällen bleibt etwas Entscheidendes unberücksichtigt. Die Botschaft vom Gott Jesu Christi wird nicht nur von immer mehr Menschen nicht geglaubt; sie ist auch vielen gar nicht bekannt. Der gegenwärtigen Kirchen- und Gotteskrise liegt somit noch eine weitere folgenschwere Krise zu Grunde: der sich rasant beschleunigende religiöse Bildungsnotstand.


Das Glaubenswissen verflüchtigt sich zur Bedeutungslosigkeit

Dass in Deutschland mittlerweile, wie zuletzt im Dezember 2011 erneut bekannt wurde, sage und schreibe 7,5 Millionen funktionale Analphabeten leben, hat Bildungsforscher einmal mehr aufgeschreckt und Forderungen nach mehr Bildungsgerechtigkeit und Integration sowie einer Reform des Schulsystems verstärkt. Die Tatsache, dass die gegenwärtige Bildungskrise auch eine religiöse Wissenskrise ist, spielt bei solchen Forderungen kaum eine Rolle. Wie auch, rangieren Religion und religiöse Bildung doch am unteren Ende der Bedeutungsskala - weit abgeschlagen hinter Familie, Freizeit und Beruf.

So bleibt es einem "Aufregerbuch" wie Stefan Bonners und Anne Weiss' "Heilige Scheiße. Wären wir ohne Religion wirklich besser dran?" (Köln 2011) vorbehalten, sich über die "Generation Doof" lustig zu machen, die nicht nur in Literatur, Geschichte, Geographie und Tagespolitik durch fehlende Kenntnisse (peinlich) auffällt, sondern auch einen frappierenden religiösen Analphabetismus an den Tag legt. Da hält man Golgota für eine Zahncreme, Baldrian für einen der Heiligen Drei Könige und denkt an Ostern "an ein Kaninchen, das bunte Eier legt". Diese und andere "Aussetzer" sind für Bonner und Weiss untrügliche Indizien dafür, wie weit die religiöse Alzheimerisierung unserer Gesellschaft bereits fortgeschritten ist.

Sie enthüllen - nicht ohne Süffisanz - die eklatante Beziehungslosigkeit vieler Jugendlicher zu Inhalten des Glaubens. Dass immer mehr Menschen in Weihnachtsgottesdiensten nur Folklore suchen oder Sakramente wie die Taufe einfach "mitnehmen" nach dem Motto: "Schaden kann es jedenfalls nicht" - all das ist hinlänglich bekannt. Was jedoch noch viel schwerer wiegt und worüber man auch nicht gerne spricht, ist die von Bonner und Weiss beschriebene religiöse Verwahrlosung.


Religiöser Patchwork-Trend

Der von ihnen konstatierte religiöse Bildungsnotstand geht deutlich über den seit langem beklagten Prozess des Traditionsabbruchs hinaus. Das Glaubenswissen, einst prägender Bestandteil der Alltagskultur, verflüchtigt sich heute bis zur Bedeutungslosigkeit. Das, was man an religiösem und theologischem Wissen - zumindest noch rudimentär - bei der älteren Generation kirchennaher Christen voraussetzen kann, löst sich bei den jüngeren Generationen nahezu vollständig auf. Zentrale Inhalte des christlichen Credos sind nicht mehr bekannt, elementares Wissen über kirchliche Lehre und Zusammenhänge gerät in Vergessenheit. Dieses Verdunsten religiösen Wissens geht mit einem drastischen Schwund an religiöser Reflexionsfähigkeit und Sprachfähigkeit einher. Wer seine eigene religiöse Heimat nicht mehr kennt, ist auch nicht zu einem Dialog mit anderen Religionen fähig.


Auf den ersten Blick ein mehr als ernüchternder, zugleich aber auch widersprüchlich wirkender Befund. Während Autoren wie Karen Andresen und Stephan Burgdorff - siehe "Weltmacht Religion. Wie der Glaube Politik und Gesellschaft bestimmt" (München 2008) - nach wie vor die These von der "Wiederkehr der Religion" propagieren, schwindet die religiöse Bildung in einem Ausmaß, das Befürchtungen über einen flächendeckend sich ausbreitenden religiösen Analphabetismus zu bestätigen scheint. Und während Pastoraltheologen wie Paul M. Zulehner und Religionspädagogen wie Norbert Scholl spirituelle Suchbewegungen und eine tiefe "Gottessehnsucht" in unserer Zeit ausmachen, werden die Aussagen darüber, nach was oder wem man sich denn da eigentlich sehnt, inhaltlich immer diffuser - sei es, dass man an ein Kraft- und Energiefeld glaubt, an diverse höhere Mächte oder an Engel.

Selbst vermeintlich Strenggläubige hängen Gottesvorstellungen an, die nicht dem christlichen Glauben entsprechen - und bemerken dies gar nicht mehr. So stimmen laut einer Spiegel-Umfrage aus dem Jahr 2005 zwar 65 Prozent der Gläubigen dem Satz zu: "Gott kennt und schützt mich persönlich", aber schon bei der nächsten Frage verwickelt sich von diesen 65 Prozent beinahe die Hälfte in Widersprüche und bekräftigt genau das Gegenteil: "Gott hat die Welt zwar erschaffen, aber er nimmt keinen direkten Einfluss auf das tägliche Leben."

Dazu fügt sich, dass elf Prozent der Katholiken - laut Religionsmonitor - mittlerweile an Astrologie glauben und Horoskopen mehr Vertrauen schenken als einem Gott, der sich jedem Einzelnen persönlich zuwendet. Auch kirchenverbundene Gläubige gehören also zu jenen "Religionskomponisten" (Zulehner), die Versatzstücke unterschiedlichster religiöser und esoterischer Traditionen für sich zusammensetzen. Es entsteht so eine Patchwork-Religiosität, in der sich jeder seinen eigenen Glaubensschatz bastelt.

Diese Bastelreligion beschleunigt das Fortschreiten der religiösen Wissenskrise. Ein "selbstgemachter" Glaube, so Benedikt XVI. auf seinem jüngsten Deutschlandbesuch, sei "wertlos". Man könne den Glauben nicht "ausdenken" oder "aushandeln". Vor allem aber: Man kann einen "selbstgemachten" Glauben nicht wirklich leben - erst recht dann nicht, wenn dabei Glaubensinhalte in Vergessenheit geraten. So hat der Religionssoziologe Detlef Pollack in seinen "Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa II" (Tübingen 2009) ermittelt, dass der Schwund kirchlich gebundener Religion durch neue nachkirchliche Religiosität im Stil der Bastelreligion nicht annähernd kompensiert wird.

Mehr noch: Nur wenige Menschen unterziehen sich tatsächlich der anstrengenden Prozedur, sich den eigenen Glauben zusammenzustellen und noch weniger sind fähig, nach diesem selbstgemachten, konstruierten Glauben auch zu leben. Man mixt sich seinen "Glaubenscocktail" zusammen, ohne dass dabei die ursprünglich historisch gewachsenen und an eine verbindliche religiöse Praxis gebundenen Inhalte mittransportiert werden.


Der Patchwork-Trend verstärkt insgesamt die inhaltliche Auszehrung des Glaubens. So kann es geschehen, dass heute immer häufiger der christliche Auferstehungsglaube mit der buddhistischen Lehre von der Wiedergeburt verschmilzt. In diesem Amalgam ist die Reinkarnationslehre nicht an die karmische Notwendigkeit gebunden, wiedergeboren zu werden, weil schlechtes Karma nicht "abgebaut" wurde. Reinkarnation erscheint vielmehr als Möglichkeit, das zu Ende zu führen oder zu verbessern, was im jetzigen Leben nicht glückte. In der "Kombi"-Variante der buddhistischen Reinkarnationslehre mit der christlichen Hoffnung auf ein ewiges Leben nach dem Tod gehen damit zentrale Inhalte der christlichen Lehre von den "letzten Dingen" ebenso verloren wie der ursprüngliche Karma-Gedanke des Buddhismus. "Macht aber nix", so die Devise in Sachen Religion und Glaube heute. Hauptsache, es hilft und fühlt sich gut an.

In Zeiten, in denen Religion den Bedürfnissen des Ichs folgt und man von der religiösen Substanz auf die Funktion abstellt, sind religiöse Unterweisung und Lehre einfach nicht "angesagt". Wer will sich angesichts des Pluralismus der Meinungen, Positionen und Wahrheiten noch auf eine Glaubenslehre festlegen und verpflichten? Wer will schon verbindlichen Glaubensinhalten folgen, wenn die Bedürfnisse bereits morgen wieder andere geworden sind?

Für die heutige nutzorientierte Komfortreligion ist, so der Spiegel anlässlich der "Papamania" des Jahres 2005, das "Gefühl von Religion" maßgebend, die Inhalte werden austauschbar und beliebig. Es geht letztlich gar nicht um die im religiösen Erleben zugänglichen Inhalte, sondern, wie der Theologe Hans-Joachim Höhn in seiner Studie "Zerstreuungen. Religion zwischen Sinnsuche und Erlebnismarkt" (Düsseldorf 1998) kritisch anmerkt, um die unmittelbare religiöse Erfahrung, um das "bloße Ergriffenwerden - egal wovon". Was zählt, ist das religiöse Erleben an sich, ohne Halt an einem religiösen Wissen. Das Thema Religion ist damit inhaltlich "abgenudelt".


Theologen wie Wilhelm Gräb und Religionssoziologen wie Thomas Luckmann sprechen an dieser Stelle weniger von einer inhaltlich ausgezehrten Religion als vielmehr von dem "unsichtbaren" Charakter, den das Religiöse heute annehme. Eine entsprechende religiöse Spurensuche in zumeist populärkulturell geprägten Lebenswelten fördert vielfältige Formen dieser "unsichtbaren Religion" zu Tage: von einer Religion der Pop- und Rockmusik (Bernd Schwarze), der Werbung (Eckart Gottwald) und des Films (Jörg Herrmann) bis zur "Fernsehreligion" (Günter Thomas).

Diese Suche nach religiösen Spurenelementen lässt jedoch einen wichtigen Punkt außer Acht: In der Regel werden diese Spurenelemente weder von den Rezipienten noch von den Autoren selbst als religiös wahrgenommen - vor allem deshalb nicht, weil die Betroffenen kein ausreichendes biblisch-religiöses Grundwissen besitzen, um besagte Spurenelemente überhaupt als religiöse Motive zu erkennen. Wer etwa als Fachmann einen Popsong kulturtheologisch auswertet und mit seinen Kenntnissen der biblischen Überlieferung und deren Wirkungsgeschichte religiöse Bezüge in der Popmusik aufspürt, sollte daher auch berücksichtigen, dass vor allem die Rezipienten über diese Kenntnisse eben nicht verfügen und sich selbst oft auch gar nicht mehr als religiös verstehen. Für all diejenigen, die dieser Tage religiöse Kulturhermeneutik betreiben, ist gerade letzteres eine ernüchternde Tatsache, die nicht ohne Konsequenzen bleiben kann.


"Unsichtbare Religion"

Wenn immer mehr Menschen, wie zuletzt die von Michael Ebertz erstellte Studie "Was glauben die Hessen?" erneut ermittelte, sogar die Sinnfrage nicht mehr im Rückgriff auf Religion beantworten und vielmehr an den Sinn "glauben", den man selbst dem Leben gibt, dann ist die Kirche prophetisch-missionarisch herausgefordert, diese religiöse Indifferenz zu konfrontieren. Und wenn es wirklich so ist, wie die Verfechter der Verblödungs-Theorie behaupten, dass man heute das goldene Kalb für einen deutschen Filmpreis hält und Christus mit Spartakus verwechselt, dann ist beschwerliche Grundlagenarbeit gefordert: die Vermittlung religiösen Basiswissens.

Wer heute Formen "unsichtbarer Religion" nachspürt, geht in der Regel davon aus, dass Religion in der Moderne einem Gestaltwandel unterliegt, in dem das Religiöse seine institutionelle Beheimatung verliert. Bei der Deutung dieses Wandlungsprozesses, der sowohl den Rückgang kirchlich gebundener Religion als auch das Verdunsten tradierter Glaubensaussagen und Bekenntnisse befördert, werden häufig die individuellen spirituellen "Vorzüge" nachkirchlicher Religiosität herausgestellt. Dass die Kirche sich der heutigen Suche nach Spiritualität öffnen und sich dabei auch wieder mehr auf die eigene spirituelle Tradition besinnen muss, ist unbestritten. Was an dieser Stelle jedoch nicht weiterhilft, ist eine "gestellte" Dramaturgie, die individuelle Spiritualität gegen kirchlich gebundene Traditionen ausspielt. Die heute gängige stereotype Kritik an kirchlich institutionalisierter Religion wertet all das, was institutionsfern ist, pauschal auf.


Mit anderen Worten: Das kirchen- und institutionskritische Potenzial wird wichtiger als der religiöse Gehalt an sich. Die fortschreitende inhaltliche Entkernung von Religion resultiert so auch aus einer allzu durchsichtigen, mediengerechten Kritik an der "Institution" Kirche. Vorangetrieben wird diese Kritik, so die berechtigte Vermutung des Medienpädagogen Andreas Mertin, von Theologen und Kirchenkritikern, die "mit dem Christentum als angeblicher Ausdrucksform der Vergangenheit schon abgeschlossen haben".


Digitale Demenz und Religionsamnesie

Bonner und Weiss stellen zu Recht die provozierende Frage, "wie viel Christliches überhaupt noch in einer Gesellschaft stecken (kann), die davon keine Ahnung mehr hat". Folgt man Thomas Wieczoreks Pamphlet "Einigkeit und Recht und Doofheit. Warum wir längst keine Dichter und Denker mehr sind" (München 2010), dann hat eine generelle Ahnungslosigkeit mittlerweile alle Wissensbereiche erfasst. Bücher, die sich in die Untiefen absoluter Unwissenheit und Verdummung begeben, avancieren gegenwärtig zu Bestsellern. Es ist jedoch keineswegs so, wie etwa Michael Jürgs suggeriert - "Seichtgebiete. Warum wir hemmungslos verblöden" (München 2010) -, dass Wissen einfach "abnimmt". Wir leben vielmehr in einer so genannten "Wissensgesellschaft", in der "anwenderorientiertes", lebenslanges Lernen im Vordergrund steht und das "Wissen der Welt" in Gestalt des Daten- und Informationsspeichers Internet förmlich explodiert.

In dem Maße, in dem die Vernetzung unserer Welt fortschreitet, verändert sich jedoch auch die Wissenssozialisation. Wissen unterliegt nunmehr dem Modus der Jetzt-Zeitigkeit und der Abrufbarkeit. Das Vergangene ist nicht mehr herkömmlich, etwa auf Papier, abgespeichert, es wird vielmehr durch einen "Link" verfügbar gemacht. "Altes" Wissen ist nicht mehr gegenwärtig, nicht mehr präsent. Es gilt, stets "up-to-date" zu sein mit Blick auf "neues", sich ständig veränderndes Wissen. In digital geprägten Wissenswelten wird so tradiertes Wissen letztlich "entsorgt".


Die von den neuen Medien beförderte Abwertung überlieferten Wissens hat auch Auswirkungen auf das Feld des Religiösen. Dies belegt vor allem der für die Medienreligiosität erhobene Befund der "Flüchtigkeit" religiöser Inhalte. Das Religiöse verliert hier zusehends seinen "festen", substanziellen Gehalt. In der Medienreligiosität dominiert ein individueller Aneignungsprozess medialer Sinnmuster, in dem Inhalte von Funktionen der Gehalte abgelöst werden, die nur für das Heute gelten, weil morgen die Prioritäten schon andere geworden sein können. Es gibt gleichsam keinen "Kanon" mehr, der substanziell Glaubensinhalte wiedergibt und festlegt. Traditionsgebundenes Glaubenswissen löst sich so zunehmend auf.

Das, was wir wissen, umfasst und bezieht sich im digitalen Zeitalter primär auf das, was wir jetzt wissen. Aber selbst dieses auf den Augenblick "beschränkte" Wissen wird immer häufiger zu einer Überforderung angesichts des unendlichen digitalen Wissensstroms. So wandert - zu unserer (vermeintlichen) Entlastung - Wissen aus unserem Gedächtnis ins Netz ab. Bei dieser Externalisierung des Wissens wird das "to know where" wichtiger als das "to know that". Wir können uns immer weniger Dinge einprägen, wissen aber immer besser und genauer, wo wir sie im Netz abrufen können. Das "Hauptsache, gewusst wo" verschärft jedoch nicht nur die Abhängigkeit vom Internet als unserem "ausgelagerten Gedächtnis", es führt letztlich zur digitalen Demenz: All das, von dem wir wissen, dass es online zugänglich und auffindbar ist, fällt unaufhaltsam dem Vergessen anheim.


Sowohl der heutigen Religionsamnesie als auch dem Krankheitsbild der digitalen Demenz liegen Wissensabbrüche zu Grunde, die sich in der digitalen Kultur massiv beschleunigen und die Internetgeneration unmittelbar betreffen. Vor allem die so genannten "digital natives" folgen heute der trügerischen Annahme, dass in dem Maße, in dem "altes" Wissen schnell überholt erscheint, auch das verfügbare Wissen an sich weniger bedeutsam wird. Aber so wie man für den sinnvollen Umgang mit der Daten- und Informationsflut ein Basiswissen braucht, ist auch in Glaubensangelegenheiten ein solides religiöses Grundwissen nötig, damit der Glaube "Sinn macht". Dies ist kein Plädoyer für die Notwendigkeit reiner Wissensvermittlung in Sachen Religion und Glauben. Glaube in der Nachfolge Jesu Christi beginnt nicht mit Wissen und Information. Glaube ist "Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht" (Hebr 11, 1).

Aber man kann nur dann in diesem Sinne glauben und in der Nachfolge Christi leben, wenn man etwas von Jesus und seinem Evangelium weiß. Glaube und Wissen sind nicht voneinander zu trennen. Das "Überzeugtsein", Glaubensüberzeugungen sind auf Wissen bezogen. Ohne Wissen kann man auch andere nicht überzeugen und ihnen "Rede und Antwort stehen" (1 Petr 3, 15) auf die Frage, was man eigentlich "erhofft". Wissen, von dem man selbst überzeugt ist, bestimmt das, was man tut. Wissen wird praktisch und lebensrelevant, es wird "wahr".


Die Mediatisierung religiösen Wissens

Im digitalen Zeitalter verändert sich das, was man von der Kirche, ihrer Botschaft und ihren Repräsentanten "weiß", auch von den Inhalten her. Religiöses Wissen wird mediatisiert. An dieser Stelle beklagen Bonner und Weiss, dass viele Jugendliche statt die Bibel zu lesen, "lieber die Bestsellerverfilmung 'Das Jesus-Video' angucken wollen" und die meisten die biblischen Geschichten "ohnehin eher aus der Verballhornung 'Das Leben des Brian' von Monty Python (kennen)". Man könnte nun in eine Medienschelte einstimmen und im Stil von Neil Postman darüber lamentieren, dass heute alles - auch das Thema Religion - in den Medien zur oberflächlichen Unterhaltung wird. Aber die Tatsache, dass das Unterhaltsame heute zu einer Ausdrucksform des Religiösen avanciert ist, bleibt in diesem Lamento ebenso unberücksichtigt wie der Umstand, dass in der heutigen religiösen Mediensozialisation Religion an sich anders wahrgenommen wird und man sich auch inhaltlich gesehen am Religiösen für ganz andere Dinge interessiert.


Wenn Benedikt XVI. als "Professor Papst" ("Frankfurter Allgemeine Zeitung", 27.9.2011) eine "Lehrpredigt" im deutschen Bundestag hält, kann man davon ausgehen, dass seine Botschaft bei den medialen Instanzen der "Hochkultur" - vor allem renommierten Feuilletons - Gehör findet, nicht aber an der so genannten "Basis". Das gilt für Papstbotschaften und Verlautbarungen, aber auch für wissenschaftliche Erträge der Theologie, die weitestgehend unter sich bleibt und auch keinen hohen Bekanntheitsgrad erreicht. Ganz anders ist es jedoch um den medialen Aufmerksamkeitswert bestellt, wenn, wie im letzten Jahr geschehen, nach dem Deutschlandbesuch des Papstes Bilder im Fernsehen, in den Printmedien und im Internet auftauchen, auf denen zu sehen ist, wie der Papst auf einer mobilen Plattform in den Petersdom eingefahren wird. Den durch diese Bilder ausgelösten Spekulationen um den Gesundheitszustand des Oberhaupts der katholischen Kirche entspricht die massenmedial vervielfältigte Reaktion: Auch der Papst ist "einer von uns". Er wird alt, krank und schwach.

So bewahrheitet sich einmal mehr das "Wir sind Papst"-Gefühl. Es ist dieses Gefühl, das erinnert wird, nicht aber die konkrete Botschaft des Papstes. Nach dem medialen Gesetz der Personalisierung und Intimisierung wird die Person wichtiger als die von ihr vertretenen Inhalte. Im Zuge der fortschreitenden Boulevardisierung und Trivialisierung der gesamten - massenmedial geprägten - Kommunikationskultur lautet das Glaubensmotto nunmehr: Ich glaube dir und nicht: Ich glaube an etwas.


Auch diese Entwicklung kann man beklagen. Man kann sie aber auch als Indikator religiöser Wandlungsprozesse deuten, die sowohl die Glaubensvermittlung als auch die traditionellen Lernorte des Glaubens betreffen. Um diese traditionellen Lernorte ist es schlecht bestellt. Selbst religiöse Alphabetisierung findet hier nicht mehr statt. Die Familie fällt als religiöse Sozialisationsinstanz fast vollständig aus. Dass auch der Religionsunterricht als Lernort des Glaubens an Bedeutung verliert, weil "Reli" oft zu einem "Laberfach", sprich zu einem Zeitgeist-Aufguss verkommt, kann man - popularwissenschaftlich aufbereitet - nicht nur bei Bonner und Weiss nachlesen, sondern auch in kritischen Studien, wie sie etwa Klaus Langer (Warum noch Religionsunterricht? Gütersloh 1989) vorgelegt hat.

Noch bedenklicher ist eine andere Entwicklung: Sogar die mit der Verkündigung des Evangeliums ursächlich betrauten Gottesdiener glauben, wie Bonner und Weiss schonungslos offenlegen, oft selbst nicht mehr an das, was sie von der Kanzel herab predigen ... Folgt man einem Bericht der FAZ (3.6.2011), dann gehen auch hier wiederum Glaubensferne und fehlendes Glaubenswissen Hand in Hand. So wirken biblische Texte selbst auf Theologiestudenten wie "Fantasy-Literatur" und die "Binnensprache" des Christentums wie eine unverständliche Fremdsprache.


Vielleicht muss man gerade hier ansetzen. Wenn die Bibel als ein Medienprodukt eines Fantasy-Autors à la J.R.R. Tolkien wahrgenommen wird, dann ist dies auch ein Hinweis darauf, dass in der Medien- und Computerwelt heute entschieden wird, was Menschen überhaupt noch mit dem Glauben verbinden und von ihm "wissen". Für die Kirche bedeutet das: Sie braucht ein überzeugendes Medienapostolat. Sie muss den Glauben dort weitergeben, wo er "nachgefragt" wird, und sie muss dies in einer verstehbaren Sprache tun, in der die Lebensrelevanz von Glaubensüberzeugungen deutlich wird.

Die Kirche darf sich dabei weder den marktförmigen Gesetzen der Medienwelt noch den Maßstäben der "realen" Welt angleichen. Sie darf auch nicht einfach von zentralen Bekenntnissen abrücken, nur weil sie nicht mehr bekannt sind oder von vielen nicht mehr verstanden werden. Die Kirche muss vielmehr versuchen, das Evangelium "unverfälscht" (1 Tit 2, 7) und inhaltlich profiliert zu verkünden. Dazu gehört auch die Vermittlung religiösen Basiswissens an neuen, medial geprägten Lernorten des Glaubens - eine Vermittlung, in der Glaubensinhalte nicht als "Faktenwissen" aufbereitet, sondern vielmehr bezeugt und (vor)gelebt werden. Eine Kirche, die in diesem Sinne ein glaubwürdiges "Beispiel geben" will (2 Thess 3, 9), wartet nicht auf Menschen, die sie in ihren Gotteshäusern aufsuchen (sollen). Sie geht vielmehr Menschen nach, sie sucht sie selbst auf und lädt sie ein. Sie lebt, was sie lehrt, und will so ein "Vorbild" sein "in ihren Worten, in der Liebe, im Glauben, in der Lauterkeit" (1 Tim 4, 12).


Elisabeth Hurth (geb. 1961) hat Amerikanistik, Germanistik und katholische Theologie in Mainz und Boston studiert. PH. D. 1988 in American Studies in Boston, Promotion 1992 in Mainz in Germanistik. Sie ist Dozentin, Lerntherapeutin und Publizistin in Wiesbaden. Neueste Veröffentlichung: Das Ende aller Dinge ist nahe. Apokalypse heute. Paulinus Verlag, Trier 2012.

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
66. Jahrgang, Heft 3, März 2012, S. 141-146
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juni 2012