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KULTUR/050: Kitsch - Das hässliche Entlein der Moderne als stolzer Porzellanschwan (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2012

Kitsch - Das hässliche Entlein der Moderne als stolzer Porzellanschwan

Von Jan Turowski



Die Geschichte der künstlerischen Moderne hat nicht nur allseits anerkannte und gefeierte Kunstwerke hervorgebracht, die man in den Museen der Welt bestaunen kann, sondern immer auch ihre lächerlich-simplen, naiven und billig produzierten Gegenteile: den Kitsch. Doch längst sind die Übergänge verschwommen, die Sphären überlagern sich, wechseln zuweilen die Positionen. Oder nicht?


Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts machten es neuartige, technisch-industrielle Verfahren möglich, Kulturwaren billig zu produzieren und dem Wunsch des Kleinbürgertums nach üppiger Dekoration massenhaft nachzukommen. Seitdem hängen in Wohnzimmern triviale Wandbilddrucke röhrender Hirsche, opulenten Alpenglühens oder verklärter Bauernromantik im pseudo-barocken Rahmen; schmücken Porzellanfigürchen im Kindchenschema die Fensterbänke und Gartenzwerge die Vorgärten, findet man Jesus-Bildnisse auf Kissenbezügen und die Sixtinische Madonna im Aschenbecher.

Stilanalytisch lassen sich Kunst und Kitsch hingegen nur schwer voneinander abgrenzen, die Definition des Kitschs ist unauflöslich an die Definition der Kunst gekoppelt. So war für die klassischen Theoretiker der aufgeklärten Kultur- und Kunstmoderne die Sache klar: Kitsch war in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von hoher Kunst; es war eine Kunst am falschen Ort, zur falschen Zeit und mit den falschen Materialien.


Kunst der unkultivierten Massen

Noch bis in die 1960er Jahre hinein kritisierten Künstler, Kritiker, Kulturphilosophen und Intellektuelle die geschmacklichen Scheußlichkeiten der Kitschkultur inbrünstig und voller Überzeugung. Die Behauptung, dass man über Geschmack nicht streiten könne, war für sie schlicht und einfach falsch. Entweder hatte man Geschmack oder eben nicht. Und so manche pädagogische Bewegung bemühte sich seit dem beginnenden 20. Jahrhundert sogar darum, breite Bevölkerungsschichten zu einem "guten Geschmack" zu erziehen. Kurzum: Der Frontverlauf von "guter" Kunst und "schlechtem" Kitsch war die meiste Zeit der Moderne und noch weit bis ins 20. Jahrhundert eindeutig markiert.

Der Kunstkritiker Clement Greenberg, später wichtiger Verfechter des amerikanischen Abstract Expressionism, schrieb 1939 in seinem berühmten Essay "Avant-Garde and Kitsch", dass "Kitsch den Effekt des künstlerischen Prozesses imitieren würde". Gemeint war, dass in der modernen Kunst der "kultivierte Betrachter" erst in einem zweiten Schritt, als Ergebnis seiner eigenen intellektuellen Reflexion, das Grandiose im Bild erkennen könne. Das, was Kunst zur Kunst macht, ist also nicht sofort erkennbar, sondern muss erst hineinprojiziert werden. Beim Kitsch hingegen ist die "reflektierte Wirkung" schon im Bild und dient dem direkten Genuss. Kitsch kaut dem Betrachter Kunst vor und erspart ihm jede Anstrengung. Kitsch ist Kunst im Schnellverfahren, es umgeht alles, was in der Kunst schwierig ist, und möchte sein Publikum sofort befriedigen. AuS genau diesem Grund wiederholt Kitsch immerfort, was dem Betrachter längst geläufig ist. Eben auch deshalb reproduziert Kitsch kontinuierlich all die Konfliktlosigkeiten, Klischees und süßlichen Illusionen.

Greenbergs Unterscheidung von Avantgarde und Kitsch gründet natürlich auf einer sozial-ökonomischen Klassenunterscheidung. Auf der einen Seite die Elitenkultur, getragen von einer reichen und gebildeten Oberschicht. Allein schon die Wertschätzung der schönen Künste war Bestandteil sozialer Distinktion. Denn einen elaborierten Geschmack und ästhetische Urteilsfähigkeit zu besitzen, setzte viel Bildung und Wissen, Geld und nötige Freizeit zur Kunstkontemplation voraus. Auf der anderen Seite die Populärkultur für die unkultivierten Massen. Kitsch berührte diese emotional direkt, ohne sie intellektuell zu fordern oder irgendeine Vorbildung der Kunstbetrachtung vorauszusetzen.


Die kulturellen Kitsch-Codes sind hochkompliziert

Heute hat der Begriff "Kitsch" seine kulturelle Beschreibungs- oder gar Bewertungsfunktion eingebüßt. Seit den 60er Jahren hat die moralische Negativbesetzung von Kitsch nachgelassen und ist häufig durch eine reflektierte und ironische Distanz zum Kitsch-Objekt abgelöst worden. Der röhrende Hirsch ist heute eher Ausdruck von Humor und verspieltem Stilmix als ernsthafte Geschmacksverirrung.

Dies hängt damit zusammen, dass sich in den letzten Jahrzehnten die Funktionsweise des kulturellen Systems grundlegend verändert hat.

Die traditionelle Hierarchisierung von Kultur, die noch zentral für das Selbstverständnis des Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts war, ist zusammen mit dem alten System der Klassengesellschaft schon lange erodiert. Klassische Bildung und Kultivierung sind heute längst keine Voraussetzung mehr, um zur Elite zu gehören oder im kulturellen Spielfeld mitspielen zu dürfen. In Abwesenheit einer wirklich kulturell überlegenen Elite reduziert sich die Unterscheidung zwischen Eliten- und Massenkultur einzig auf ökonomische Ressourcen.

Im Sog dieser Entwicklung ist auch der Gegensatz von High und Low Culture verschwunden und hat sich in einer gänzlich neuen, alles umfassenden und aufgeblähten Kultursphäre der Mitte aufgelöst: Hollywood, Kunstmessen, Literatur-Bestseller, die Drei Tenöre und Rock-Konzerte sind alle Teil ein und desselben globalen Kultur-Spektakels.

Doch wenn der direkte und spektakularisierte Genuss längst Teil der ehemaligen Hochkultur geworden ist, dann verliert der Begriff "Kitsch" seine soziale und ökonomische Kennzeichnung, folglich auch die Aura des Anstößigen und Unterklassigen, und wird auf seine - letztlich ungenauen und eher zufälligen - formal-ästhetischen Eigenschaften reduziert.

Und so hat das fröhliche Spiel mit Kitsch-Elementen das Kunstsystem längst erfolgreich infiltriert. Kitsch als Zitat. Bildende Künstler wie Jeff Koons, Takashi Murakami oder Damien Hirst verwenden "Kitsch" als ironisches Ausdruckselement. Auch gegenwärtige Hollywood-Filme zitieren selbstironisch ihre kitschigen Vorgänger, und kein Schlager, der heute nicht schon mehrfach parodiert wurde. Eine ironische Brechung genügt und aus Kitsch wird Kult.

Doch bedeutet die reflektierte Interpretation von Kitsch die Aufhebung des echten Kitschs? Gibt es in der "Anything goes"-Kultur also keine Unterschiede mehr?


Unterschiedlicher Kitsch-Konsum

In der Vorweihnachtszeit lässt sich der Sozialindex eines Stadtviertels ziemlich genau an der Anzahl der bunt-blinkenden Lichterketten und der Plastikweihnachtsmänner, die die Hauswände emporklettern, bemessen. Auch wenn natürlich nie klar sein kann, ob die Haltung des Schmückenden eine spielerische oder ernste ist, steht doch zu vermuten, dass eine Vielzahl dieser Objekte nicht in selbstironischer Absicht auf den Balkonen aufgestellt und in den Fenstern angebracht wurden.

Es ist also der Umgang mit ästhetischen Objekten, der darüber entscheidet, um welche Art Kitsch es sich handelt. Denn süffisant genossener Kitsch, sprich als Kitsch erkannter Kitsch, ist etwas völlig anderes als naiv genossener. Dieser Kitsch-Konsum benutzt den Kitsch als eine ästhetische Ressource, hält aber zugleich Distanz zu dessen emotionalen Effekten: ein Augenzwinkern, ein raffiniert-ironisches Einbetten des Kitschobjekts in die seriöse Kultur, ein hochkomplexes symbolisches Verweissystem.

Der andere, vermeintlich "naive" Kitsch-Konsum kennzeichnet sich durch ernsthafte Wertschätzung und direkten Genuss: Handy-Schmuck, Plastikblumen, beleuchtete Kruzifixe oder André Rieu. Hier wird nichts ironisch gebrochen.

Doch auch wenn sich in der Postmoderne die traditionellen Grenzlinien zwischen Kitsch und Kunst verschieben, wird dadurch die scharfe kulturelle Trennung zwischen den Klassen nicht aufgehoben. Ganz im Gegenteil: Sie verschärft sich vielmehr.

Wenn sich soziale Distinktion und kulturelle Überlegenheit nicht länger aus einem kulturellen Kanon ableiten lassen, dann wird "Geschmack" zum einzigen Unterscheidungsmerkmal der Klassen. Geschmack ist aber kein angeborenes ästhetisches Vermögen, sondern vielmehr eine erworbene Disposition. Was heute zählt, ist das elegante und zwanglose Code-Switching. Dies setzt die Beherrschung aller Codes voraus, also einen privilegierten Zugang sowohl zur Populär- als auch zur Hochkultur: Ein Hase- und Igel-Rennen, das die Unterschichten niemals gewinnen können.

Diese Codes, die man kennen sollte, um zu verstehen, warum aus bestimmte Kitsch-Objekten irgendwann einmal Kult- oder Kunstobjekte werden, sind letztlich eben solche Instrumente sozialer Exklusion wie der Bildungskanon des 19. Jahrhunderts.

Aber dieser ironisch-witzige Umgang mit Kitsch, all die "bad taste"-Parties und die Genre-Parodien sind nicht nur Mechanismen des Ausschlusses, sie entpolitisieren auch die sozial-ökonomischen Unterschiede. Indem sie den schlechten Geschmack der Unterschichten lächerlich machen, deren vermeintliche Dummheit und Unkultiviertheit in Fernsehshows karikieren, wird das "Unterschichtendasein" als eine Lebensstil-Entscheidung porträtiert. Schlechter Geschmack und fehlende Bildung werden von den sozial-ökonomischen Verhältnissen abgekoppelt.

Nach der heute hegemonialen Kulturerzählung sind die, die Kitsch nicht ironisch brechen können, selbst schuld.


Jan Turowski (*1969) ist Politikwissenschaftler und Kulturtheoretiker und z.Zt. Associated Professor an der Nanjing University for Science and Technology (NJUST), China.

jan.turowski@snafu.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2012, S. 55-58
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2012