Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → SOZIOLOGIE

KULTUR/051: Interkulturelle Öffnung der Kulturinstitutionen (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2012

Zwischen Vorgabe und Selbstregulation
Interkulturelle Öffnung der Kulturinstitutionen

Von Azadeh Sharifi



Deutschland ist mittlerweile eine multi-ethnische Gesellschaft. Im Kulturbetrieb spiegelt sich das - bis auf einige Ausnahmen - aber längst noch nicht wider. Unsere Autorin analysiert die derzeitige Situation und entwickelt Lösungsvorschläge.

Deutschland hat seit der ersten Anwerbung sogenannter "Gastarbeiter" bis hin zum Bekenntnis, doch ein Einwanderungsland zu sein, einen sozialen Wandel durchlebt. Die deutsche Gesellschaft ist multi-ethnisch geworden. Jetzt gilt es, ergänzend zu Integrationsplänen und -gipfeln, von einem Zustand des bis dahin Besonderen zu einer Art Normalität zu gelangen, d.h. der Integration aller Bevölkerungsgruppen in Deutschland in alle Bereiche der Gesellschaft.

Mittlerweile hat sich auch das Verständnis von Integration verändert. Der auf gesellschaftlich komplexe und mehrschichtige Veränderungen hindeutende Begriff wird im deutschen Gesellschaftskontext als allumfassende Formel zur Lösung von vermeintlich ethnisch-kulturellen Problemen eingesetzt, die vielmehr sozialer Natur sind. Dabei wurde der Begriff Integration über lange Zeit vorrangig defizitär und mehr im Sinne einer Assimilation der Einwanderer interpretiert, einer Anpassung bis zur Unsichtbarkeit bzw. Aufgabe ihrer bisherigen kulturellen und sozialen Prägungen. Das Konzept verschiebt sich jedoch mehr und mehr zugunsten einer Anerkennung der heterogenen Erfahrungswelten von Einwanderern bis hin zur Aufwertung ihrer kulturellen und ethnischen Spezialkenntnisse als ökonomische und gesellschaftliche Ressource. Die zunehmend positive Besetzung von Mehrsprachlichkeit und Interkulturalität könnte den weitverbreiteten, meist negativ besetzten Klischeebildern von Menschen mit "Migrationshintergrund" entgegengesetzt werden. Die Chancen von Partizipation, also der aktiven Teilhabe von Migranten in allen Bereichen der deutschen Gesellschaft, könnten so signifikant erhöht werden.


Gestiegenes Bewusstsein für vorhandene Defizite

Für eine Teilhabe bedarf es zunächst der Ermöglichung des Zugangs, denn in vielen Gesellschaftsbereichen reicht die einfache (Auf-)Forderung zur Beteiligung nicht aus. Hinzukommen muss vielmehr die explizite Einbindung, um Partizipation zu ermöglichen, vor allem durch den Abbau von Barrieren.

So war gerade in der deutschen Kulturlandschaft und insbesondere in den offiziellen Institutionen, wie den deutschen Theaterbühnen - und hier insbesondere den Stadt- und Staatsbühnen -, die Teilhabe von Künstlerinnen und Künstlern sowie Publikum mit Migrationshintergrund lange Zeit nicht selbstverständlich. Seit einigen Jahren gibt es hier aber ein gestiegenes Bewusstsein für bestehende Defizite und den Willen, diese zu beseitigen. Eine Studie des Zentrums für Audience Development (ZAD) am Institut für Kultur- und Medienmanagement der Freien Universität Berlin untersuchte 2009 "Migranten als Publikum in öffentlichen deutschen Kulturinstitutionen". Zwar zeigt die Studie, dass das Thema "Migration" in deutschen Kulturinstitutionen angekommen ist. Diese gaben an, dass sie sich mit Migranten als Publikum beschäftigen, weil es sinnvoll und gesellschaftlich erwünscht sei, einen Beitrag zur Integration von Migranten darstelle und so neue Zielgruppen erschlossen werden könnten. Jedoch konnte kaum eine Kulturinstitution den Anteil ihrer Besucher mit Migrationsbiografie benennen. Zudem gab der Großteil an, dass es einen generellen Entwicklungsbedarf bei dieser Thematik in den Kulturinstitutionen gäbe.

Ein weiteres Defizit, auf das die Studie hinweist, ist das Fehlen von Konzeption und Richtlinien in den städtischen Kulturämtern, wobei gerade in den letzten drei Jahren ein starker Wandel zu erkennen ist. Es kann aber immer noch angenommen werden, dass zwar eine generelle Auseinandersetzung mit den Themen Teilhabe und Zugang für Besucher mit Migrationshintergrund stattfindet, diese jedoch nicht messbar und damit auch nicht weiter untersuchbar sind. Eine entscheidende Frage ist daher m.E. die nach dem Kulturinteresse und der Kulturnutzung von Migranten. In biografisch-qualitativen Interviews mit Migranten der zweiten Generation mit hoher schulischer Ausbildung und einem ausgewiesenen Kulturinteresse hinsichtlich des Interesses an und der Nutzung von Theater lassen sich zwar drei verschiedene Typologien mit insgesamt unterschiedlichen Präferenzen erkennen, die Befragten wiesen jedoch alle eine große Gemeinsamkeit in ihrem Kulturinteresse auf. Sie hatten eine deutsche Sozialisation (meist) durch die schulische Curricula durchlaufen und brachten gleichzeitig die kulturelle Prägung ihrer Familien mit. Ihre Erfahrungswelt besteht, laut Homi K. Bhabha, also aus sich überlappenden (overlap and displacement) und ineinander übergehenden (in-between) kulturellen Erfahrungen. Homi K. Bhabha, Direktor des Humanities Center an der Harvard-Universität, hat in seinen Studien eine Reihe von Konzepten entwickelt, um das bis heute nachwirkende Machtgefüge des Kolonialismus und die daraus resultierende weltweite Migration zu beschreiben. Bhabha kritisiert das Model einer kulturellen Identität im Herderschen Sinne und schlägt stattdessen eine stetige Verhandlung dieser durch einen kontinuierlichen Austausch von kulturellen Erfahrungen vor, die durch die kulturelle Differenz entstehen.

Diese inter-kulturelle Erfahrung spielte auch in ihrer kulturellen Präferenz eine entscheidende Rolle. Eine Signifikante ist die beinahe durchweg gestellte Forderung nach einer Repräsentation ihrer Lebenswelt in den künstlerischen und ästhetischen Positionen der Theaterhäuser.

Nun gehen die Meinungen darüber auseinander, ob die Repräsentation der Personen und Themen in der Theaterszene nicht bereits ausreichend gegeben sind. Sicherlich sind in der Freien Szene viele Künstlerinnen und Künstler mit sogenanntem Migrationshintergrund aktiv. Die Studie "Report Darstellende Künste" (2010), die vom Fonds Darstellende Künste herausgegeben wurde, belegt, dass Künstlerinnen und Künstler mit Migrationsbiografie in der freien Theater- und Tanzszene im Verhältnis zu ihrem Anteil in der bundesweiten Gesamtbevölkerung angemessen vertreten sind. Anders sieht es demgegenüber in den Staats- und Stadttheatern aus. Aus der Infrastrukturerhebung des Zentrums für Kulturforschung "Lernorte oder Kulturtempel. Bildungsangebot in klassischen Kultureinrichtungen" (2010) von Susanne Keuchel und Benjamin Weil geht hervor, dass zwar über 60% der Theater Personen mit Migrationsbiografie beschäftigen, diese aber nur rund 14% der Mitarbeiter ausmachen. Zudem werden darunter auch Mitarbeitende in Verwaltung und Technik subsummiert. Letztendlich gibt es also nur recht wenige Künstlerinnen und Künstler mit Migrationsbiografie an deutschen Stadt- und Staatstheatern. In unterschiedlichen Debatten ist vermehrt der Frage nach diesem Defizit nachgegangen worden. Neben der Notwendigkeit deutscher Sprachkenntnisse wird seitens der Theaterintendanten auf die künstlerische Qualität hingewiesen, die bei der Auswahl der Kunst und der Künstlerinnen im Vordergrund stehe. Mittlerweile sprechen die "postmigrantischen" Künstlerinnen, die meist durchweg in Deutschland geboren sind und hier eine akademische und künstlerische Ausbildung genossen haben, ironisch von einer "kollektiven Talentlosigkeit", die ihnen scheinbar bei ihrem Einstieg in die Stadt- und Staatstheater im Wege stehe. Denn ihre Sprachkenntnisse und künstlerischen Befähigungen haben sie jedenfalls nicht daran gehindert, an deutschen Universitäten oder Schauspielschulen einen erfolgreichen Abschluss zu erlangen.

Künstlerinnen und Künstler mit Migrationsbiografie sind also eher in der Freien Szene anzutreffen. Diese ist im Vergleich zu den deutschen Stadtbühnen flexibler und internationaler, allerdings leben die Künstler hier zumeist unter prekären Bedingungen, da ihre künstlerische Arbeit meist nur durch Projekt- oder Einzelförderung finanziert wird.


Kulturpolitische Vorgaben für Partizipation

Die Forderung nach mehr Repräsentation einerseits und die tatsächlich noch vorhandene Unterrepräsentation, zumindest in den Staats- und Stadttheatern, geht mit verschiedenen kulturpolitischen Bemühungen einher, eine stärkere Beteiligung von Migranten in den deutschen Kulturinstitutionen zu erreichen. Nordrhein-Westfalen nimmt dabei eine besondere Stellung im Prozess einer Installierung von notwendigen Instrumentarien zur Mitgestaltung einer multi-ethnischen Gesellschaft ein. In der Senatskanzlei von Nordrhein-Westfalen gibt es seit längerem das Referat für Interkultur, das mit interkulturellen Handlungskonzepten den Kunst- und Kulturinstitutionen zur Seite steht. Die Repräsentation der in NRW besonders ausgeprägten multi-ethnischen Gesellschaft wird durch kulturpolitische Vorgaben bei der inhaltlichen Ausrichtung der Kulturinstitution, wie auch durch die Förderung von auf alle Gesellschaftsgruppen hinzielenden Kulturprojekten angestrebt. Auch auf städtischer Ebene, wie beispielsweise in Köln, wirkt sich diese Konzeption aus. So gibt es dort im Kulturamt ein Referat für interkulturelle Kunstprojekte, die die Vielfalt der Kulturen in Köln fördert. Ende 2011 ist zudem die Akademie der Künste der Welt, Köln gegründet worden, deren Ziel die Stärkung der lokalen und somit verschiedenen Kulturen in Köln ist. Schließlich wird auch bei der Vergabe der Leitung von Kulturinstitutionen auf eine interkulturelle Konzeption geachtet.

Eine ähnliche Vorgabe wird z.B. in Großbritannien verfolgt. Dort hat das Arts Council, die britische Agentur für die Vergabe von Kulturförderung in den letzten Jahren seinen Förderschwerpunkt auf cultural diversity und damit auf britische Künstler mit afrikanischer, asiatischer und karibischer Herkunft (black artists) gelegt. Es wurden zeitweise nur Projekte gefördert, die sich mit der kulturellen Vielfalt beschäftigten.

Ferner wurde die Intiative Decibel ins Leben gerufen, die gegen die Unterrepräsentation ethnischer Minderheiten in der Kunst angehen soll. Mit der Initiative sollten drei Bereiche gefördert werden: die Repräsentation von black artists in allen Hierarchiestufen der Theaterhäuser, ihre künstlerische Arbeit und schließlich der Zugang zu ihrer Kunst für eine breite Öffentlichkeit. Diese wird in Form von Theaterfestivals (decibel Performing Arts Showcase), Konferenzen mit Kulturschaffenden und Kulturpolitikern sowie dem Künstlerprogramm (Visual Arts decibel awards) umgesetzt. Neben dem Programm gab es eine gezielte Projektförderung für cultural diversity. Die Bemühungen des Arts Council wurden aber nicht immer positiv aufgenommen. So haben vor allem betroffene Künstlerinnen und Künstler moniert, dass ihre Kunst nur aufgrund ihrer ethnischen Herkunft gefördert und die künstlerische Qualität ihrer Arbeit damit angezweifelt werde. Diese Auseinandersetzung führte aber dazu, dass Strukturen in den Kulturinstitutionen infrage gestellt wurden und eine Veränderung hin zur Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen gezielt von Politik und Kultur angestrebt wurde.

Es ist offensichtlich ein Balanceakt, eine vernachlässigte, keinesfalls homogene Gruppe so zu fördern, dass sie zu einem "natürlichen" Teil der Kulturszene wird. Dabei muss ein Weg zwischen Vorgabe und Selbstregulation gefunden werden. Es sollte, wie die Kritiken am englischen Weg der Förderung von cultural diversity belegen, kein "extra Topf" eröffnet werden, der die Künstler mit Migrationsbiografie noch mehr aus dem Mainstream ausgrenzt. Es bedarf aber trotzdem einer bewussten Auseinandersetzung durch Kulturpolitik und die Kulturinstitutionen für eine aktive Teilhabe von Kulturschaffenden und Besuchern im Kunstbetrieb. Im Falle des Theaters geht es nämlich eben nicht nur darum, wer auf der Bühne steht, sondern wer die künstlerische Leitung innehat, wer und vor allem wie die künstlerischen Positionen des Theaterhauses vermittelt werden. Nur durch die Veränderung von personellen, strukturellen und künstlerischen Routinen in den Künstierinstitutionen kann letztlich eine angemessene Repräsentation der multi-ethnischen deutschen Gesellschaft erreicht werden.

Azadeh Sharifi (*1980) hat Germanistik, Philosophie und Jura studiert und über kulturelle Partizipation von Migranten promoviert. Zurzeit ist sie beim Forschungsprojekt "Strukturwandel europäischer Theaterhäuser" des Internationalen Theaterinstituts (iTi) Zentrum Deutschland tätig. Bei der Ausstellung "Eine Art Aufruhr" war sie im Kuratorenteam.(azadeh_sharifi@web.de)

*

Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2012, S. 98-101
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und
Peter Struck
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53
Telefax: 030/26 935-92 38
ng-fh@fes.de
www.ng-fh.de
 
Die NG/FH erscheint monatlich, wobei die Hefte 1+2
und 7+8 im Januar bzw. Juli als Doppelheft erscheinen.
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. August 2012