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MELDUNG/2115: Trauerspiel in London (SB)



Tony Bellew besiegt verletzten David Haye

In einem Kampf des Schwergewichts, der in der Londoner O2 Arena über die Bühne ging, hat sich der als Außenseiter gehandelte Tony Bellew überraschend gegen den früheren Weltmeister David Haye durchgesetzt. Der Favorit zog sich in der sechsten Runde eine Verletzung an der Achillessehne zu, die ihn in der Folge zu einem statischem Ziel machte. Dennoch brauchte der amtierende WBC-Champion im Cruisergewicht noch weitere fünf Durchgänge, bis er den Gegner schließlich in der elften Runde zur Aufgabe gezwungen hatte. Wenngleich das Ergebnis regelkonform herbeigeführt wurde, kann man doch schwerlich von einem Sieg des besseren Boxers sprechen.

Nachdem die Kontrahenten im Vorfeld mit ihren Äußerungen für jede Menge böses Blut gesorgt hatten, gingen sie von Beginn an heftig aufeinander los. Der 36jährige Haye versuchte sofort, seine Ankündigung in die Tat umzusetzen, er werde Bellew umgehend auf die Bretter schicken, verfehlte den Gegner jedoch in der ersten Runde zu oft. Im nächsten Durchgang hatte er sich besser eingeschossen, doch der zwei Jahre jüngere Liverpooler steckte alles weg und boxte beherzt mit. Nachdem Bellew in der dritten Runde seinerseits einige Treffer ins Ziel gebracht hatte, schien es in der vierten beinahe um ihn geschehen zu sein. Von einer Rechts-Links-Kombination schwer erschüttert, taumelte er zurück, konnte sich aber auf den Beinen halten. Dieses Bild setzte sich im nächsten Durchgang fort, als er an den Seilen eine weitere schwere Rechte einstecken mußte.

Die Wende kam in der sechsten Runde, als Haye ausrutschte und sich danach kaum noch aufrecht halten konnte. Obgleich der Londoner wenig später zweimal ohne Schlageinwirkung zu Boden ging und in der Folge ein unbewegliches Ziel bot, setzte er den Kampf tapfer fort. Im siebten Durchgang erzielte Bellew einen regulären Niederschlag, doch Haye kam rechtzeitig wieder auf die Beine und versuchte weiterhin, den Gegner mit wuchtigen Treffern in Bedrängnis zu bringen. Da er sich jedoch allenfalls humpelnd fortbewegen konnte und größtenteils stehenbleiben mußte, lief der Liverpooler nicht länger Gefahr, die Segel streichen zu müssen.

Der Kampf unter nunmehr höchst ungleichen Voraussetzungen zog sich noch bis zur elften Runde hin. Nach einer Kombination Bellews, mehr noch aber aufgrund seiner Erschöpfung, stürzte Haye durch die Seile, worauf sein Trainer Shane McGuigan genug gesehen hatte und das Handtuch zum Zeichen der Aufgabe warf, als sein Boxer zurück in den Ring kletterte. Nach monatelangen Anfeindungen und einem dramatischen Kampfverlauf umarmten die Kontrahenten einander und setzten damit ein Zeichen der Versöhnung.

Wie David Haye im anschließenden Interview mit Sky Sports Box Office freimütig einräumte, habe er nicht mit der Standhaftigkeit und dem Durchhaltevermögen Bellews gerechnet, der an diesem Abend der bessere Boxer gewesen sei. Wenngleich er sich selbst für talentierter halte, habe sein Gegner ein Kämpferherz unter Beweis gestellt und selbst schwerste Treffer verkraftet. Nach dieser Niederlage sei der erhoffte Titelkampf in weite Ferne gerückt. Im Hochgefühl seines Sieges zollte Bellew dem Gegner Respekt und erklärte sich zu einer Revanche bereit. Während Haye jedoch Bescheidenheit an den Tag gelegt und seine schwere Verletzung nicht zum Thema gemacht hatte, um den Erfolg des Kontrahenten zu schmälern, konnte der Liverpooler wie so oft nicht an sich halten. Wie Tony Bellew verkündete, sei er nun der wertvollste Schwergewichtler der Branche, wenn man einmal von den Weltmeistern absehe. Obgleich er in erster Linie deswegen gewonnen hatte, weil sein Gegner sich kaum mehr bewegen konnte, strapazierte er die Geduld der Zuschauer bei der anschließenden Pressekonferenz fast eine Stunde lang mit triumphierenden Einlassungen, er fürchte keinen Gegner und werde jeden niederwerfen.

Das traurige Fazit des Kampfs betrifft jedoch weniger die ohnehin bekannte Selbstüberschätzung Bellews, sondern vielmehr die Situation David Hayes. Offenbar hatte er schon vorher an Problemen mit der Achillessehne laboriert, da er wenige Tage vor seinem Auftritt nach Deutschland geflogen war, um einen Spezialisten zu Rate zu ziehen. Nach zwei Schulteroperationen seit 2012 und der neuerlichen Verletzung ist ungewiß, ob er seine Karriere erfolgreich fortsetzen oder gar um einen Titel kämpfen kann. Im schlimmsten Fall war dies die Abschiedsvorstellung des Londoners, der sich unter widrigsten Umständen einem Gegner geschlagen geben mußte, der andernfalls kaum zwölf Runden mit ihm überstanden hätte. [1]


Fußnote:

[1] http://www.boxingnews24.com/2017/03/heart-lion-haye-hands-hollow-victory-bellew/#more-22923

6. März 2017


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