Schattenblick → INFOPOOL → SPORT → BOXEN


MELDUNG/2205: Der Jäger stellt dem Bären nach (SB)



Manuel Charr gegen Alexander Ustinow um den vakanten WBA-Titel

Zu den Titeln, die offenbar niemand haben will, gehört der Gürtel des regulären Weltmeisters der WBA im Schwergewicht. Das liegt natürlich daran, daß der sogenannte Superchampion dieses Verbands, nämlich Anthony Joshua aus England, weithin als einzig relevanter Akteur an der Spitze der WBA und IBF angesehen wird. Kaum jemand interessiert sich noch für die zweitrangige Trophäe, deren Bedeutung dem breiteren Boxpublikum völlig abhanden gekommen sein dürfte. Was dem Verband, der bei allen von ihm sanktionierten Titelkämpfen prozentual mitkassiert, als zusätzliche Einnahmequelle dient, bietet Kandidaten der allenfalls zweiten Garnitur zumindest eine Gelegenheit, sich weltmeisterlich in Szene zu setzen, wenn es auch nur um einen Status von eingeschränkter Bedeutung geht.

Nachdem dieser Titel über 18 Monate vakant war und mehrere Versuche, einen neuen Champion zu küren, gescheitert sind, kommt es nun endlich zur Neuvergabe in einem Kampf zwischen Alexander Ustinow und Manuel Charr, der in Oberhausen ausgetragen wird. Der 40jährige Russe lebt in Minsk (Belarus) und hat 34 Siege sowie eine Niederlage vorzuweisen. Für den sieben Jahre jüngeren gebürtigen Libanesen aus Köln stehen 30 gewonnene und vier verlorene Auftritte zu Buche.

Wie ein kurzer Blick auf die Vorgeschichte zeigt, glich die Vergabe des Titels in jüngerer Zeit einer Achterbahnfahrt mit ständig wechselnden Perspektiven. Letzter offizieller Champion war Ruslan Tschagajew, der sich dem Australier Lucas Browne nach einem turbulenten Gefecht geschlagen geben mußte. Der Usbeke lag bei allen drei Punktrichtern in Führung, als er plötzlich nach einem Volltreffer in der zehnten Runde auf den Brettern landete. Browne war damit als erster Schwergewichtler seines Landes Weltmeister geworden, doch währte seine Siegesfreude nur kurze Zeit, da er über den Dopingtest stolperte. Die WBA zog vernünftige Konsequenzen und wollte Tschagajew den Gürtel zurückgeben, was jedoch daran scheiterte, daß der Usbeke seine Karriere für beendet erklärte. Unterdessen beharrte Browne auf seiner Unschuld und führte den Befund auf eine kontaminierte Mahlzeit, wenn nicht gar gezielte Einflußnahme des gegnerischen Lagers zurück. Als er nicht lockerließ, schenkte ihm der Verband schließlich Glauben und gewährte ihm eine erneute Titelchance.

An Interessenten mangelte es nicht, doch sobald sich eine Lösung abzuzeichnen schien, kam wieder etwas dazwischen. Luis Perez machte seine Ansprüche geltend, dann aber ebenso einen Rückzieher wie David Haye, der es nach anfänglicher Bereitschaft schließlich doch vorzog, auf seinen britischen Landsmann Tony Bellew zu warten. Die Wahl fiel letztendlich auf den Veteranen Shannon Briggs, der im November 2016 gegen Lucas Browne antreten sollte. Wenige Wochen vor dem anberaumten Termin wurde der Australier jedoch erneut positiv getestet, so daß der Kampf abgesagt werden mußte und der Titel vakant blieb.

Mit von der Partie war kurioserweise nach wie vor Fres Oquendo, der 2014 in Grosny gegen Tschagajew verloren hatte. Da die Wertung umstritten gewesen war, reichte er Klage ein und bekam vor einem US-amerikanischen Gericht Recht, das ihm den Anspruch auf einen erneuten Kampf um diesen Titel zusprach. Wenngleich er seither nicht mehr im Ring gestanden hatte, kam die WBA nicht umhin, ihn als Gegner für Shannon Briggs zu nominieren und einen Termin im Juni 2017 anzuberaumen. Das Problem war jedoch, daß im Reglement für die Versteigerung der Austragungsrechte eines Titelkampfs im Schwergewicht ein Mindestgebot von einer Million Dollar festgelegt ist. Welcher Promoter würde soviel Geld für einen Kampf investieren, den niemand sehen will? Und in der Tat verstrich die angesetzte Versteigerung ergebnislos. Dennoch wurde einen Monat später irgendwie eine Übereinkunft erzielt und die Austragung angesetzt. Diesmal war es Shannon Briggs, der wenige Wochen vor dem geplanten Kampf am Dopingtest scheiterte. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, Einwände zu erheben, worauf der Titel abermals vakant blieb.

Nun sollen es also Alexander Ustinow und Manuel Charr richten, die keine Vorgeschichte in punkto Doping haben. Beide gehören nicht der Elite ihrer Gewichtsklasse an, sind aber respektable Kandidaten. Charr mußte sich 2012 in Moskau dem damaligen WBC-Weltmeister Vitali Klitschko durch technischen K.o. geschlagen geben. 2014 unterlag er Alexander Powetkin, 2015 Johann Duhaupas und dem Cruisergewichtler Meiris Briedis, worauf seine Karriere beendet zu sein schien. Im September 2015 kämpfte er um sein Leben, nachdem er in einem Imbiß in Essen niedergeschossen und dabei lebensgefährlich verletzt worden war. Er kehrte dennoch in den Ring zurück und gewann im Frühjahr 2016 einen Kampf, worauf er sich im Sommer auch gegen den zuvor ungeschlagenen Schweizer Sefer Seferi durchsetzte. Im Mai 2017 wurden ihm aufgrund einer starken Dysplasie zwei neue Hüftgelenke eingesetzt.

Zuletzt profitierte Charr von den Sperren der in der WBA-Rangliste vor ihm plazierten Luis Ortiz und Shannon Briggs, deren Titelkämpfe deswegen abgesagt wurden. Durch den Ausschluß von Briggs rückte Charr von Platz sechs auf vier vor, so daß der Kampf gegen Ustinow möglich wurde. Der Russe hat seine einzige Niederlage im Jahr 2012 gegen den Bulgaren Kubrat Pulew bezogen. Zuletzt gelang es ihm, nach einer langen Pause von 18 Monaten im Mai 2017 Raphael Zumbeano Love gleich in der ersten Runde zu besiegen. Love ist zwar nichts Besonderes, aber immerhin mit Shannon Briggs und Andy Ruiz über die volle Distanz sowie mit Charles Martin über zehn Runden gegangen. Das läßt den Schluß zu, daß mit Ustinow nach wie vor zu rechnen ist. [1]

Der mit einer imposanten Größe von 2,02 m neun Zentimeter größere und bei einem Gewicht von rund 136 kg etwa 30 kg schwerere Russe dürfte schon aufgrund seiner Körpermaße als Favorit in den Ring steigen. Manuel Charr, der Erfahrung mit hochkarätigen Kontrahenten hat, will diese physischen Vorteile des Gegners nicht gelten lassen: "Er ist ein Bär, aber ich bin ein Jäger", erklärt der Kölner, der sich in seiner Lebensgeschichte von Rückschlägen nie einschüchtern ließ.


Fußnote:

[1] http://www.boxingnews24.com/2017/11/ustinov-vs-charr/#more-248004

24. November 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang