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MELDUNG/2226: Schwergewicht - Rettungsanker gesucht ... (SB)



Dereck Chisora will noch einmal Tritt fassen

Mit einer Bilanz von 27 Siegen und acht Niederlagen ist der 34jährige britische Schwergewichtler Dereck Chisora auf den ersten Blick nicht gerade ein Kandidat für hochkarätige Kämpfe und lukrative Börsen. Andererseits hat er zwar in den wichtigsten Auftritten seiner Karriere durchweg den kürzeren gezogen, es aber dank seiner ungestümen und bisweilen brachialen Vorstellungen immer wieder geschafft, sich ins Gespräch zu bringen. Zumindest in England oder auf europäischer Ebene fiel die Wahl nicht selten auf ihn, wenn ein handfester Gegner mit einem geläufigen Namen gesucht wurde, der den Prüfstein für einen erfolgreicheren Rivalen abgeben sollte. Da er jedoch drei seiner letzten fünf Kämpfe verloren hat, wird es eng für Chisora: Will er tatsächlich noch einmal an die Fleischtöpfe vorrücken, bedarf es schon eines Paukenschlags, der ihn dem breiteren Publikum in Erinnerung bringt und womöglich sogar einem der Platzhirsche als Herausforderer anempfiehlt.

Sein Gastspiel in Monte Carlo am 4. November stand unter einem schlechten Stern. Galt der zuvor in 16 Kämpfen ungeschlagene Agit Kabayel als lösbare Aufgabe, so hatte er am Ende zur allgemeinen Überraschung knapp nach Punkten die Nase vorn, obwohl er nicht besser als der favorisierte Brite war. Chisora hatte schlichtweg zu wenig angegriffen und nicht genügend Druck ausgeübt, so daß ihn der Gegner ausboxen konnte. Insbesondere in der Anfangsphase gab der Brite zu viele Runden ab und hielt sich zurück, als sei es beschlossene Sache, daß Kabayel früher oder später auf den Brettern landen würde. Als ihm die Felle zusehends wegschwammen, wollte Chisora einen Niederschlag erzwingen, was ihm jedoch nicht gelang. Wie er sich später beklagte, sei der Gegner ständig weggelaufen. Er habe in Monaco einfach einen schlechten Tag erwischt, sei aber nicht wirklich besiegt worden und ohne jeden Kratzer in die Kabine zurückgekehrt.

Ein idealer Widerpart war Kabayel sicher nicht, da Chisora am liebsten jemanden vor den Fäusten hat, mit dem er sich einen Schlagabtausch ohne allzu große Finessen liefern kann. Jedenfalls wünscht er sich im ersten Quartal des neuen Jahres einen bedeutenden Kampf über die volle Distanz, um seine Karriere wieder in Schwung zu bringen. Dann werde der Teufel zum Vorschein kommen, wie er es den Fans schulde, die etwas Handfestes brauchten, wofür sie ihn hassen können. Was Dereck Chisora eher andeutet als hinlänglich beschreibt, ist die Qualität eines Boxers, den Part des Bösewichts zu verkörpern, der das Publikum viel mehr in seinen Bann schlägt, als biedere Sportlichkeit. Floyd Mayweather, der in seiner Karriere vermutlich mehr Geld verdient hat, als der Rest der Branche zusammengenommen, dürfte unter den Fans weit mehr Feinde als Freunde gehabt haben. Gerade deswegen zahlten sie jeden Preis, den er verlangte, um ihn verlieren zu sehen, was jedoch nie geschah. Mit nur zwei Auftritten pro Jahr stieg er zum bestverdienenden Sportler weltweit auf und hat allein im Kampf gegen Manny Pacquiao geschätzte 500 Millionen Dollar verdient.

Davon ist Dereck Chisora boxerisch und finanziell Lichtjahre entfernt, doch zeichnet ihn seit jeher der Ruf aus, in jungen Jahren auf die schiefe Bahn geraten zu sein und sich durch den Boxsport gerettet, aber seine damaligen Charakterzüge nie ganz abgelegt zu haben. Er gibt bei Bedarf den wilden Mann, bis das Publikum tobt und nicht mehr unterscheiden kann, ob es für oder gegen ihn schreit. Doch dafür braucht er eben ein Pendant wie David Haye mit seinen gewaltigen Schwingern oder einen Draufgänger wie Dillian Whyte, mit dem er sich in einem der spannendsten Kämpfe des Jahres 2016 unablässig geprügelt hat. Zwei Schwergewichtler, die zwölf Runden lang keine nennenswerte Pause einlegen, um sich zu erholen, hatte man gefühlte Jahre nicht mehr erlebt. Wenngleich allenfalls insofern von Taktik die Rede sein konnte, als sie beiderseits Sturmangriff hieß, und die Technik vor allem darin bestand, härter zu schlagen als der Gegner, kamen die Zuschauer an diesem durchaus denkwürdigen Abend auf ihre Kosten.

Chisora verlor wohl nur deswegen umstritten nach Punkten, weil Whyte bei Eddie Hearn unter Vertrag steht und eine maßgebliche Rolle in dessen Plänen spielt, um seine Goldgrube Anthony Joshua herum eine Art Leibgarde weiterer namhafter Schwergewichtler zu scharen, die gewissermaßen im Vorzimmer des Weltmeister gebetene und ungebetene Gäste vorsortieren oder ausbremsen. Neben Dillian Whyte sind dies inzwischen auch der Kubaner Luis Ortiz und der US-Amerikaner Jarrell Miller, mit deren Hilfe Hearn insbesondere Deontay Wilder auszusteuern versucht, den WBC-Champion aus Alabama. Er hätte auch Tyson Fury gerne verpflichtet, der auf die Avancen Hearns jedoch nicht einging.

Vor allen Dingen wünscht sich Chisora eine Revanche mit Dillian Whyte, die er durchaus für möglich hält, da sie vor britischem Publikum genug Geld einspielen würde. Er ist in seiner Karriere an einem Punkt angelangt, an dem das in der Tat die einzig absehbare Option ist, einen attraktiven Kampf zu bekommen. Eddie Hearn könnte es natürlich vorziehen, ihm Jarrell Miller als Gegner vorzuschlagen, doch wäre damit kein großes Geschäft zu machen. Davon abgesehen ist der 29jährige US-Amerikaner jünger, größer und stärker als Chisora, der dabei höchstwahrscheinlich überfordert wäre.

Ferner ist Dereck Chisora der Auffassung, daß ihm auch Tyson Fury noch einen Kampf schuldig sei, gegen den er allerdings bereits zweimal verloren hat. Aus dessen Sicht macht eine dritte Auflage überhaupt keinen Sinn, sofern er sie nicht als Aufbaukampf gebrauchen könnte, um sich in Form zu bringen. Nach Einschätzung Chisoras kann Fury derzeit allenfalls bellen, aber noch lange nicht beißen. Er brauche bestimmt noch zwei oder drei Auftritte zur Vorbereitung, bevor er dann vermutlich erst 2019 daran denken könne, einen wichtigen Kampf zu bestreiten. Diese Prognose könnte durchaus zutreffen, wenngleich Fury jüngst versichert hat, er könne und wolle sich bereits im Sommer mit Anthony Joshua messen. Ein wesentlicher Aspekt solcher Ankündigungen dürfte dem Interesse geschuldet sein, fortlaufend in den sozialen Medien präsent zu bleiben, um das Interesse des Publikums wachzuhalten. Die absehbare Gefahr besteht natürlich darin, den Bogen zu überspannen, wenn den Worten keine Taten folgen, und sich in den Augen der Fans zum Gespött zu machen. [1]

Was seinen Lieblingsfeind Dillian Whyte betrifft, provoziert ihn Chisora mit der Charakterisierung, dieser trainiere nicht wie ein Boxer, sondern wie ein Model. Tag für Tag forme er seinen Körper, als sei er ein Bodybuilder. Tatsächlich scheint Whyte in jüngster Zeit dem Beispiel Anthony Joshuas zu folgen und Wert auf ein muskulöses Erscheinungsbild zu legen. So sah er in seinem letzten Kampf gegen Robert Helenius aus, als habe er viel mit Eisen gearbeitet, was ihn jedoch keinesfalls zu einem besseren Boxer gemacht hat. Wenngleich er dem Finnen das Nachsehen gab, mußte er dabei eine Menge Schläge einstecken. Um Dillian Whyte abermals vor die Fäuste zu bekommen, müßte Chisora wohl zuvor eine gute Vorstellung gegen einen halbwegs bekannten Kontrahenten geben. Das ist freilich leichter gesagt als getan, da selbst ein solcher Türöffner dem Publikum schmackhaft gemacht werden muß, um seine Funktion zu erfüllen. Whyte bietet sich angesichts ihres spannenden Kampfes und dessen umstrittenen Ausgangs fast wie von selbst als Revanche an. Während dieses Duell aus Sicht Chisoras ein Rettungsanker sein könnte, hätte Whyte dabei mehr zu verlieren als zu gewinnen. Eddie Hearn hat ihn Deontay Wilder als Vorspeise angeboten, der als Hauptgericht Anthony Joshua folgen würde. Der WBC-Weltmeister wies dieses Ansinnen jedoch mit dem nachvollziehbaren Argument zurück, er sei genau wie Joshua ein Weltmeister und brauche sich nicht über einen zweitklassigen Gegner zu qualifizieren. White führt seit dem Sieg über Helenius die WBC-Rangliste an und ist ein Joker in Händen seines Promoters. Ob er doch noch einmal gegen Chisora ausgespielt wird, legt nicht in dessen Ermessen.


Fußnote:

[1] www.boxingnews24.com/2018/01/dereck-chisora-wants-big-12-round-fight/#more-252394

10. Januar 2018


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