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KOMMENTAR/037: Fußballfans, Assis, Hartz-IV-Empfänger und Rechtsradikale in einem Topf (SB)



Als vor wenigen Wochen aufgrund einer technischen Panne ein Livestream des Radiosenders MDR 1 Sachsen-Anhalt unzensiert über den Online-Äther ging, war die Peinlichkeit groß. Im Anschluß an das Fußball-Regionalliga-Spiel Hallescher FC gegen VFC Plauen hatten Halle-Anhänger den Platz gestürmt. Ein MDR-Reporter, der mit einem Kollegen am anderen Ende der Leitung sprach und sich von den Ohren der Öffentlichkeit ungehört wähnte, kommentierte damals das Geschehen mit den Worten: "Uli, das ist doch dein Thema: Randalierende Fußballfans, Assis, Hartz-IV-Empfänger und äh Rechtsradikale." Im Jovialton fügte er wenige Sekunden später noch an: "Ja, soll ich das sagen? Man kann sie eigentlich alle in einen Topf werfen, Hartz-IV-Empfänger, Rechtsradikale ... ja okay, dann laß es uns schnell machen ..."

Insbesondere die Verunglimpfung von Hartz-IV-Empfängern ("Assis" = Kurzform für Asoziale und "randalierende Fußballfans" sind im bürgerlichen Wertekanon bereits feststehende Größen für außerhalb oder am Rand der Gemeinschaft stehende Menschen), die auf eine Stufe mit "Rechtsradikalen" gestellt wurden, sorgte für einen handfesten Eklat, den der MDR erhebliche Mühe hatte, wieder aus der Welt zu schaffen. Ein Video-Mitschnitt, der kurz auf Youtube zu sehen war, wurde auf Wunsch des MDR, angeblich aus urheberrechtlichen Gründen, rasch wieder gelöscht. Dr. Winfried Bettecken, Chef des MDR 1 Radio Sachsen-Anhalt, entschuldigte sich öffentlich "im Namen des Senders und des Reporters von Herzen für diesen Vorfall" und beteuerte - natürlich fern davon, "rechtfertigen oder relativieren" zu wollen -, "dass es sich bei dieser Äußerung nicht um das Gedankengut des Reporters" gehandelt habe. "Das mögen Sie daran erkennen, dass seine Familie ebenso hart von Arbeitslosigkeit betroffen ist. Ihm liegt es völlig fern, Betroffene von Hartz IV zu diskriminieren, dies entspricht nicht seinem Denken, nicht seiner Arbeitsweise. Deshalb kann ich Ihnen versichern, dass der Reporter selbst zutiefst beschämt über seine Äußerung ist." (zitiert nach www.elo-forum.org, 10.6.09)

Mag man auch in Rechnung stellen, daß sich der Reporter nur einem Arbeitskollegen mit lockeren Sprüchen anbiedern wollte, so werfen seine Äußerungen dennoch ein Schlaglicht darauf, wie sehr die im März 2003 von der rot-grünen Regierung eingeleitete Arbeitsmarktreform unter dem Titel "Agenda 2010" ihr den Sozialstaat zersetzendes Gift entfaltet und sich bis in das Bewußtsein selbst von Menschen gefressen hat, deren Familien unmittelbar von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Wenn es sich bei der Äußerung des Sportreporters nicht um sein Gedankengut gehandelt haben soll, so ist doch wohl zu fragen, wessen Gedankengut sie dann entspringt?

Nicht nur für die ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürger haben sich die von der Kohl-Regierung versprochenen "blühenden Landschaften" als politisch wohlfeiles Trugbild erwiesen. Der Ideologie des neoliberalen Wettbewerbsstaates folgend, wurden unter der Schröder-Regierung die Ossis und Wessis gleichermaßen an der Nase herumgeführt, indem die als alternativlos dargestellte Sozialsystem- und Arbeitsmarktreform zum Segen für die Menschen erklärt wurde. So hat sich ein Sozialhilfe- und Arbeitslosenregime etablieren können, welches die im rotgrünen Jargon als "passive Leistungsbezieher" herabgewürdigten Fürsorgeberechtigten zu "aktiven Partnern im Hilfe- und Vermittlungsprozeß" transformierte - will heißen, die "Faulpelze", denen selbstverschuldete Vermittlungsunfähigkeit unterstellt wurde, zu mehr "Eigenverantwortlichkeit" und billig entlohnter Zwangsarbeit trieb. Mit diesem Schachzug konnte der Druck auf den noch in Lohn und Brot stehenden Bevölkerungsteil erhöht werden, sich zu immer niedrigeren Konditionen ausbeuten zu lassen - eben um nicht das Los der "Ein-Euro-Jobber" und "Hartzer" teilen zu müssen. Denn entgegen der offiziellen Regierungspropaganda, die nach wie vor von gesicherter Sozialstaatlichkeit spricht, haben die Menschen natürlich verstanden, woraus das sozialstaatliche Netz gewoben ist, nämlich aus zunehmender Repression und Kontrolle.

Um die Spaltung der Arbeithabenden und -suchenden perfekt zu machen und Klassengegensätze nicht etwa zwischen Lohn- und Profitinteressen, sondern innerhalb der Arbeitsnehmerschaft zu erzeugen, sorgten Politiker wie der frühere Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement (SPD), dafür, daß sich sozialrassistische Ressentiments in der Gesellschaft noch weiter vertieften. So nahm Clement beispielsweise Anleihen aus der antisemitischen Nazi-Propaganda und bezichtigte ALG-II-Empfänger als "parasitär". Um seinen derben Mißgriff wieder in Einklang mit dem Bezichtigungsgefüge zu bringen, wie es aktuellem Standard entspricht, ruderte Clement hernach etwas zurück und erklärte, daß es "natürlich (...) völlig unstatthaft (sei), Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen", man aber dennoch nicht darauf verzichten wolle, die Schuldigen beim Namen zu nennen, denn "Sozialbetrug (sei) nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des einzelnen gesteuert".

Damit wurde die Schuldfrage zu Lasten der als potentielle Betrüger gebrandmarkten ALG-II- und Hartz-IV-Empfänger noch einmal befestigt, während beispielsweise ein Politiker wie Philipp Mißfelder, Chef der Jungen Union und CDU-Präsidiumsmitglied, der behauptet hatte, "die Erhöhung von Hartz IV war ein Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie", dafür sorgte, daß Hartz-IV-Empfänger nun auch als qualmende und saufende Selbstverschulder, die staatliche Zuwendungen sinnlos verprassen, wahrgenommen werden. Von dort ist der Sprung zu "Alkis" oder "Assis" nicht mehr weit.

Auch daß kürzlich die Bundesagentur für Arbeit (BA) eine dann doch nicht vollständig umgesetzte Dienstanweisung zur Bekämpfung von Leistungsmißbrauch aus der Schublade zog, wonach in nicht näher definierten Ausnahmefällen eine geheime Observierung "hartnäckiger Sozialbetrüger" (www.derwesten.de, 5.6.09) möglich sein solle, macht deutlich, daß es sehr wohl urheberschaftliches Gedankengut für die vermeintlich unbedachten Äußerungen eines MDR-Reporters gibt, der Hartz-IV-Empfänger in eine Reihe mit Assis, randalierenden Fußballfans und Rechtsradikalen stellte.

Daran, daß Hartz-IV-Empfänger überhaupt als Billigjobber, die sogar reguläre Arbeitsplätze vernichten, in Erscheinung treten konnten, hat auch der organisierte Sport seinen Anteil, der sich bereitswillig zum Erfüllungsgehilfen der "Agenda 2010" machte. Nachdem das "vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" in Kraft trat, erklärte der damalige Deutsche Sport-Bund (DSB) Ende 2004, die Hartz-IV-Gesetze für eine "beschäftigungspolitische Offensive in den eigenen Reihen nutzen" und mehrere tausend Empfänger von ALG II auf Basis der Ein-Euro-Minijobs zur Mitarbeit in den Sportvereinen gewinnen zu wollen. "Jetzt haben wir ein völlig neues Instrumentarium und müssen diese Möglichkeiten für die Vereine ausloten", jubelte damals DSB-Generalsekretär Andreas Eichler.

Ohne einen Hauch von Kritik förderte kürzlich der 2. Sportentwicklungsbericht zur Situation der Sportvereine in Deutschland die vermeintlich "positive Tendenz" zutage, daß innerhalb der letzten beiden Jahre die Stellen mit Zusatzjobs für Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger um 118 % zugenommen haben.

Inwieweit allerdings auch der DSB bzw. der heutige Deutsche Olympische Sportbund (DOSB), der als größte Personenvereinigung Deutschlands immerhin 27 Millionen Mitgliedschaften in rund 91.000 Sportvereinen aufweist, in seinem Bereich dazu beiträgt, daß entgegen den gesetzlichen Vorgaben in Ein-Euro-Jobs vermittelte Hartz-IV-Empfänger reguläre Arbeitsplätze verdrängen, darüber gibt es keine aktuelle Studie. Fakt ist allerdings, daß die Zahl der Ehrenamtlichen im Sport sinkt, zu wenig hauptamtlich beschäftigte Trainer vorhanden sind, die zudem noch unterbezahlt werden und meist nur kurzfristige Arbeitsverträge erhalten, und es überdies an allen Ecken und Enden an Vollzeitpersonal zum Erhalt der Sportanlagen mangelt.

Legt man Zahlen zugrunde, wie sie für die Gesamtgesellschaft gelten, dann kann nur davon ausgegangen werden, daß auch im Sport reguläre Arbeitsplätze vernichtet werden. Nach neuesten Erkenntnissen des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), wonach im vergangenen Jahr 764.000 Langzeitarbeitslose einen Ein-Euro-Job hatten, werde die Vermittlung von Hartz-IV-Empfängern in Ein-Euro-Jobs von der Arbeitsvermittlung als "ein vermeintlich billiges Allzweckmittel" in der Arbeitsmarktpolitik benutzt. Ferner stellte der Bundesrechnungshof Ende 2008 fest, daß Ein-Euro-Jobs nicht dem Ziel eines "rechtskonformen, zielgerichteten und wirtschaftlichen Einsatzes" dienten und zwei Drittel der geprüften Maßnahmen gar nicht die gesetzlichen Fördervoraussetzungen erfüllten. Nach Angaben des Bundesrechnungshofs sollen inzwischen 25 Prozent der Ein-Euro-Jobs einen regulären Arbeitsplatz verdrängen.

Wenn man sich all dies vor Augen führt, dann werden die Hartz-IV-Empfänger also nicht nur von Regierungsseite als potentielle Sozialbetrüger verunglimpft, sondern auch von den Nachbarn als potentielle Jobkiller angesehen. Da außerdem die zunehmende Kinderarmut in Deutschland mit der Almosenexistenz von ALG-II- und Hartz-IV-Beziehern korrespondiert, ja sogar die Einnahmen der Kinder von Hartz-IV-Empfängern, die in den Ferien einem Job nachgehen, bis auf einen geringen Freibetrag als Einkünfte der Bedarfsgemeinschaft angerechnet werden, sind innerfamiliäre Spaltungs- und Mißgunstverhältnisse geradezu vorprogrammiert.

Diesen Sozialterror, der natürlich mit einer entsprechenden Stimmungsmache in den Medien einhergeht, unverblümt der Regierungspolitik anzukreiden, ist dem MDR allerdings noch nicht eingefallen. Dann schon lieber Fassungslosigkeit ob der losen Reden eines Sportreporters mimen und weitere Märchen in die Welt setzen, wonach "wir doch mit all unserem Handeln und Senden jederzeit unter Beweis (stellen), dass wir die Sorgen und Hoffnungen aller Menschen in Sachsen-Anhalt mit Fürsorge thematisieren", wie MDR 1-Chef Bettecken schrieb.

6. Juli 2009