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KOMMENTAR/056: Maulkörbe und Duckmäusertum im Profisport sind keine Krankheiten! (SB)



Die Frage von DFB-Präsident Theo Zwanziger nach dem erschütternden Freitod von Nationaltorwart Robert Enke, "warum junge Leistungssportler, die von vielen bejubelt und als Idole gefeiert werden, in eine solche Situation kommen können", haben die Herrschaften des repressiven Leistungssports, der das alltägliche Hauen und Stechen der Leistungsgesellschaft auf scheinbar unterhaltsame und friedvolle Weise in sportlichen Bahnen lenkt, längst beantwortet. Wo im Namen des zur natürlichsten Sache der Welt verklärten Leistungsprimats im Sport gehobelt wird, da fallen auch Späne: Lauftote, plötzliche Herztote, Risikosporttote, Unfalltote, Drogentote und jede Menge Halb- und Vollinvaliden. Wer indessen wie der umjubelte Robert Enke am Leistungethos der Sportnation zugrunde geht, Krankheit hin oder her, dessen Marktwert wird auch noch über den Tod hinaus brutal ausgeschlachtet. Die vom Sport-Medien-Komplex jetzt veranstalteten Volkstrauertage erinnern stark an den staatstragenden Tränenkult, den der Tod von Prinzessin Diane oder Popstar Michael Jackson unter den "Fans" ausgelöst hatte. Statt kritische Solidarität mit den Opfern und Verlierern der Leistungsgesellschaft, der Fußballprofis auf spielerische Weise schmeicheln, erfolgt die symbolpolitische Emotionalisierung der Massen und das Heulen im Gleichschritt mit den "geschockten", "fassungslosen" und "sprachlosen" Fußballbossen.

Daß in einem athletischen Sklavenkörper auch ein versklavter Geist steckt, der sich nicht dadurch befreit, indem er sich immer fester an das sklavenhalterische Erlösungsmodell des Sports fesselt, welches Stärke durch Erfolg, Aufstieg durch Leistung und Freiheit durch Anpassung verheißt, sollte in aufgeklärten Zeiten eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Von wegen! Der goldene Käfig der Profisportler erstrahlt um so verheißungsvoller, je dreckiger es dem fußballnärrischen Volk geht. Sport sells, und wie! Trotz Wirtschaftskrise konnte die Deutsche Fußball-Liga (DFL) die Einnahmen beim Trikotsponsoring in diesem Jahr steigern. Dabei stellt sie selbst die englische Premier League noch in den Schatten. Und was die Zuschauerzahlen der Profivereine betrifft, so befinden sich diese seit Jahren auf Rekordniveau. Daß die Sponsoren aus Kapital und Wirtschaft, mit denen die Fans, wenn auch feinsäuberlich getrennt, in den Fußballstadien um die Wette brüllen, die gleichen sind, die ihnen ansonsten das Leben mit Lohndrückerei, Sozialstaatsabbau und Armutsverwaltung sauer machen, tut scheinbar nichts zur Sache. Ein Fan, der den Schaustellern, Animateuren und Finanziers des Sports so bereitwillig aus der Hand frißt, kann selbst nur ein geknechtetes Subjekt sein, das auch sonst alles wegkonsumiert, was das Fußballgeschäft in wohldosierten Portionen ins öffentliche Schaufenster hängt.

Daß Robert Enke für sich keine Möglichkeit sah, seine Krankheit öffentlich zu machen, weil er - abgesehen davon, daß er befürchtete, die Adoptivtochter zu verlieren, da die Ämter einem depressiven Vater womöglich das Sorgerecht hätten entziehen können - Angst hatte, nicht mehr Fußball auf höchstem Niveau spielen und im Konkurrenzkampf um die Nummer eins im deutschen Tor nach Nachsehen haben zu können, wirft nicht nur ein Schlaglicht auf die repressiven Strukturen des Leistungssports, sondern auch auf den gewalttätigen Charakter des Medienmainstreams, der die Sportheroen nur so lange hochleben läßt, wie sie nicht von den gutbürgerlichen Normen und Werten abweichen und im auf Talent- und Körperverbrauch ausgerichteten Effizienzsport funktionstüchtig sind. Wer fehltritt oder Schwäche zeigt, wird gnadenlos angeprangert und niedergemacht. Im Bereich der Dopingjagd werden regelrechte Hetzkampagnen mit zum Teil existenzvernichtenden Auswirkungen für Sportler veranstaltet. Wird der erste Anti-Doping-Suizid (mit Abschiedsbrief) unter Leistungssportlern eine ähnliche Betroffenheit unter den selbstgerechten Fans, Politikern und Funktionären auslösen? Selbstmordversuche und -gedanken unter Athleten, die sich vergeblich gegen die Verdachts- und Schuldmaschinerie des Leistungssports wehrten, hat es schon viele gegeben, ohne daß dies sonderlich Aufsehen erregte. Oder war die Heimlichkeit, mit der Robert Enke seine Depressionsschübe vor der Öffentlichkeit verbergen mußte, irgendwie ehrenvoller, sein Abgang sauberer?

"Es entstand vor aller Öffentlichkeit das Bild eines gänzlich fremden Menschen, der am Ende sogar seine Ärzte täuschen konnte. Die Öffentlichkeit aber hat Robert Enke, der über viele Jahre im Fokus der Medien stand, nie gekannt", schrieb die FAZ (11.11.09, online).

Was für ein Hohn! Würden Leistungssportler entgegen den Gesetzen des Marktes und entgegen ihrer eigenen Verkennung jemals ungeschminkt Farbe bekennen - es gäbe keinen Fußball! Schon gar keinen, der Millionen von Menschen im Sinne der ökonomisch und politisch herrschenden Klasse in zitternde und fiebernde, schimpfende und johlende Anhänger und Mitläufer verwandelte. Zwei Tage zuvor hatte das gleiche Blatt noch ausführlich im Zusammenhang mit Bayern-Star Philipp Lahm dargelegt, warum Profis noch nicht einmal vereinsinterne Probleme, die sich nur darum drehen, besser und erfolgreicher Fußball zu spielen, öffentlich machen können. Lahm bekam für einige "Verbesserungsvorschläge für innerbetriebliche Abläufe", die er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung kundtat, nicht nur "das ganze Arsenal der Abbügel-Techniken", sondern auch die finanzielle Höchststrafe vom Verein zu spüren: 50.000 Euro, die höchste Geldstrafe, die der FC Bayern jemals gegen einen Spieler verhängte.

Der öffentliche Maulkorb für Fußball-Millionäre, der auch in weniger im Rampenlicht stehenden Sportarten in modifizierter Form Gültigkeit besitzt, ist beim deutschen Vorzeigeverein Bayern München im Lizenzspielervertrag festgelegt und muß von den Vertragsspielern durch Unterschrift bestätigt werden. Darin heißt es zum einen, daß Interviews ausschließlich beim Club angefragt und organisiert und zum Autorisieren für den Spieler vorgelegt werden müssen, zum anderen, daß es ein "absolutes Tabu" sei, in der Öffentlichkeit Kritik gegen den Club, den Trainer und Mitspieler zu äußern.

Mit ihren freizügigen Sanktionen handeln die Vereine auf der Basis des Vertragsrechtes. Die Spieler sämtlicher Mannschaftssportarten (bei Individualsportlern gibt es vergleichbare Klauseln in den Sponsorenverträgen) haben sich mit Unterzeichnung des Arbeitsvertrages nicht nur zum leistungssportlichen Tagewerk verpflichtet, sondern dem Arbeitgeber auch die sogenannte "Treuepflicht" versprochen. Das heißt unter anderem, daß sich der Spieler in der Öffentlichkeit nicht negativ gegenüber dem Arbeitgeber (oder dem Sponsoren) äußern darf. Kraftausdrücke, Schmähungen oder Lästerungen sind verboten und können im Extremfall sogar zur Kündigung führen. Allein schon aufgrund dieser arbeitsrechtlichen Regelung, deren Durchsetzung dem Ermessen des Arbeitgebers obliegt, muß sich der Spieler gegenüber betriebsfremden Menschen ständig überlegen, ob er etwas sagt, was ihm später vom Verein oder Gericht als "vereinsschädigend" ausgelegt werden könnte. Auch darin liegt einer der Gründe, warum die teilweise sklavischen Verhältnisse im Hochleistungssport niemals wirklich beim Namen genannt werden. Die Spieler überlegen sich lieber zweimal, ob sie ein "falsches" Wort in der Medienöffentlichkeit sagen. Nur zu schnell gerät ein offenes, unter dem Eindruck der Ereignisse oft auch derbes Wort zum Aufhänger für den Arbeitgeber, den Störer per Abmahnung oder Geldstrafe zu disziplinieren. Deshalb werden die Auseinandersetzungen hinter den Kulissen geführt - so kann der sich in Unwissenheit wiegende Fan weiter unbeschwert seinen Lieblingen auf dem Spielfeld zujubeln und die Gladiatoren, wenn sie wegen Verletzungen nicht gerade im Vereinslazarett oder in der Rehaklinik liegen, zu mehr "kämpferischer Leistung" antreiben.

Die arbeitsrechtlichen Normen gelten übrigens für alle Erwerbstätigen. Sie finden nur im Bereich des Spitzensports eine besondere Bedeutung, weil dort die entsprechenden Fälle von den Medien oftmals zu Affären, Skandalen oder Affronts hochstilsiert werden, so daß sich daraus fast zwangsläufig eine vermeintliche "Schädigung" des Vereinsunternehmens in der Öffentlichkeit ergibt.

FAZ-online schlußfolgerte indessen aus dem Offenkundigen, daß Interviews von kritischen Fußballprofis schon aus vertraglichen Gründen nicht deren Meinung wiedergeben können, sondern nur die des Arbeitgebers, und kam angesichts des Spagats, den Spieler zwischen "Zivilcourage, freier Meinungsäußerung und arbeitsrechtlichen Bestimmungen" vollführen müssen, zu der nicht neuen Erkenntnis: "Das Duckmäusertum ist daher die Regel - nur hinter vorgehaltener Hand wird von Profis ein offenes Wort gesprochen."

Dennoch werden Funktionäre und Politiker wie Theo Zwanziger (CDU) nicht müde, die öffentliche Vorbildfunktion von Bundesliga- und Nationalspielern zu propagieren - obwohl doch von A bis Z alles, was Lahm bis zu seinem sanktionswürdigen Interview und Enke bis kurz vor seiner Selbsttötung in der Öffentlichkeit zum besten gaben und auch noch zahllose andere Profisportler absondern werden, nichts weiter als wohlkalkulierter, sprachgeregelter und nichtssagender Einheitsbrei ist, mit dem die "Fans" bis zum Erbrechen abgefüttert werden (wollen). Wenn jetzt im Gefolge des Enke-Todes das Geschwätz der seelsorgerischen, therapeutischen und psychologisch geschulten Verschlimmbesserer aufschallt, die mit ihren Schwäche- und Krankheitsbegriffen das mörderische Leistungsregime "humaner" gestalten wollen, dann sollte zumindest bei aufgeklärten Fans ein ähnlicher Würgereflex einsetzen wie bei den heuchlerischen Trauerreden. Maulkörbe und Duckmäusertum im Leistungssport sind keine Krankheiten, sondern systemerhaltende Voraussetzungen für ein Disziplinierungsregime, das die Brüche und Diskrepanzen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung immer in die nächst höhere Ordnung anwachsender gesellschaftlicher Verfügungsgewalt überführt, um Herrschaftsförmigkeit sicherzustellen.

15. November 2009