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KOMMENTAR/057: Gesellschaftliche Immunregulation nach dem Trauerevent um Robert Enke (SB)



Die sozialdarwinistische Freikirche des Sports, in der nach alter Väter Sitte das Leistungs- und Konkurrenzprinzip angebetet, den Starken das Schwache geopfert und Dienst am Kapitalismus verrichtet wird, hat durch den Freitod von Torhüter Robert Enke nationale Weihestunden erster Güte erlebt. Die Trauerfeier im Stadion von Hannover 96 mit etwa 40.000 Gästen aus allen Teilen der Gesellschaft war die größte, die es je für einen Sportler in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gab. Wenige Tage zuvor hatte bereits ein Trauerzug durch Hannover stattgefunden, an dem sich 35.000 Menschen beteiligten. In Hannovers Lokalzeitungen erschienen nicht nur achtseitige Sonderbeilagen, sondern insgesamt auch 228 Traueranzeigen, die größten wurden von Enkes Verein Hannover 96, dem Deutschen Fußballbund, der Deutschen Fußball Liga und einigen anderen Vereinen und Wirtschaftsunternehmen geschaltet.

Das Trauerspektakel zahlte sich auch für das aus dem massenmedialen Fußballgeschäft nicht wegzudenkende Fernsehen aus und wurde zum Quotenhit. Knapp sieben Millionen Menschen sollen die "anrührende und aufwühlende Abschiedszeremonie" (SZ) in der WM-Arena von Hannover, wo der Sarg von Enke aufgebahrt war, vor den TV-Schirmen verfolgt haben. Laut dpa-Angaben schalteten allein 5,35 Millionen Zuschauer um elf Uhr die rund 75 Minuten lange ARD-Übertragung der sonntäglichen Trauerfeier ein, weitere Sender wie DSF, NDR, n-tv und N 24 übertrugen zeitgleich.

In Anbetracht der "Unverhältnismäßigkeit" (Deutschlandfunk) bei der Trauerberichterstattung inszenierten die Medien auch eine Art Selbstkritik aus berufenem Munde. So erklärte beispielsweise Gunter Gebauer, Philosoph und Sportsoziologe von der Freien Universität Berlin, in einem Deutschlandfunk-Interview (15.11.09), daß er die Kamera bei der Trauerfeier "extrem indiskret" fand: "Sie war ständig auf das Gesicht von Teresa Enke gerichtet, ständig wurde in den Augen der Umsitzenden gesucht. Es war ein spekulatives Interesse, so etwas wie Tränen zu erhaschen, den Zusammenbruch einer Person möglichst abzupassen oder ähnliches. Ich fand diese Art des Voyerismus des öffentlichen Kameraauges eigentlich unerträglich."

Zwei Tage vorher hatte der Professor in einem bemerkenswerten Interview mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa) "schonungslose Systemkritik" geübt und mit dem "Profifußball abgerechnet", wie dpa in einer späteren Zusammenfassung titelte. Nach den Worten von Gunter Gebauer richte sich die Lehre aus dem Enke-Tod an die Verantwortlichen des Profifußballs, also an Manager, Präsidenten, Spielervermittler, Journalisten und das Publikum: "Sie können einen Spieler nicht zum Übermenschen aufbauen, dann als Flasche verhöhnen, als Ware verhökern und erwarten, dass er dies 'sportlich einsteckt'. Wer jetzt Trauer pathetisch ins Bild setzt, profitiert noch einmal von ihm als Ware und von den emotionalen Reaktionen, die ein überfahrener Sportlerkörper auslöst." Der 65jährige bezweifelte aber, daß sich der Mikrokosmos des Profifußballs, der sich zu einer unerbittlichen Welt entwickelt habe, für Tabuthemen öffnen könnte. Zugleich legte er den Finger in die Wunde der zahlreichen Nachrufe auf Enke, wo vom "Marktwert" der Fußballer gesprochen werde, verletzte oder alte Spieler "ausgemustert", vom Trainer "aussortiert" und vom Verein an einen anderen Verein "ausgeliehen" würden - mit anderen Worten also all die zur Normalität geronnenen Euphemismen, mit denen sich die gnadenlosen Konkurrenz- und Ausleseprinzipien des Kapitalismus in die Alltagswelt des Leistungssports übersetzen, um sie dort hinter hehren Wertefassaden wie "Teamgeist, Toleranz oder Fairplay" zu verstecken. Den Worten Gebauers zufolge haben wir es im Spitzensport mit einem System zu tun, "das für Menschlichkeit eigentlich keinen Platz hat. Und ich denke, diese Analyse muß man auch einigermaßen erbarmungslos zu Ende führen".

Zu den namhaften Sportsoziologen, die von den Medien immer dann zu Statements gerufen werden, wenn die Verwerfungen des Hochleistungssports das normale Maß überschreiten und Schreckensmeldungen beim Publikum zu kurzzeitigen Irritationen führen, gehört auch der Hannoveraner Fanforscher Prof. Gunter Pilz, der im Deutschlandfunk (14.11.09) u.a. bemängelte, daß die Menschen im Sport und auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen ihre "Beißhemmung" gegenüber Schwächeren verloren hätten. Jemand, der den Leistungsdarwinismus propagiere, dürfe angesichts der Selbsttötung Robert Enkes "jetzt nicht betroffen sein" und brauche "auch nicht zu der Trauerfeier zu gehen und offizielles Entsetzen zu zeigen". Die Menschen sollten das aktuelle Ereignis zum Anlaß nehmen, darüber nachzudenken, ob sie diese Art von Gesellschaft wollten.

Soweit können sich anerkannte Sportsoziologen wie Gebauer, Pilz und andere also aus dem Fenster lehnen, ohne selbst ins Visier der politischen Leistungseliten zu geraten, die diese Art von Gesellschaft und die Privilegien, die sie ihnen gewährt, mit Händen und Füßen verteidigen. Schonungslose Systemkritik am warenförmigen Charakter des kapitalistisch regierten Profisports, der alles und jedes zum Gebrauchs-, Verbrauchs- und Tauschobjekt macht, darf ihnen allerdings nicht über die Lippen kommen. Denn eine gesellschaftliche Systemkritik, die auch die politische Ökonomie mit einschließt, ist erst recht tabu. Insofern sind sich Sportsoziologen auch handelseinig mit den Priestern des Leistungssports, wie Gebauers Verbeugung vor DFB-Präsident Theo Zwanziger im DLF-Interview unschwer erkennen läßt. "Es ist sehr schön, wenn man Menschlichkeit einfordert. Theo Zwanziger hat das heute auf eine sehr eindrucksvolle Weise gemacht. Das ist richtig", so Gebauer allen Ernstes, der in der Sonntagsrede von Zwanziger anläßlich der Trauerfeier in Hannover wohl auch seine eigene Kritik an den Heldenerzählungen vom "unfehlbaren Athleten", die nicht nur naiv, sondern auch äußert gefährlich seien, wiederentdeckt haben mag.

Funktionäre wie Theo Zwanziger haben eine Begabung dafür, dem Volk Stimmungen abzuspüren und sie im feierlichen Rahmen in wohlfeile Worte der Betroffenheit zu kleiden. "Fußball darf nicht alles sein", sagte Zwanziger in seiner Trauerrede - eine Sentenz, die einige Tage zuvor schon Landesbischöfin Margot Käßmann in ähnlicher Form in einer Trauerandacht gebraucht hatte - und forderte "ein Stück mehr Menschlichkeit, ein Stück mehr Zivilcourage, ein Stück mehr Bekenntnis zur Würde des Menschen" ein. In allen Bereichen des Systems Fußball seien Maß, Balance, Werte wie Fairplay und Respekt gefragt. Bei Funktionären, Verbänden, Klubs und Fans. "Ihr könnt unglaublich viel dazu tun, wenn ihr bereit seid aufzustehen gegen Böses. Wenn ihr bereit seid, euch zu zeigen, wenn Unrecht geschieht, wenn ihr bereit seid, das Kartell der Tabuisierer und Verschweiger einer Gesellschaft, die insoweit nicht menschlich sein kann, zu brechen", sagte Zwanziger.

Die frommen Maßhalte-Appelle und von vornherein auf "ein Stück mehr" ausgebremsten Gutmenschenaufstände sind allerdings nicht geeignet, um das "Kartell der Tabuisierer und Verschweiger", zu denen die Apologeten des im kapitalistischen Verwertungszusammenhang stehenden Leistungssports zweifellos gehören, zu brechen. In einem sind sich die (sport)politischen Funktionseliten nämlich vollkommen einig: An den Konkurrenzregeln der Leistungsgesellschaft und des Wettbewerbsstaates darf nicht grundsätzlich gerüttelt werden.

"Schon jetzt melden sich die Ersten zu Wort, die Enke als Opfer der Leistungsgesellschaft schlechthin sehen. Diese sei, so schwingt dann mit, natürlich das eigentliche Übel", versuchte das Wirtschaftsblatt "Financial Times Deutschland" schnellen Antworten vorzubauen, die Kritikern des Leistungswahns womöglich den Anlaß bieten könnten, die Axt an die Wurzel des gesellschaftlichen Übels zu legen. Auch DFB-Chef Theo Zwanziger erteilte der Leistungsgesellschaft keineswegs eine Absage. Er sei sehr für Leistungsförderung, man benötige Leistung und auch Vorbilder. "Wir müssen zu einer anderen Haltung kommen: Wenn du gut bist, strenge dich an, du kannst besser werden. Aber treibe dich nicht in Höhen, die nicht realistisch sind", so Zwanziger.

Und was ist mit "realistischen Höhen", an denen die Menschen trotz bester Haltungsnoten dennoch zugrunde gehen? Als ob die drängenden Probleme der Leistungsgesellschaft und die grundlegenden Systemwidersprüche des Kapitalismus psychologisch therapiert und sozialwissenschaftlich austariert werden könnten nach dem Motto "du darfst auch mal Schwäche zeigen". Selbst wenn die aktuelle Diskussion auf eine gesellschaftliche Enttabuisierung der Depression sowie der Homosexualität, die ebenfalls im professionellen Fußball verschwiegen werden muß, hinauslaufen sollte, ändert dies nichts am Grundsatz. Denn, wie Bundestrainer Joachim Löw nach den tagelangen Debatten über Leistungsdruck und Versagensängste auf seinem Weg "zurück in die Normalität" sagte: Weder die Nationalmannschaft noch ein anderes Profiteam könnten das Leistungsprinzip außer Kraft setzen, "Leistung ist unser Beruf".

Am Ende doch nur schicksalshafte Beschwörungen und eine weitere Immunregulation gesellschaftlicher Widersprüche, also die politische Tabuisierung auf höchstem Niveau? "Ich kann mir nicht vorstellen, daß diese Betroffenheit lange Zeit andauert. Ich würde mal vorhersagen, daß in 14 Tagen, spätestens drei Wochen die Sache fast vergessen worden ist", so die Prognose von Prof. Gunter Gebauer, dessen Worte bereits widerlegt sind. Enke war keine vier Tage unter der Erde, da beherrschte schon wieder der nächste Skandal die Schlagzeilen und erhitzte die Gemüter der Fans und Funktionäre: Der europäische Fußball wird vom größten Wett- und Manipulationsskandal in seiner Geschichte erschüttert. Und wieder stehen die Gesundbeter des Kapitalismus Schlange, beklagen "die Kultur des Wegschauens" und bieten ihre Reparaturdienste an, diesmal in Form verstärkter Kontroll- und Straftherapien.

Die größte Furcht der Systemwächter ist jedoch, wenn die Fans und Spieler ihre Teilhaberschaft konsequent aufkünden würden, denn dann wären sie weder kontrollier- und verfügbar noch emotional und körperlich ausbeutbar. Dem steht zumindest bei Profifußballern "ungeheuer viel Ruhm und Geld" entgegen. "Wer sich einmal darauf eingelassen hat, kann sich diesem Zugriff in die innere Sphäre seiner Existenz nicht mehr entziehen", so Gebauer. "Das geht nur, wenn er bereit ist, mit allem Schluß zu machen, mit dem Sport, der Prominenz, der öffentlichen Beachtung, dem exquisiten Lebensstil." Nicht der schlechteste Rat.

23. November 2009