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KOMMENTAR/058: Claudia Pechstein - Justizopfer und Versuchskaninchen des "sauberen Sports" (SB)



Der Internationale Sportgerichtshof (CAS) in Lausanne hat im Fall von Claudia Pechstein ein folgenschweres Urteil zu Lasten aller Sportlerinnen und Sportler gefällt, dessen Tragweite wohl nur den sportpolitischen und -juristischen Zampanos des athletenfeindlichen WADA-Codes klar sein dürfte, welche die öffentliche Hinrichtung der Eisschnelläuferin von langer Hand geplant haben (1), um den indirekten Indiziennachweis und das damit verbundene individuelle Blutpaß-Programm der Welt-Anti-Doping-Agentur wissenschaftlich und sportrechtlich durchzusetzen.

Erstmals in der Geschichte des organisierten Sports wurde eine Athletin ohne handfesten Beweis, lediglich aufgrund von Indizien zur Dopingsünderin gestempelt. Die Sprache der Ankläger entlarvt die gewieften PR-Strategen: Obwohl sich das Indizien-Urteil auf den höchst zweifelhaften Verfahrensrichtlinien der Sportgerichtsbarkeit stützt, die vor ordentlichen Gerichten nach einhelliger Expertenmeinung keinen Bestand hätten, da elementare Rechtsprinzipien wie die Unschuldsvermutung oder die 'Beweislast liegt bei der Anklage' mißachtet werden, ganz zu schweigen von der wissenschaftlich nach wie vor umstrittenen Indizienlage sowie den groben richterlichen Kausalschlüssen zu Lasten Pechsteins, wird die Eisschnelläuferin wie eine gemeingefährliche Verbrecherin mit kriminellem Umfeld behandelt, an deren Unlauterkeit es nach dem Schuldstempel des CAS keinerlei Zweifel mehr geben darf. Um dieses Meinungsbild zu zementieren sowie weitere für den repressiven Anti-Doping-Kampf richtungsweisende Entwicklungslinien vorzugeben, begab sich der Wirtschaftsanwalt und FDP-Mann Dr. Thomas Bach, seines Zeichens Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) und Vizepräsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), welcher von den (freien) Sportjournalisten, die jetzt den Stab über Pechstein brechen, immer nur dann als lupenreiner "Lobbyist" bezeichnet wird, wenn es um seine Verflechtung mit diversen Wirtschaftunternehmen, Politik und Medien geht, nicht aber im Zusammenhang seiner qua Amt gegebenen Einflußnahmen auf die internationale Sportrechtspolitik, höchstpersönlich an die Propagandafront. Kaum hatten die drei zu CAS-Richtern bestallten Anwälte der Kammer für Einsprüche gegen Verbandsstrafen die vom Eislauf-Weltverband ISU verhängte zweijährige Sperre gegen Pechstein wegen erhöhter Blutwerte (Retikulozyten) bestätigt, erklärte ihr mit dem Sporttribunal aufs engste verbandelter Patron Thomas Bach (2), daß dieses Urteil wegweisend für den internationalen Kampf gegen Doping sei. Es formuliere die Kriterien für den so wichtigen indirekten Dopingbeweis, so Bach. "Damit ist der Weg frei für weitere Verfahren. Deshalb fordern wir Verbände, denen entsprechende Testwerte vorliegen, auf, nunmehr umgehend Sanktionen zu verhängen." Im Wortlaut ähnlich wie sein PR-Helferlein Dr. Michael Vesper, gutdotierter Generaldirektor im DOSB, forderte Bach zudem Claudia Pechstein "in ihrem wohlverstandenen Interesse zur umfassenden Aufklärung" auf, ihre "Hintermänner" preiszugeben, damit diese "gemäß der gesetzlichen Anti-Doping-Bestimmungen des Arzneimittelgesetzes bestraft werden" können. Denn, so weiß Bach aus dem CAS-Spruch abzuleiten, "Doping mit dieser wissenschaftlichen Expertise kann von einer Sportlerin nicht ohne Hilfe von Fachleuten bewerkstelligt worden sein".

Wer glaubt, daß sich hier ein geübter Rhetoriker einen plumpen Scherz erlaubt hat, der hat den obrigkeitlichen, sich progressiv verschärfenden "internationalen Dopingkampf" nicht verstanden, dem auch fadenscheinigste und vor politischem Opportunismus nur so triefende Schuldzuweisungen zur Konsolidierung des totalitären Anti-Doping-Regimes zweckdienlich sind. "Wenn's nicht so traurig wäre, könnte ich mich kaputtlachen", schrieb Claudia Pechstein auf ihrer Homepage. "Hintermänner! Was für Hintermänner? Wenn ich nicht gedopt habe, kann es auch keine Hintermänner geben! So einfach ist das."

Die 37jährige Hauptmeisterin der Bundespolizei, gegen die laut Bundesinnenminister Thomas de Maiziere das ausgesetzte Disziplinarverfahren wieder aufgenommen werden soll, sobald ein letztinstanzliches Urteil des Schweizer Bundesgerichts vorliegt, das Pechstein in ihrer Verzweiflung jetzt anrufen will, ist fest davon überzeugt, daß sie verurteilt wurde, "weil hinter den Kulissen Kräfte gewirkt haben, die den indirekten Beweis in diesem Präzedenzfall nicht scheitern sehen wollten". Ihre Verurteilung sei "nicht mehr als ein Justizirrtum des Anti-Dopingkampfes. Ein Kollateralschaden, der scheinbar im Umfeld aller Verbände und Institutionen hingenommen wird, damit der Anti-Dopingkampf keinen Schaden nimmt. Das Ganze ist der nackte Wahnsinn."

Die Mehrfacholympiasiegerin führt im Grunde einen Kampf stellvertretend für alle Athleten, deren Körperlichkeit einem naturwissenschaftlichen Analyse- und Forschungsbetrieb überantwortet wird, deren Methoden immer nur Aussagen oder Erklärungen über das zulassen, was sie messen oder zählen können - keinesfalls, was außerhalb ihrer Detektionsfenster liegt. Wenn die Richter im Fall Pechstein nun argumentieren: "Diese Abnormalität konnte nicht vernünftig durch die verschiedenen Rechtfertigungen der Athletin oder einen medizinischen Hintergrund ausgeräumt werden", dann mißachten sie die "Vernunft" jeden Wissenschaftlers, der weiß, daß auch Erklärungszusammenhänge außerhalb der aktuellen Lehrmeinungen und Forschungsstände möglich sind. Medizinische oder wissenschaftliche Forschung könnte gar nicht stattfinden, wenn die Ratschlüsse der Experten mit dem Siegel der Unfehlbarkeit ausgestattet würden. Der richterliche Wahrheitsspruch suggeriert aber Unfehlbarkeit und soll allen Athleten vorgaukeln, daß sie sich der Verfügungsgewalt von Kontrollmedizin und Sportgerichtsbarkeit, die den "biologischen Paß" als neuestes Versprechen der Dopingenttarnung etablieren wollen, vertrauensvoll, um nicht zu sagen blindlings, überlassen können.

Ihr wehrhaftes, auch die zahlreichen Widersprüche ihrer medizinischen und sportjournalistischen Verketzerung öffentlich machendes Auftreten kommt allerdings im zuchtmeisterlichen Sport-Medienmainstream (SZ, Spiegel etc.) überhaupt nicht gut an, weshalb auch versucht wird, Pechstein als "PR-Tante" und "Verschwörungstheoretikerin" abzukanzeln, um auch sportübergreifende gesellschaftspolitische Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem inquisitorischen Dopingkampf stellen, gar nicht erst aufkommen zu lassen. Schließlich könnte dem Noch-Wohlstandsbürger irgendwann aufgehen, daß nach generalverdächtigten Sportlern und "parasitären" Hartz-IV-Empfängern er selbst an die Reihe kommt, etwa weil unter dem anwachsenden Druck verfallender Wettbewerbschancen im Berufsleben seine eigene "Sauberkeit" in Frage steht.

Claudia Pechstein jedenfalls ist klar: "Wenn die Umkehr der Beweislast im Anti-Dopingkampf Schule macht, dann kann man ja zukünftig keinem talentierten Kind oder Jugendlichen mehr mit gutem Gewissen empfehlen, Leistungssport zu treiben. Denn am Ende steht man womöglich, so wie ich jetzt, unverschuldet vor den Trümmern seiner Karriere."

Daß Bach, Vesper und Co. so kräftig auf die Schulddrüse drücken, verfolgt allerdings noch einen anderen Zweck, den die wenigsten Sportenthusiasten bislang wirklich ermessen können. Denn hier wird schon der nächste Dammbruch vorbereitet, nämlich die administrative Verflechtung von sporthoheitlicher und staatlicher Verfolgung von Dopingdelikten. So ist die Nationale Anti-Doping Agentur (NADA) seit langem bestrebt, einen Automatismus gesellschaftlich salonfähig zu machen, der vermeintlich des Dopings "überführte" Sportler an Sonderstaatsanwaltschaften weitermeldet, damit diese dann mit allen Instrumentarien polizeilicher Ermittlungsarbeit auf das Umfeld der Athleten losgehen können. So kündigte NADA-Sprecherin Ulrike Spitz nach einem dpa-Bericht (27.11.09) bereits die Prüfung an, ob sich "aus dem Urteil Anhaltspunkte für ein strafrechtlich relevantes Verhalten ergeben". Sollten Anhaltspunkte vorliegen, sei das Gremium nach dem nationalen Anti-Doping-Code verpflichtet, staatliche Ermittlungsbehörden einzuschalten. Mit einer Strafanzeige gegen Unbekannt könnten auch mögliche Hintermänner von Pechstein ins Visier der Ermittler geraten.

Damit wird Claudia Pechstein in ihrer Not, nach jedem Strohhalm greifen zu müssen, der sich zum Beweis ihrer Unschuld eignen könnte, auch in ermittlungstechnischer Hinsicht zum Versuchskaninchen instrumentalisiert. "Wir würden dies begrüßen, weil wir wissen, dass solche Ermittlungen ohne Ergebnis eingestellt werden müssten. Das wäre aus meiner Sicht ein handfester Beweis für Claudias Unschuld, denn dann bliebe ja nur noch die These, sie sei über fast ein Jahrzehnt das beste Ein-Mann-Doping-Labor der Welt gewesen", sagte Pechsteins Manager Ralf Grengel gegenüber dpa.

Dieser Silberstreif am Horizont könnte sich als verhängnisvoller Trugschluß erweisen. Erfahrungen mit politisch unter Druck stehenden Staatsanwaltschaften in Italien, endlich Beweise zu liefern, haben gezeigt, daß Sportler und ihr soziales Umfeld eher ans öffentliche Messer geliefert, denn von Vorwürfen aller Art entlastet wurden. Da waren selbst Apothekenschränke, die in einer medikalisierten Gesellschaft sicherlich reichlich gefüllt sind, zumal im pharmakologisch unterstützten Leistungssport, zu Verdachtskampagnen zweckentfremdet worden. Sollten Sportler (und ihr Umfeld) also künftig nicht nur wie Verbrecher präventiv überwacht, sondern nach indiziengestützten Sportrechtssprüchen auch vor die Kanonen einer staatlich gelenkten Kriminalitätsbekämpfung gestellt werden? Wer sagt denn, daß der Schuß nur in eine die Rechte der Athleten schützende Richtung losgeht - nach all dem, was jetzt schon verkehrt läuft?

Dem offenbar unausrottbaren Glauben, daß staatliche Ermittlungsbehörden ein anderes Interesse verfolgen könnten als sporthoheitliche (siehe der bayerische Ruf nach einem die Sportler kriminalisierenden Bundes-Sportschutzgesetz, das gegen "Sportbetrüger" mit allen strafprozessualen Möglichkeiten, bis hin zur Telefonüberwachung, losschlagen soll) liegt der kapitale Irrtum zugrunde, daß es sport- und gesellschaftspolitische Differenzen in der Frage des Ziels geben könnte, mögen die Wege auch unterschiedlich sein. Der Anti-Doping-Code der WADA wurde mit Rückendeckung der politischen Klasse durchgesetzt, die teilweise schweren Verletzungen der Persönlichkeitsrechte von Athleten wurden zudem als Kollateralschäden für einen nach allgemeinem Dafürhalten heiligen Zweck, nämlich den "sauberen Leistungssport", abgebucht. Solange dieses Wahnpostulat nicht gründlich hinterfragt und in seiner repressiven Fesseldynamik bloßgestellt wird, bleiben Sportlerinnen und Sportler auch weiterhin bloße Versuchskaninchen des WADA/NADA/CAS/ IOC-Klüngels. Daß sich inkriminierte Athleten erst dann ihrer Rolle bewußt werden, wenn ihr Kopf bereits auf dem Schafott übergeordneter politischer Interessen liegt, wäre die erste Lektion, die ein aufgeklärter Sportler im "präventiven Anti-Doping-Kampf", der diesen Namen auch verdient, zu lernen hätte. Die zweite lautet: Claudia Pechstein ist nicht die erste und letzte Athletin, der das Messer der Rechtsverbieger im organisierten Sport an die Kehle gelegt wird. Wäre das nicht ein Grund, sich zu solidarisieren - statt mit den Wölfen zu heulen?

Anmerkungen

(1) Siehe KOMMENTAR/038: Claudia Pechstein - Präzedenzfall für die sportjuristische Schlachtbank

(2) Um sich einen geringfügigen Eindruck vom sportpolitischen Interessensfilz zwischen Sportrechtlern und Verbandsfunktionären verschaffen zu können, sei ein Artikel von www.faz.net (21.10.09) empfohlen, wo Christoph Becker unter der Überschrift "Pechsteins Richter" u.a. berichtet, daß die Kammer für Einsprüche gegen Verbandsstrafen, wie sie Pechstein betrifft, von Thomas Bach geführt wird, der in diesem Fall die Aufgabe seinem Stellvertreter Gunnar Werner, dem früheren Präsidenten des schwedischen Schwimmverbandes, übergeben hat. Der CAS wird von der Stiftung International Council of Arbitration for Sport (Icas) getragen, in deren Präsidium laut FAZ "der CAS-Kammervorsitzende Bach sitzt und der zwanzig Juristen angehören (von denen zehn derzeit als Funktionäre in Sportverbänden tätig sind), verantwortlich für die Verwaltung und Finanzierung des Schiedsgerichts - und für die Ernennung und Abberufung der CAS-Schiedsrichter."

30. November 2009