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KOMMENTAR/059: Lex Leichtathletik pur - Dagmar Freitag neue Chefin im Bundestags-Sportausschuß (SB)



Mit Blick auf die Athletenrechte wird der 25. November als einer der schwärzesten Tage in die Annalen eingehen - allerdings nicht in der offiziellen Geschichtsschreibung der Sportverbände und ihrer Schiedsgerichte, und auch nicht in Politik und Medien. Denn die feiern das Indizien-Urteil gegen die deutsche Eisschnelläuferin Claudia Pechstein, deren zweijähriges Berufsverbot wegen schwankender Blutwerte vom Internationalen Sportgerichtshof (CAS) bestätigt wurde, als Chance für eine "effektivere Dopingbekämpfung", wie auch SPD-Politikerin Dagmar Freitag sich auszudrücken beliebte. Just am Tag, an dem Claudia Pechstein zur Blutdoperin mit kriminellem Hintergrund erklärt wurde, übernahm Dagmar Freitag als erste Frau den Kommandostab im Bundestags-Sportausschuß, der 1969 während des Kalten Krieges im Sport gegründet worden war und in dem heute unverblümter denn je sportpolitische Lobbyarbeit betrieben wird (1). Entsprechend käute die langjährige Sportpolitische Sprecherin der SPD wider, was in einer autoritätshörigen Gesellschaft nach dem haarsträubenden CAS-Urteil allgemeines Bekenntnisdiktat zu sein hat: "Wenn die Sportgerichtsbarkeit die Möglichkeit hat, zum Beispiel Blutprofile abzugleichen oder andere Parameter heranzuziehen, würde das die Doping-Bekämpfung auf breitere Füße stellen."

Wenige Tage vor ihrer Wahl zur Sportausschuß-Chefin war Dagmar Freitag in ihrem Amt als Vizepräsidentin für Wirtschaft und Veranstaltungsmanagement im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) bestätigt worden. Die 56jährige Verbandslobbyistin erklärte indes, daß sie ihre Aufgabe als Sportausschuß-Vorsitzende "natürlich strikt von meinem Amt beim DLV zu trennen" in der Lage sei. "Es wird keine Lex Leichtathletik im Sportausschuß geben".

Was allerdings entschieden zu bezweifeln ist, denn die ehemalige Sprinterin vertritt im Bundestags-Sportausschuß exakt die dopingpolitische Linie "Lex Leichtathletik", die ihr Vorgesetzter im DLV-Präsidium, Clemens Prokop, verficht. Der Amtsgerichtsdirektor in Kelheim fordert wie seine Stellvertreterin seit langem ein scharfes Anti-Doping-Gesetz für Deutschland, das auch dopende Sportlerinnen und Sportler strafrechtlich verfolgt. "Ich fordere vom Staat ein Anti-Doping-Gesetz, das den Namen auch verdient. Was in Österreich möglich ist, sollte auch in Deutschland möglich sein", so Prokop auf dem DLV-Verbandstag vor dem Hintergrund, daß nach diversen Dopingskandalen der Sportausschuß der Alpenrepublik kürzlich in einem unsäglichen Anfall von Populismus das "fortschrittlichste Gesetz Europas" hinsichtlich der Sportlerkriminalisierung verabschiedet hat. Falls das österreichische Parlament zustimmt, wird es ab dem 1. Januar 2010 einen Paragraph 147 (schwerer Betrug) geben, der einen Athleten in der Regel mit bis zu drei, in schweren Fällen sogar bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft, wenn er "einen Betrug (mit mehr als geringem Schaden) begeht, indem er über die Anwendung eines verbotenen Wirkstoffs oder einer verbotenen Methode nach der Anlage der Anti-Doping-Konvention, zu Zwecken des Dopings im Sport täuscht", wie die Nachrichtenagentur APA aus dem Entwurf zitiert.

Ähnliche Absichten, die geeignet sind, den "organisierten Sport" mit der Strafrechtsaxt in ein Verdachts- und Ermittlungsfeld für "organisierte Kriminalität" umzupflügen, verfolgen auch diverse deutsche Politiker, denen man gerade deswegen Böswilligkeit unterstellen muß, weil sie den repressiven Anti-Doping-Kampf nicht über den Tellerrand ihrer sozialen und beruflichen Profilierungsinteressen hinweg zu Ende zu denken bereit sind. Denn ansonsten würde ihnen aufgehen, was absehbar und in weiten Bereichen des Spitzensports längst Praxis ist: Eine rigorose (= effektive) staatliche Dopingbekämpfung kann nur in den sportlichen Polizeistaat münden, der genau das zerstört, was seine Wächterinstanzen zu schützen vorgeben. Schon jetzt ist der institutionelle Dopingkampf zu einem Leviathan erwacht, der aus jeder Pore den Untertanengeist seiner Erschaffer schwitzt, die um so fester ins Horn der Dopingjagd stoßen, je offenkundiger seine Asozialität wird. Sogar die Sportphilosophie, die sich auch als Übersetzungswissenschaft zwischen den Disziplinen versteht, versucht inzwischen, die eklatanten Widersprüche des Antidopingkampfes, die schon jedes Kind körperlich erfaßt, wenn es gemäß WADA-Code beim Urinieren das Geschlechtsorgan den Blicken der Doping-Kontrolleure präsentieren muß (bei der Leichtathletik-WM 2007 sollen sogar die Scheiden der Sportlerinnen mit Spiegeln ausgeleuchtet worden sein), in einem aporetischen Erklärungszusammenhang intellektuell verdaulich zu machen, statt schärfsten Einspruch zu erheben (2).

Indes, wie kann man überhaupt solche Worte wie "Fairneß", "Toleranz" oder "Sportsgeist" in den Mund nehmen, wenn man gleichzeitig sportrechtliche Schuldmühlen betreibt, die Sportlerinnen und Sportler wie Claudia Pechstein auf zweifelhafter Indizienbasis zu Schwerkriminellen stempeln und dem finanziellen, sozialen und beruflichen Ruin aussetzen? Hat ein solch menschenverachtendes System, dessen Experten-Cliquen sich in geradezu kannibalistischer Weise des maximal gläsernen Athletenkörpers bemächtigen, ihn biochemisch normieren und für eine über Leichen gehende Sportgerichtsbarkeit zurichten, nicht jedwede Existenzberechtigung verwirkt?

Es spricht Bände, daß Dagmar Freitag und der Sportpolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, Winfried Hermann, nicht nur jenen Parteien angehören, die Deutschland wieder auf Kriegskurs gebracht haben, sondern daß die beiden auch zu den glühendsten Befürwortern der Sportlerkriminalisierung gehören. Die rot-grünen Sportpolitiker hatten sich schon 2003 für ein Anti-Doping-Gesetz in Deutschland ausgesprochen, das Selbstdopen als Betrugsdelikt unter Strafe stellen sollte, waren aber an den parteipolitischen sowie den noch viel gravierenderen juristischen Hürden gescheitert. Doch die rot-grünen Sporttechnokraten, die CDU und FDP offenbar noch rechts überholen wollen, haben inzwischen in der bayerischen Justizministerin Beate Merk (CSU) eine im Geiste ebenbürtige Bundesgenossin gefunden. Die stramme Populistin hatte schon 2006 einen Vorschlag für ein Anti-Doping-Gesetz vorgelegt, welches nicht nur den (geringen) Besitz von Dopingmitteln unter Strafe stellen sollte, sondern auch den Sportbetrug. Beflügelt durch die Wettmanipulationen im Fußball hat sie nun ihre Forderungen um den Paragraphen "Bestechlichkeit und Bestechung im Sport" erweitert - in der Hoffnung, mit dem Rückenwind einer skandalgetriebenen Öffentlichkeit ihren neuen, mit "Bundes-Sportschutzgesetz" überschriebenen Gesetzentwurf durchzubringen. Demnach soll künftig jede Art von Korruption im Sport vom Strafrecht abgedeckt werden: "Wer den Verlauf eines sportlichen Wettkampfes in unlauterer Weise" mit Geld oder sonstigen Vorteilen beeinflußt, werde mit Geldstrafe oder Haft bestraft.

Außerdem soll nun auch das Doping, für das es nicht einmal eine wissenschaftlich schlüssige Definition gibt, in all seinen Erscheinungsformen bestraft werden. Dazu heißt es im Referentenentwurf unter Paragraph 5: "Wer an einem sportlichen Wettkampf teilnimmt und dabei ein Dopingmittel oder eines seiner Metabolite oder Marker im Körper hat, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Ebenso wird bestraft, wer nach Anwendung einer Methode zur Erhöhung des Sauerstofftransfers an einem sportlichen Wettkampf teilnimmt. Der Versuch ist strafbar."

Im Klartext drohen damit Sportlerinnen und Sportlern, die verdächtige "Metabolite" oder "Marker" im Körper tragen, d.h. Abbauprodukte oder biologische Marker, aus denen Biochemiker über indirekte Nachweisverfahren Doping als Ursache herausinterpretieren - und dies vor dem Hintergrund ungeklärter pharmazeutischer Wirkweisen, metabolischer Wechselwirkungen und/oder physiologischer Abnormitäten (Pechstein läßt grüßen!) - mehrjährige Gefängnisstrafen. Da auch der Doping-"Versuch" strafbar sein soll, was ebenfalls viel Raum für strafwütige Interpretationen läßt, droht dem Sport, den Dagmar Freitag als die "größte Bürgerbewegung in unserem Land" bezeichnet, die größte Hexenjagd, die es jemals in der medikalisierten und auf künstliche Leistungsoptimierung ausgerichteten Gesellschaft gegeben hat.

Da der Internationale Sportgerichtshof (CAS) unter Mittäterschaft willfähriger Politiker, Wissenschaftler, Ärzte, Juristen und Funktionäre den indirekten Indiziennachweis globalgesellschaftlich etabliert hat, steht der erfolgreichen und möglicherweise demnächst strafrechtlich bewehrten Dopinghatz auch in Deutschland nichts mehr im Wege.

Warnende Stimmen im Gefolge des Pechstein-Urteils, wie etwa die des Rechtsexperten und Sportleranwalts Dr. Michael Lehner, der gegenüber MDR Info das CAS-Urteil als "Schlag ins Gesicht für das Sportrecht" bezeichnete und von einer "Hexenjagd auf Athleten" sprach, werden von den Sportjournalisten, die bis auf wenige Ausnahmen zu den Scharfmachern gehören und ihren eigenen moralischen Anklage-Ergüssen zum Trotz Claudia Pechstein "Medieninszenierung" vorwerfen, weitgehend marginalisiert. Daß eine lupenreine Lobbyistin wie Dagmar Freitag nun den Vorsitz im Bundestagssport-Ausschuß übernommen und das CAS-Urteil als Schritt nach vorn "auf dem Weg zu einer Anerkennung von indirekten Nachweisverfahren" bezeichnet hat sowie die Gesetzesinitiativen von Frau Merk "für grundsätzlich sehr begrüßenswert" hält, sollte eigentlich alle Alarmglocken schrillen lassen. Zumal Freitag und Merk vor dem Hintergrund, daß sich der Sport um seine Autonomie sorgt, inzwischen gelernt haben, Kreide zu fressen. Beide warnen davor, zu polarisieren und "ein Gegeneinander von Sport und staatlichen Ermittlungsbehörden" (Freitag) zu betreiben. Dabei weiß doch jedes Kind, daß Wölfe immer so sprechen ...

Anmerkungen:

(1) Deutschlandfunk (14.11.09) zitiert den Berliner Sportphilosophen Gunter Gebauer mit den Worten: "Nun gibt es sehr viele Lobbyisten im Bundestag. Aber ich habe sehr selten gesehen, daß so offen über Lobbyarbeit gesprochen wird. Das ist eine Nähe zum organisierten Sport, die man in dieser Offenheit und dieser Freude des Bekenntnisses und dieser Bereitschaft, sich gegenseitig auf die Schulter zu klopfen, in anderen Ausschüssen eigentlich nicht erlebt."

(2) Siehe die Beiträge der Technischen Universität Berlin im Rahmen des durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Verbundprojekts "Translating Doping - Doping übersetzen".

7. Dezember 2009