Schattenblick →INFOPOOL →SPORT → MEINUNGEN

KOMMENTAR/084: Biologischer Paß - legales Einfallstor für Hausdurchsuchungen und Telefonüberwachungen? (SB)



Hätte eine schwarze Troika aus CSU-, SPD- und Grünenabgeordneten bereits das Sagen im Land, würden im Sprachgebrauch der Anti-Doping-Analytik der unerlaubten Leistungsmanipulation "überführte" Sportlerinnen und Sportler längst in staatlichen Gefängnissen für ihre "Verbrechen" schmoren. Wären Sportlerinnen wie Claudia Pechstein wegen "Sportbetrugs" oder "Wettbewerbsverfälschung" bereits kriminalisiert worden, dann hätten sie neben obligatorischen Berufsverboten und weiteren existenzvernichtenden Sanktionsmaßnahmen durch die Disziplinargewalt der Sportverbände (u.a. Trainingsverbote während der Sperre - siehe WADA-Code) auch mit strafrechtlichen Konsequenzen zu rechnen. Nur um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Die Eisschnelläuferin Claudia Pechstein war - der Schattenblick hatte schon oft über den Fall berichtet - auf der Grundlage des von der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) neu eingeführten "biologischen Passes", der Athleten anhand bloßer Indizien (u.a. Abweichungen von mathematischen oder biochemischen Normenprofilen, die individuell erstellt, in Datenbanken hinterlegt und von Experten interpretiert werden) wegen eines aus der Reihe tanzenden Blutwertes des Dopings "überführt" und des Hintermänner-Verbrechens verdächtigt worden. Da der "biologische Paß" bzw. der Indiziennachweis als neustes Versprechen einer vermeintlich "effektiven" wie "gerichtsfesten" Dopingbekämpfung sportpolitisch mit aller Gewalt durchgesetzt werden soll - der Fall Pechstein wirkt hier im Augenblick noch als Bremsklotz, da er in Teilbereichen auch das Bezichtigungskonstrukt des indirekten Nachweises anficht, ohne diesen aber vollständig zu verwerfen -, steht zu befürchten, daß am Ende dieses wissenschaftlichen und juristischen Harmonisierungsprozesses ein felsenfester Indizien-"Beweis" steht, der dann im Falle einer entsprechenden Strafbewehrung zu Gefängnisaufenthalten für Athleten führen könnte.

Noch gibt es keinen Straftatbestand wegen Dopings im deutschen Recht. Wie in fast allen europäischen Staaten ist das sogenannte Selbstdoping auch in Deutschland nicht strafbar. Das hat unterschiedlichste Gründe, etwa dergestalt, daß die eigenverantwortliche Selbstschädigung grundsätzlich nicht strafbar ist. Ansonsten müßte man auch Rauchen, übermäßigen Alkoholkonsum oder Suizidversuche unter Strafe stellen, ja sogar den Hochleistungssport insgesamt, da dessen verschleiß- und verletzungsträchtige Praktiken mit konventionellen Gesundheitsvorstellungen kaum in Einklang zu bringen sind. Gesundheitsschäden durch illegalisierte Substanzen (= Doping) sind nur ein Teilbereich der vielfältigen Formen und Ausprägungen von kulturell akzeptierten Körperverletzungen im Leistungssport.

Da das Gesundheitsargument nicht zieht, wird über den Wettbewerbs- bzw. über den Betrugshebel versucht, Doping in eine neue Strafnorm zu überführen. Doch auch hier sind Zweifel nicht nur wegen diverser verfassungsrechtlicher Bedenken angebracht. Betrug setzt nach deutschem Recht das kausale Zusammenfallen von Täuschung, Irrtum, Vermögensverfügung und Vermögensschaden voraus. Ohne näher auf die juristische Problematik des Betrugsdeliktes eingehen zu wollen, erweisen sich sowohl das Dauerlamento der Dopingjäger, der Sport sei dopingverseucht, als auch das Wirken des Anti-Doping-Regimes selbst, das alle Spitzensportler unter Verdacht stellt und schärfsten Kontrollen unterwirft, geradezu als Argumente dafür, daß in diesem Metier von gar nichts anderem auszugehen ist als von manipulativen Absichten und Praktiken. Wäre dem nicht so, warum müssen sich dann Athleten 365 Tage im Jahr zu jeder Tages- und Nachtzeit kontrollieren und grundrechtliche Einschränkungen gefallen lassen, wie sie keiner anderen mit Sportlern vergleichbaren Gesellschaftsgruppe auferlegt werden?

Wenn man sportwidrige Verhaltensweisen wie Doping unter gesetzlichen Betrugsverdacht stellen will, dann müßte das auch für jedes verdeckte Foul gelten - denn auch hier werden strenggenommen Irrtümer erregt, Täuschungshandlungen vorgenommen oder Wettbewerbsvorteile erschlichen, die vermögens- und/oder gesundheitsschädigend wirken sowie die vorgeblichen Werte des Sports wie "Fairneß, Chancengleichheit" etc., unterminieren könnten. Der Absurdität sind sicherlich keine Grenzen gesetzt.

Dennoch ist die Kriminalisierung des "Sportbetrugs" beschuldigter Athleten Politikern wie der bayerischen Justizministerin Beate Merk (CSU), der Vorsitzenden des Bundestagssportausschusses Dagmar Freitag (SPD) oder des sportpolitischen Sprechers der Grünen Winfried Hermann, um nur einige Namen zu nennen, seit Jahren ein Herzensanliegen. Gemäß des bayerischen Referentenentwurfs vom 30. November 2009 zu einem Gesetz zur Bekämpfung des Dopings und der Korruption im Sport [1] soll das Doping in all seinen Erscheinungsformen bestraft und zum ersten Mal auch der Sportler selbst in die Strafbarkeit einbezogen werden.

Beate Merk rührt unterdessen unverwandt die Werbetrommel für ihre Gesetzesinitiative. Nach der Einrichtung einer Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft in München im vergangenen Jahr möchte sie nun auch "die entsprechenden Instrumentarien" an die Hand bekommen, wie sie im Deutschlandfunk (10.5.2010) erklärte. "Der Werkzeugkasten muß gefüllt werden. Es kann nicht sein, daß ich einem hervorragenden Handwerker auf Tour schicke, ihm aber nur ein Minimum an Werkzeugen mitgebe, das er benötigt", so die bayerische CSU-Politikerin, deren hemdsärmelige Metaphorik in den antidopingkonformen Medien ohne den Hauch einer Kritik verbreitet wird.

"Im Dopingfall Claudia Pechstein konnte die Münchner Staatsanwaltschaft erst aktiv werden, nachdem eine Anzeige gegen mögliche unbekannte Hintermänner eingegangen war", berichtete der Deutschlandfunk im erwähnten Beitrag von Sebastian Krause. "21 Hausdurchsuchungen in zwei Tagen - auch bei der Eisschnellauf-Olympiasiegerin zu Hause stand das Bundeskriminalamt Anfang März vor der Tür und damit mehr als ein Jahr nachdem die Berlinerin mit unnatürlichen Blutwerten bei der WM in Hamar 2009 auffiel. Mögliche Spuren könnten längst verwischt worden sein. Mit einem entsprechenden Anti-Doping-Gesetz hätte die Staatsanwaltschaft vielleicht schon viel früher Ermittlungen einleiten können", heißt es im DLF weiter, ohne daß Erwähnung findet, daß Doping nicht die einzige Erklärung für die "unnatürlichen Blutwerte" ist.

Münchens Oberstaatsanwältin Barbara Stockinger führte im gleichen DLF-Beitrag aus, daß ein positiver Dopingbefund nach gegenwärtiger Gesetzeslage nicht ausreiche, um ein Ermittlungsverfahren einzuleiten: "Der Gesetzgeber hat das jetzt so ausgestaltet, daß der Besitz von Dopingmitteln erst ab einer bestimmten Menge strafbar ist. Wenn ich jetzt einen positiven Dopingbefund bei einem Sportler habe, dann kann ich nicht automatisch davon ausgehen, daß er eine strafbare, also eine nicht ganz geringe Menge besessen hat. D.h. das Gesetz müßte so ausgestaltet sein, daß ein positiver Dopingbefund für uns strafrechtlich zu einem Anfangsverdacht führt."

Mit anderen Worten, Staatsanwaltschaft und Bundeskriminalamt können erst dann mit vollem "Werkzeugkasten" und schwerem ermittlungstechnischem Gerät wie Hausdurchsuchungen, Observierungen oder Lauschangriffen "auf Tour" gehen, wenn Merks Gesetzesvorschlag umgesetzt wird, in dem es unter Artikel 4 (Einschränkung von Grundrechten) heißt: "Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10 des Grundgesetzes) werden nach Maßgabe dieses Gesetzes eingeschränkt."

Mehr noch, die rechtsstaatlich äußerst umstrittene Pönalisierung einer Sportwidrigkeit würde bei "positiven Dopingbefunden", die auf dem nicht minder umstrittenen sportrechtlichen Prinzip der verschuldensunabhängigen Haftung ("strict liability rule") beruhen, einen Anfangsverdacht freisetzen, der die Strafverfolgungsbehörden in die Lage versetzte, inkriminierte Sportler und ihr gesamtes Lebensumfeld mit kriminaltechnischen Mitteln auszuspionieren. Gemäß der orwellschen Ratio des "sauberen" Sports, der kontrollfreie Räume als potentielle Dopingfenster betrachtet, käme schnell auch bei staatlichen Ermittlern die Erkenntnis auf, daß bis zur endgültigen Feststellung eines "positiven Befundes" durch Sportschiedsgerichte viel zu viel Zeit verstreicht, um effektiv einem Anfangsverdacht nachgehen zu können (siehe DLF: "Mögliche Spuren könnten längst verwischt worden sein."). Und hier kommt wieder der eingangs erwähnte Indizien-"Beweis" des organisierten Sports ins Spiel. Zieht sich die Schlinge zwischen sporthoheitlicher und staatlicher Repression erst einmal zusammen, besteht die Gefahr, daß Sportfachverbände oder privatrechtliche Stiftungen wie NADA oder WADA "auffällige" oder "unnatürliche" Blutwerte an die Strafverfolgungsbehörden weitermelden, damit diese frühzeitig Telefonüberwachungen oder Hausdurchsuchungen durchführen können.

Daß diese Befürchtungen mitnichten aus der Luft gegriffen und möglicherweise von der Realität bereits überholt sind, haben die besagten 21 Hausdurchsuchungen gezeigt [2], die das BKA am 3. und 5. März bei Sportverbänden, einer Arztpraxis sowie Sportlern vornahm, zu denen auch die Eisschnelläuferinnen Heike Hartmann und Bente Kraus gehörten, die Medienberichten zufolge "mit auffälligen Blutwerten in der Datenbank des Eislauf-Weltverbandes ISU geführt" worden sein sollen. Daß Wohnungen und Büros von Sportlern und Betreuern im Eisschnellauf durchsucht wurden, "sei der Kooperation zwischen München und der Nada zu verdanken gewesen", berichtete Spiegel-Online am 7. Mai anläßlich der Bilanz-Pressekonferenz der Nationalen Anti-Doping Agentur (NADA). Damit stellen sich eine Reihe von Fragen, die in der Öffentlichkeit bislang nicht thematisiert wurden: Auf welcher Rechtsgrundlage darf die deutsche NADA aus dem Datenpool der ISU schöpfen, um an die Münchner Staatsanwaltschaft Sportler mit "verdächtigen Blutwerten" weiterzumelden, die dann von Beamten des Bundeskriminalamtes in ihren Wohnungen behelligt werden? Ist das ganze Verfahren überhaupt statthaft? Liegen hier womöglich datenschutz- und persönlichkeitsrechtliche Verstöße bei der Informationsweitergabe vor? Und müssen künftig alle Athleten mit schwankenden Blutwerten, für die noch nicht einmal sportgerichtlich substantiierte Doping-Urteile, sondern allenfalls vage, wissenschaftlich umstrittene Verdachtshubereien vorliegen, mit Hausdurchsuchungen, Abhöraktionen oder Ähnlichem rechnen - und dies alles bereits ohne Anti-Doping-Gesetz?

Da von den Medien, die den repressiven Antidopingkampf weitreichend affirmiert haben, keine kritische Öffentlichkeit mehr hergestellt wird, und auch Politiker nur unzureichend über die sozialen und wissenschaftlichen Widersinnigkeiten des Anti-Doping-Kampfes informiert werden (siehe den tendenziösen "Infobrief", den der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages zum Thema "Anti-Doping-Strategien im internationalen Vergleich" verfaßt hat [3]), würde es kritischen Wissenschaftlern oder Juristen, die nicht mit dem Sport verbandelt sind, sicherlich gut zu Gesichte stehen, die gegenwärtigen Grauzonenpraktiken der vorherrschenden Dopingbekämpfung in das Licht einer fachlichen Überprüfung zu stellen. Ansonsten bliebe nur die überwachungsstaatliche Kuhäugigkeit des Deutschlandfunks übrig, der seinen Beitrag mit der blinden Hoffnung schloß: "Und wer weiß, vielleicht wäre Claudia Pechstein vom Weltsportgerichtshof CAS freigesprochen worden, hätte sie den CAS-Richtern staatsanwaltliche Ermittlungsunterlagen auf den Tisch legen können, in denen nach Hausdurchsuchungen und Telefonüberwachung nichts auf ein Doping-Vergehen hindeutet."

Ab jetzt also nicht nur biologische Pässe, die bei schwankenden Blutwerten umgehend staatsanwaltschaftliche Ermittlungen auslösen, sondern auch präventive Überwachungs- und Visitationszeugnisse mit Polizeistempel zur Dokumentation der eigenen Doping-Unschuld? Haben es die Priesterschaften des quasi-religiösen Sports mit ihrem fundamentalistischen Dogma vom "sauberen Sport" bereits geschafft, alle Dämme der Verhältnismäßigkeit zu brechen?

Anmerkungen:

[1] www.justiz.bayern.de, Referentenentwurf vom 30. November 2009 zu einem Gesetz zur Bekämpfung des Dopings und der Korruption im Sport.

[2] KOMMENTAR/071: Doping-Staat macht mobil - Hausdurchsuchungen bei Pechstein & Co.

[3] Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages. Infobrief WD 10 - 3000 - 004/10 vom 15. Februar 2010. Verfasser Dr. Otto Singer.

7. Juni 2010