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KOMMENTAR/085: Präsidiale Weißwäsche - DOSB lobt Horst Köhler über den grünen Klee (SB)



In Anbetracht der tausend Tränen, die der organisierte Sport dem verflossenen Bundespräsidenten nachweint, ist nicht nachvollziehbar, warum Horst Köhler von seinem Amt zurückgetreten ist.

"Der deutsche Sport nimmt die Entscheidung von Bundespräsident Horst Köhler mit großem Bedauern zur Kenntnis. Herr Köhler ist stets ein großer Freund des Sports gewesen, für den er sich immer wieder eingesetzt hat", sagte DOSB-Präsident Thomas Bach [1]. "Wir verdanken Horst Köhler große Unterstützung und viele wertvolle Anregungen, die er dem DOSB-Präsidium bei unseren jährlichen Treffen gegeben hat."

Den Elogen des DOSB zufolge habe Horst Köhler stets betont, daß Sport für ihn ein "Grundnahrungsmittel" sei. "Sein Interesse galt dabei nicht nur dem großen Sport, sondern er engagierte sich stark für den Behindertensport und sprach nicht nur über Sport, er hielt sich auch als Bundespräsident durch das Sportabzeichen fit wie Millionen andere in unserem Land. Er setzte sich unermüdlich für die Werte des Sports ein, für Integration, Verständigung, Toleranz und Erziehung zur Demokratie", sagte Bach. Die Gunst der sportpolitischen Trauerstunde nutzend, vergaß der Wirtschaftsanwalt aus Tauberbischofsheim nicht, die PR-Trommel im Dienste der eigenen sportpolitischen Großmachtsambitionen zu rühren. Ein besonderer Dank gelte dem Bundespräsidenten für seine Unterstützung der Bewerbung Münchens um die Olympischen Spiele und Paralympics 2018. "Der Bundespräsident hat sich für unser gemeinsames Ziel bei vielen Gelegenheiten immer wieder stark gemacht. Dies hat der Bewerbung Schwung und Kraft gegeben", so IOC-Vize Thomas Bach, der auch als Nachfolger von IOC-Präsident Jacques Rogge gehandelt wird und dem eine erfolgreiche Bewerbung sicherlich einen Karriereschub verschaffen würde.

Daß sich hinter der staatstragenden Repräsentationsarchitektur des Bundespräsidenten auch ein kühler Realpolitiker verbirgt, der den Krieg salonfähig macht, läßt sich aus den Trauerreden des DOSB und der Funktionseliten aus Politik und Medien jedenfalls nicht herauslesen. Um so entlarvender ein Interview, das Köhler am 22. Mai Deutschlandradio Kultur gab [2]. Der Bundespräsident war gerade von einer Blitzvisite im afghanischen Feldlager Masar-i-Sharif zurückgekehrt, wo er das Gefühl der deutschen Soldaten teilte, sich in einem Krieg zu befinden. "Dem werde ich nicht widersprechen", so Köhler, der den Bundeswehrsoldaten Respekt und Anerkennung zollte: "Ihr Einsatz ist schwer und gefährlich, aber er ist richtig und legitim."

Seit Beginn des ISAF-Einsatzes im Jahr 2002 sind in Afghanistan insgesamt 43 deutsche Soldaten ums Leben gekommen, 26 von ihnen bei Anschlägen oder Gefechten. Hunderte kehrten bereits mit schweren seelischen Wunden heim, weitere werden folgen. Dem steht das Vielfache an Blutzoll, seelischen Grausamkeiten und sozialen Verheerungen bei der afghanischen Zivilbevölkerung sowie den aufständischen Milizen, die aus ihrer Sicht einen ebenso "richtigen" wie "legitimen" Kampf gegen die Besatzer führen, gegenüber.

US- und britische Soldaten hatten im Oktober 2001 den "Antiterrorkrieg" in Afghanistan vom Zaun gebrochen, auch Deutschland unter "rot-grün" beteiligte sich wenig später an dem brutalen Militäreinsatz namens "Operation Enduring Freedom" (OEF). Im Rahmen der "Internationalen Schutztruppe" ISAF sind zur Zeit mehr als 4.300 Bundeswehrsoldaten im Einsatz. Laut einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) verschlingt der Bundeswehreinsatz am Hindukusch drei Milliarden Euro im Jahr.

Tolldreisten euphemistischen Begriffsverdrehungen zufolge, die der rechtlichen Legitimation der Militäreinsätze dienen, führt Deutschland keinen Krieg am Hindukusch, sondern ist allenfalls an einem "nichtinternationalen bewaffneten Konflikt" oder einem "Stabilitätseinsatz" beteiligt. Daß Deutschland aus Gründen der Vorwärtsverteidigung oder aus Bündnispflichten mitmischt, wird von offizieller Seite gerade noch eingeräumt. Aber daß der ehemalige Exportweltmeister aus ökonomischen Gründen Menschen wie du und ich am Kundus zu Leibe rücken könnte, war bislang noch nicht spruchreif. Daß ausgerechnet der höchste Repräsentant des deutschen Volkes, Horst Köhler, Klartext sprach, wo doch das Grundgesetz Waffengänge ausschließlich für den Verteidigungsfall vorsieht, ließ sich dann aber nicht mehr mit einem Bierchen nach dem Spiel, sportsmännisch ausgedrückt, aus der Welt schaffen - bei aller Mühe, die sich Deutschlandradio Kultur und Deutschlandfunk auf ihrer Homepage beim Verwirrspiel um die entlarvenden Interview-Passagen zunächst noch gaben. Köhler hatte nach seiner Rückkehr aus Afghanistan gesagt:

"Meine Einschätzung ist aber, dass wir insgesamt auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden, und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg."

Kann denn ein Mensch mit Sportabzeichen, der sich laut DOSB so unermüdlich für die Werte des Sports, "für Integration, Verständigung, Toleranz und Erziehung zur Demokratie" eingesetzt habe, sein politisches Herz dermaßen verräterisch auf der Zunge getragen haben, daß dies zum folgenschweren Eklat gereichte? Ja, er kann, gerade weil er die "Werte" und "Tugenden" des Leistungsdarwinismus so sehr verinnerlicht hat, daß es für ihn kein Problem darstellt, wenn Menschen selektiert, ausgewechselt, ersetzt, niederkonkurriert, verkauft oder zu Verlierern der Wettbewerbsgesellschaft gestempelt werden. Es ist noch kein strahlender Sieger ohne die Besiegten vom Himmel gefallen. Schicksal? Fehler im Konkurrenzsystem? Zu wenig "Fairneß"-Regeln? Keinesfalls, auch Bombenabwürfe auf Menschenansammlungen in Afghanistan, die sich mitunter als friedlich feiernde Hochzeitsgesellschaften entpuppen, erfolgen nach Regeln, Mandaten und Gesetzen, sogar im Namen von Freiheit und Demokratie, den höchsten Zielen.

Im Duktus eines Trainers, der seiner Mannschaft vor Spielen "Selbstvertrauen", "positives Denken" oder "Glauben an den Erfolg" einzuimpfen versucht, gebärdete sich auch Horst Köhler bei seinem Truppenbesuch in Afghanistan. Umringt von deutschen Soldaten stand er am Biertisch im sogenannten Atrium des Feldlagers, wie "Bild"-online berichtete. "Sprechen Sie mit mir wie mit einem Kameraden", forderte er die Soldaten auf. Doch niemand tat ihm den Gefallen. Ob die Soldaten nicht zuversichtlich seien, fragte Köhler. Wieder soll niemand geantwortet haben. Da fragte er einen neben ihm stehenden US-Presseoffizier auf Englisch, was er über Afghanistan denke. Der Offizier soll laut "Bild am Sonntag" geantwortet haben: "I think we can win this." Darauf habe sich Köhler wieder an die deutschen Soldaten gewandt und gesagt: "Warum höre ich das nicht von Ihnen?"

Yes, Sir! Jawoll, Herr Präsident! Ohne die entsprechende Einstellung - das weiß doch jeder Sportsmann - ist weder ein Spiel noch ein Krieg zu gewinnen! Locker sein, Spaß haben, sich an die taktischen Vorgaben der Kommandohöhe halten, der Rest kommt von ganz allein. Vielleicht sollten sich die frustrierten Soldaten einmal ein Beispiel an Profisportlern nehmen - die gehen immer mit hundertzehnprozentigem Einsatzwillen aufs Feld! Horst Köhler jedenfalls, der bei zahllosen Sportgroßveranstaltungen im Publikum saß, mitgefiebert, mitgejubelt und mitgefeiert hat, schien genug vom "Grundnahrungsmittel Sport" genossen zu haben, um sich imstande zu sehen, auch den deutschen Soldaten eine positivere Einstellung abzuverlangen. Zu Recht lobte ihn der DOSB als großen Wertevermittler des Sports, hatte Köhler doch auch während der Heim-WM im Fußball 2006 für eine positive Grundstimmung im Volk gesorgt, indem er die "Du-bist-Deutschland"-Kampagne tatkräftig unterstützte, so daß sich die Bürger heute wie auf Knopfdruck in den "schwarz-rot-geilen" Freudentaumel versetzen lassen, sobald die Sport- und Unterhaltungsindustrie den Ball in die Manege rollen läßt. Die Funktion des global inszenierten Party-Patriotismus' heutiger Prägung besteht darin, daß - vollkommen losgelöst von politischen Widersprüchen und gesellschaftlichen Gegensätzen - schon ganz wenige Stimmungsfarben multimedialer Performanz ausreichen, daß sich die Menschen als Teil einer weltweiten Feiergemeinschaft identifizieren und dies womöglich sogar als Beitrag zur "Völkerverständigung" verkonsumieren. Daß ohne einen Kampf um Emanzipation und Freiheit eine "Völkerverständigung" nicht zu haben ist, taucht im konsumistischen Konnex gemeinschaftlich erlebter Spannungs- und Erregungszustände gar nicht mehr auf. Ebensowenig, daß das reale Gegenstück der im Sportpatriotismus eingeübten nationalen Verblendung die kriegerische, sich gegen die ausgegrenzten Nationen richtende "Chancen"-Politik der Deutschen darstellt, der Köhler als sportlicher Musterdemokrat so unverblümt das Wort redete.

Indes, mag der massenmedial verabreichte Werteabsolutismus des Sports, dessen gesellschaftliche Binde- und Heilskräfte von seinen kommerziellen wie politischen Nutznießern in immer höhere Dimensionen blanken Versprechens getrieben werden, auch geeignet sein, schnelle soziale Übereinkünfte und feierliche Jawoll-Gefühle zu erzeugen, so daß sich auch Köhler geehrt fühlen darf, wenn ihm der DOSB-Präsident in der Öffentlichkeit wertepolitischen Geleitschutz gibt - an der im offiziellen Sprachgebrauch wenig konsensträchtigen Aussage, "unsere Interessen" an freien Handelswegen, Arbeitsplätzen oder Einkommen seien "im Zweifel" auch mit militärischen Einsätzen zu wahren, gibt es weder etwas mißzuverstehen noch zu beschönigen. Auch am Preis nicht, den "wir" dafür zu bezahlen haben. Das weiß auch ein Realitätenversteher und Schicksalsbeschwörer wie Horst Köhler, der im besagten DLR-Interview gleichwohl erklärte: "Aber es wird wieder sozusagen Todesfälle geben, nicht nur bei Soldaten, möglicherweise auch durch Unfall, mal bei zivilen Aufbauhelfern. Das ist die Realität unseres Lebens heute. Man muss auch um diesen Preis - sozusagen seine am Ende Interessen wahren - mir fällt das schwer, das so zu sagen, aber ich halte es für unvermeidlich, dass wir dieser Realität ins Auge blicken. (...)"

Die flotte Rede des ach so sportlichen Staatsoberhauptes hat zweifellos einen mordsmäßigen Webfehler. Anders als im Sport stehen die Opfer von im Zweifel tödlichen Wirtschaftsinteressen nicht mehr auf, wischen sich den Mund ab und spielen munter weiter.

Anmerkungen:

[1] DOSB-Pressemitteilung vom 31.05.2010. DOSB bedauert Rücktritt des Bundespräsidenten.

[2] www.dradio.de/dkultur. 22.05.2010. 07:50 Uhr. Horst Köhler im Gespräch mit Christopher Ricke.

17. Juni 2010