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KOMMENTAR/105: Dortmunder Pilotprojekt - moderner Ablaßhandel bei Stadionverboten (SB)



Lange Zeit setzte die römisch-katholische Kirche den sogenannten Ablaßhandel dazu ein, um ihren "Schäfchen" irdische Sündenstrafen ganz oder teilweise zu erlassen. Durch die Erfüllung von Bußleistungen (z.B. gute Werke tun, Pilgerfahrten, Spenden) konnten sich die Schuldbeladenen Strafnachlässe (Ablässe) erhandeln. Der Gnadenakt war für den Altar nicht nur ein einträgliches Geschäft, sondern mehr noch ein vorzügliches Instrument, an den gesellschaftlichen Grundkonflikten vorbei (siehe Entfremdung, Ausbeutung und Unterdrückung) ein System autoritativer Verfügungsgewalt zum Nutzen ihrer Träger und Gestalter sicherzustellen und im Alltagsbewußtsein zu verfestigen.

Eine moderne Form des Ablaßhandels finden wir nun in der Zivilreligion des Sports wieder. Die Kirchen heißen hier "Bayern München AG" oder "Borussia Dortmund GmbH & Co.KGaA", und ihre Tempel sind Fußballstadien, in die wöchentlich Millionen von Fans pilgern, um vom Ambrosia der Fußballgötter zu kosten. Ihre Devotionalien sind Trikots, Schals oder Strampelanzüge in den Vereinsfarben, die Kindern von findigen Merchandisern bereits in die Wiege gelegt werden. Ihre Zeremonien bestehen aus choreographierten Gesängen und Tänzen, das Zeigen von Fahnen und Bannern sowie teilweise selbsterfundenen Trommel- und Klatschrhythmen. Durchaus vergleichbar mit bestimmten Formen evangelikaler Religiosität können Fans bei ihren Riten und Gebräuchen in große Sinnesräusche und Ekstase geraten. Die sogenannten "Ultras" sind die Zuschauergruppe, die am meisten zur Stimmung und Atmosphäre in den Stadien beiträgt. Wie in der Kirche sind der Kreativität der Fußballanhänger aber durch den Hausherren Grenzen gesetzt, alles muß im geordneten Rahmen bleiben: Große Kurvenshows bedürfen der Anmeldung bei der Vereinsleitung, viele Aktivitäten sind genehmigungspflichtig, zudem schränken Stadionanimateure die Selbstorganisation der Fans ein. Damit die fußballfürchtigen Schäfchen nicht über die Stränge schlagen, werden sie durch Ordner, Polizisten und Überwachungskameras permanent beobachtet. Bei drohenden oder tatsächlichen Entgleisungen dienen die Bilder zur Identifikation oder Beweissicherung sowie dem präventiven Zugriff. Ab- und Anreise der Fanscharen werden ebenfalls unter strengster polizeilicher Observation und Restriktion durchgeführt. Wer nicht schon durch die gesellschaftlichen Bedingungen der neoliberalen Armutspolitik aggressiv geworden ist, der wird es spätestens im "Polizeikessel" von martialisch auftretenden Ordnungshütern oder nach unverhofften Sanktionsmaßnahmen infolge seiner willkürlichen Registrierung in der "Gewalttäterdatei Sport" werden.

Die für die Gesamtfeier verantwortlichen Priester sind Marketing-Manager, Sportfunktionäre, Fanbetreuer oder Polizeisoziologen, die im Rahmen des "Nationalen Konzeptes Sport und Sicherheit" ein ausgeklügeltes System aus Repression und Prävention betreiben, um die gesellschaftlich tolerierten Formen adoleszenter wie gefestigter Fußballmanien sowie ihre Exzesse in kontrollierten Bahnen zu halten - was natürlich nicht immer gelingt. Zumal die hemmungslose Ökonomisierung des Fußballs (wie auch des Sports insgesamt) traditionelle soziale Bindungen und Werte zerschlagen und den Sport in jeder Beziehung zur Ware kapitalistischer Verwertung gemacht hat. Daß die alles dominierende Unterhaltungs- und Eventindustrie auch Aggressionen züchtet, so daß renommierte Fanforscher wie Prof. Gunter A. Pilz dann fleißig ihre Kritiketiketten kleben können (Pilz gegenüber sid: "Es gibt eine zunehmende Event-Gewalt-Kultur bei Jugendlichen."), um sich anschließend als szenekundige Sachwalter der "Gewaltphänomene" aufzuschwingen, sollte nicht verwundern.

Wegen der zunehmenden Distanz zwischen Fans und ihren Sittenwächtern hatte der BVB Dortmund vor drei Monaten einen Runden Tisch einberufen, an dem Vertreter des Vereins, der Polizei und der oft kritisierten Ultras teilnahmen. Die nicht selten willkürlichen oder überzogenen Stadionverbote gegen Fans, die im Zusammenhang mit einem Fußballspiel polizeilich auffällig geworden sind - etwa durch Schlägereien, Becherwürfe, Feuerwerk, Beleidigung oder Sachbeschädigung -, gehörten zu den brennendsten und umstrittensten Themen. Zumal auch unschuldige Mitläufer, deren Personalien von der Polizei aufgenommen worden waren, nach dem Prinzip der Sippenhaft mit einem Stadionverbot belegt wurden, das von einer Woche bis maximal drei Jahre dauern kann. Für ein Stadionverbot, das der Verein, aber auch der DFB oder Ligaverband aussprechen kann, bedarf es keines richterlichen Urteils, sondern lediglich der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Es reicht schon der bloße Verdacht, der Fan könnte eine Tat begangen oder sich daran beteiligt haben, um ein Verbot auszusprechen. Eine Berufungsmöglichkeit gibt es in Deutschland nicht. Der Bundesgerichtshof hatte diese umstrittene Praxis im vergangenen Jahr ausdrücklich erlaubt. Rund 3.000 Fußballfans sind derzeit in Deutschland mit Stadionverbot belegt, in Dortmund sind davon rund 200 Fans betroffen, die Hälfte der Sperren hat der BVB, den Rest haben andere Vereine ausgesprochen.

Am Runden Tisch wurde auch die Idee zu einer Art Ablaßhandel für Fußballsünder geboren. Die Bereitschaft der entrechteten Fans, sich an Anhörungskommissionen zu beteiligen, wurde mit dem Versprechen auf eine größere und transparentere "Einzelfallgerechtigkeit" geködert. Vor wenigen Tagen ging der BVB mit einem bundesweit einmaligen Pilotprojekt an die Öffentlichkeit. Aus Dankbarkeit für die "treue Fangemeinde" will Borussia seinen Anhängern, "die in ihrer Euphorie ein Stadionverbot provoziert haben", so die einseitige Schuldzuweisung des Vereins auf seiner Homepage, "die Chance auf einen Neuanfang" bieten. Der Verein erhofft sich, daß "Jugendliche und Ersttäter durch Sozialarbeit den Weg zurück in den Signal Iduna Park finden". Gemeint ist das alte Westfalenstadion, mit über 80.000 Plätzen Deutschlands größter Fußballtempel.

Da für BVB-Anhänger ein verpaßtes Spiel ihres Klubs "die Höchststrafe" sei, bekommen sie nun die Möglichkeit zu Bußdiensten. Ähnlich wie im Jugendstrafrecht, nur auf "freiwilliger" Basis, sollen Sozialstunden zur "Resozialisierung" von Missetätern beitragen. Das Angebot zur Aussetzung des Stadionverbots richtet sich an Ersttäter im Alter bis 25 Jahre. In besonders schweren Fällen muß allerdings die Hälfte der Strafe verbüßt sein. "Für jeden ausgesetzten Monat Stadionverbot ist an drei Stunden gedacht", erklärte BVB-Organisationsleiter Christian Hockenjos, der auch zur Kommission gehört, die über jeden Einzelfall entscheidet. In dieser Anhörungs-Kommission figuriert neben Fan- und Polizei-Vertretern mit Andreas Coersmeier - wen wundert's - auch ein Abgesandter der Kirche. Der oberste Katholik der Stadt wurde als "vierter, neutraler Player" ins Boot geholt, wie BVB-Chef Hans-Joachim Watzke sagte. Der bekennende BVB-Fan Coersmeier "soll im Falle von Stadionverboten objektiv, sachlich und abgefedert urteilen". Der Probst sei "von allen Seiten geachtet, ein Mann Gottes und ein Mann des Wortes", erläuterte Watzke die Entscheidung.

Thron und Altar beleben damit, zusammen mit der Sportindustrie, wieder ein altes Bündnis, um Zucht und Ordnung sicherzustellen. Mit welcher Rechtfertigung der Kirche soziale Vermittlungskompetenz zugeschrieben wird, wo sie ihre Kontrollmacht im Interesse gesellschaftlicher Hegemonie schon unzählige Male mißbraucht hat, bleibt dabei ebenso unhinterfragt wie die Kompetenz, die sich ein börsennotiertes Unternehmen wie Borussia Dortmund zumaßt, das zutiefst seiner Profitwirtschaft verpflichtet ist und nun auch noch im Rahmen seines Hausrechts zwecks optimierter Kundenbindung eine Art Ablaßhandel betreiben will. Die "Sünder" sind meist jugendliche Fans, die dazu genötigt werden, neben ihrer Belastung in Schule, Ausbildung oder Beruf noch "gute Werke" zu verrichten. Legt man ein einjähriges Stadionverbot zugrunde, müssen Betroffene immerhin stolze 36 Stunden Sozialarbeit ableisten. Da Wiederholungstäter oder "schwere Jungs" sowieso nicht in Betracht kommen, dürfte die Regelung darauf hinauslaufen, daß sich viele Fans, die sich lediglich geringfügiger Vergehen schuldig gemacht haben - wenn sie denn nicht bloß im Zuge der Sippenhaft "auffällig" geworden waren -, ins Büßerhemd werfen müssen.

Bei der Präsentation des Pilotprojektes trat BVB-Chef Watzke nicht nur dem Eindruck entgegen, das Prinzip Gnade vor Recht würde Einzug halten, sondern auch der Vorstellung, die Jugendlichen würden mit Samthandschuhen angefaßt. In den sozialen Einrichtungen müsse den jungen Fans "richtig was abverlangt werden", sagte Watzke, "es reicht nicht, ein paar Stunden Tischtennis zu spielen". Ziel der Maßnahme sei es auch, so Watzke pfäffisch: "Die Ultras sollen ein Gefühl der Gerechtigkeit erleben."

Die emotionale Abspeisung und Beteiligung der Fans, seit jeher eines der affirmativen Kernregulative im Unterhaltungsgewerbe, spiegelt sich auch in der generellen Akzeptanz des Prozederes wider, wie sie die "Fan- und Förderabteilung" des Vereins beispielhaft auf ihrer Homepage an den Tag legt. Dort heißt es, daß der BVB und Probst Andreas Coersmeier "gemeinsam" über den Antrag eines BVB-Fans auf Aussetzung eines Stadionverbots entscheiden, wobei die Hoffnungen der Fans eindeutig auf dem Kirchenmann ruhen: "Erstmals und einmalig in der Bundesliga entscheidet nun also eine unparteiische Person über die Möglichkeit, ob einem 'jungen' BVB-Fan eine Chance auf Wiedergutmachung gegeben wird."

Probst Coersmeier ist keine "unparteiische Person", sondern ein im Dienste des verbands- und vereinshoheitlichen Gewaltmonopols stehender Priester, der Strafen oder Bußdienste dadurch erträglich machen soll, indem er bei den Betroffenen warme Gefühle der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit auslöst. "Zwischen alles und nichts gibt es immer etwas Besseres", ist sich Coersmeier seiner mäßigenden Vermittlungsfunktion beim Ausdealen des Ablaß-Werkes durchaus bewußt. Als katholischer Würdenträger steht er in der Tradition jenes klerikal-herrschaftlichen Geistes, der Schuld einimpft, um Strafnachlässe und Tilgung zu gewähren. Dem bußfertigen Untertan wird seine "Sozialarbeit" als "Belohnung" vergolten oder wie es auf der BVB-Website heißt: "Zur 'Belohnung' dürfen sie dann wieder ihre Borussia im Stadion anfeuern." Die sportreligiöse Verklärung kennt offenbar keine Grenzen: Aus Stadionverboten wird Belohnung, aus autoritärem Geist wird kirchlicher Segen. So einfach kann man Fußballfans an der Nase herumführen?

22. November 2010