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KOMMENTAR/134: Turn-WM in Japan nach Fukushima - Medien propagieren "totale sportliche Normalität" (SB)



Am 11. März wurde Japan von einer schweren Erdbeben-, Tsunami- und Atomreaktorkatastrophe erschüttert. Keine zwei Monate später besuchte Turnweltmeister Fabian Hambüchen die japanische Hauptstadt Tokio, Austragungsort der aktuellen Turn-Weltmeisterschaft (7. bis 16. Oktober), um mit dem Geigerzähler in der Hand der Welt via YouTube mitzuteilen, "it's really safe over here. Here should be no problem for everyone" [1].

Alles sicher? Kein Problem? Es klingt wie das berühmte Pfeifen im Wald, wenn die Schausteller des Eventsports trotz der anhaltenden Nuklearkatastrophe wieder zum Mitfiebern, Mitjubeln und Mitlaufen auffordern, um im internationalen Wettbewerb um Medienaufmerksamkeit und Marktanteile nicht ins Hintertreffen zu geraten. Die Sport- und Werbeindustrie läuft auf Hochtouren, und sie weiß sich bekanntlich aller Kommunikationsstrategien zu bedienen, angefangen von Heile-Welt-Werbung oder Tu-Gutes-und-rede-darüber-Kampagnen à la "Sportmeetscharity" bis hin zu Schockwerbung oder Che Guevara-Marketing. Selbst gemeinhin dem linken politischen Spektrum zugeordnete Begriffe wie "Rebellion" oder "Revolution" sind von der Sportindustrie vereinnahmt worden, um unverminderten Konsum mit dem kleidsamen Wohlgefühl, man tue etwas für eine gerechtere Welt oder würde sich gegen den Konformismus der Zeit wenden, sicherzustellen. Eine ähnliche Entwertung steht nun dem Begriff "Solidarität" bevor, den der organisierte Sport nutzt, um ungeachtet der nach wie vor grassierenden Gesundheitsgefahren in Japan seine Geschäftsinteressen vorantreiben zu können. Selbst viele Japaner sollen einen Monat nach dem folgenschweren Reaktorunfällen in Fukushima-Daiichi aus Gründen der "Solidarität" dazu aufgerufen haben, Gemüse aus der Umgebung des havarierten AKW zu kaufen, wie tageschau.de (11.04.11) berichtete. Einige Gemüse-Geschäfte hätten auf diese Weise sogar den Umsatz verdoppelt. Wie unschwer zu erkennen, erfüllt "Solidarität" die zweifelhafte Funktion eines moralischen Massenappells, sich aus Verbundenheit mit den Opfern ebenfalls erhöhten Gesundheitsrisiken auszusetzen.

Gut sechs Monate nach dem Unglück hat die japanische Regierung damit begonnen, Warnhinweise für fünf Gebiete nahe der Atomanlage Fukushima aufzuheben. In diesen Gebieten, die zwischen 20 und 30 Kilometer vom Unglücksort entfernt liegen, konnten evakuierte Menschen wieder in ihre Dörfer und Häuser zurückkehren. Dies steht im Widerspruch dazu, daß nach einem Bericht der Zeitung "Asahi" (9.10.11) die japanische Regierung damit rechnet, daß selbst die Dekontaminierung der Gebiete außerhalb der Sperrzone bis März 2014 dauert. Mit anderen Worten: Die Menschen kehren in die kontaminierten Gebiete zurück. Am gleichen Tag wurde vermeldet, daß in der Region Fukushima Kinder und Jugendliche in Massentests einer Krebsvorsorge unterzogen werden sollen - so als ob sich jetzt schon ablesen ließe, was womöglich erst in vielen Jahren an schweren Gesundheitsschäden auftritt ... und dann in der Statistik verschwindet. Aber klingt ja gut: "Krebsvorsorge". Nicht weniger beunruhigend auch, daß die japanische Regierung nach dem Unfall kurzerhand die Strahlengrenzwerte um das zwanzigfache hochgesetzt hatte, und zwar nicht nur für Arbeiter, sondern auch für Kinder - obwohl letztere viel strahlensensibler als Erwachsene sind. Selbst die Europäische Union hatte zwischenzeitlich per Eilverordnung die Grenze der Strahlenbelastung für bestimmte Produkte aus Japan nach oben geschoben. Am 4. Oktober berichtete die Financial Times Deutschland, daß der Versicherungskonzern Allianz künftig keine Lebensversicherungen mehr in Japan verkaufen wird. Weiß das geschäftstüchtige Unternehmen die Zeichen der Katastrophe zu deuten, ohne sie beim Namen zu nennen?

Man möchte seinen Augen nicht trauen: Pünktlich zur Turn-WM in Japan sind alle beunruhigenden Nachrichten, die sowohl die radioaktiven Risiken als auch die Vorbehalte der Turnerinnen und Turner, der Eltern sowie der Trainer und Funktionäre an der Veranstaltung betreffen, fast vollständig aus der Sportpresse verschwunden und durch wohlfeile Solidaritätsadressen ersetzt worden. Wie der Chef des Welt-Turnverbandes FIG, Bruno Grandi, im rund 250 Kilometer von Fukushima entfernten Tokio erklärte, sei die Austragung der WM als Ausdruck der Solidarität mit den schwer geprüften Einwohnern Japans zu verstehen. Alle Sportler würden ihre Verbundenheit mit den Opfern der Tragödien in Japan mit einem Aufnäher auf ihren WM-Trikots zum Ausdruck bringen, so der Italiener.

Daß Solidarität hier zu einem sozialen Etikett verkommt, so als ob sich durch magische Bannzeichen oder positive Gefühle die bösen Geister des radioaktiven Fallouts verscheuchen ließen, war ebensowenig Thema in den Medien wie die Strahlengefahr bei den Turnern, wie dpa (04.10.11) wenige Tage vor der Eröffnungsfeier in Tokio letztmals berichtete. Weil das Auswärtige Amt und andere Organisationen längst alle Reisewarnungen aufgehoben hätten, gebe es überhaupt keinen Grund, Zweifel anzumelden, heißt es von offizieller Seite. "Wir gehen davon aus, dass in Tokio absolut keine Gefahr für unsere Sportler besteht", zitiert dpa den Präsidenten des Deutschen Turner-Bundes (DTB) Rainer Brechtken, der gleichwohl "Bauch-Grummeln" einräumt. Der Mehrkampf-Europameister Philipp Boy aus Cottbus erklärte indessen, daß er den Rat der Fachleute befolgen und "definitiv nur selten auf die Straße" gehen werde. In der Halle oder im Hotel solle die Strahlenbelastung "echt geringer sein".

Auf Turnerinnen und Turner, die ihre Absage an den Welttitelkämpfen erwogen haben, wurde massiver Druck ausgeübt. So warf etwa der ungarische Verbandschef Zoltan Magyar den renitenten Sportlern "Verrat an der Nationalmannschaft" vor. Gegen die "Verräterin" Tünde Csillag soll der heimische Verband gar ein Disziplinarverfahren angestrengt haben. Auch russischen Turnern und Offiziellen wurden von der Verbandsleitung Redeverbote erteilt. Nach dpa-Angaben soll der österreichische Verband sich von Athleten mit Unterschrift bestätigen lassen haben, daß sie juristisch keinerlei Konsequenzen gegen den Verband geltend machen, falls sie in Tokio starten sollten und eventuell Schäden davontrügen.

Um rumänische Trainer, die vor der frühzeitigen Pro-Japan-Entscheidung des Weltverbandes im Mai noch ihre Verantwortung den minderjährigen Turnerinnen gegenüber betont hatten, ist es ebenfalls still geworden. In einem lesenswerten Beitrag von Sandra Schmidt in der Berliner Zeitung [2], die die zweifelhaften Umstände der FIG-Entscheidung beleuchtet, heißt es, daß sich Anfang April bei der Europameisterschaft in Berlin die Funktionäre, Trainer und Athleten noch einig gewesen wären, "dass man sich den unabschätzbaren Gefahren nach dem Super-Gau in Fukushima nicht aussetzen werde". Ohne daß die Trainer, Eltern oder Sportler in die Entscheidung involviert gewesen wären, sei dann aber auch auf Druck von vorgelagerten Institutionen (u.a. IOC, DOSB, japanisches OK), die sich angeblich auf eine "analytische, wissenschaftlich aufgebaute Faktenlage" stützen, pro Tokio entschieden worden, obwohl Moskau sich als Ausweichsort angeboten hatte.

Auch das deutsche Frauen- und Männerteam stand unter erheblichem Druck. Eine Absage hätte zur Auswirkung gehabt, daß man sich nicht für die nächsten Olympischen Spiele hätte qualifizieren können, was wiederum finanzielle Abstriche bei der Spitzensportförderung bedeutet hätte usw. Und natürlich wären die sportlichen Karriereaussichten der Aktiven getrübt worden. Zudem hätten Eltern ihren Kindern, die neben ihrer Schule teilweise über 30 Stunden pro Woche für ihre Turnkarriere im Leistungszentrum schuften [3], nicht voller Stolz auf die Schultern klopfen können...

Internationale Organisationen wie IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.) oder foodwatch kritisierten unterdessen, daß es keine sicheren Grenzwerte für die radioaktive Belastung von Nahrungsmitteln gebe, jede "noch so geringe radioaktive Strahlung" ein "gesundheitliches Risiko" bedeute und jede Grenzwertfestsetzung "eine Entscheidung über die tolerierte Zahl von Todesfällen" sei [4]. Und obgleich erneut Wirbelstürme und starke Regenfälle über Japan höchstwahrscheinlich für eine weitflächige Verbreitung radioaktive Partikel gesorgt haben (am 21. September wurden u.a. Tokio und Fukushima vom Taifun "Roke" getroffen), immer wieder radioaktive Hotspots auch fernab der Sperrzonen gemessen werden und offen darüber berichtet wird, daß aus der beschädigten Anlage in Fukushima weiterhin Radioaktivität entweicht (wenngleich in erheblich geringerem Ausmaß als noch zu Beginn der Katastrophe), scheint sich langsam ein Mantel sportiver Betäubung über die Menschen zu legen. Während den Kritikern der Turn-WM sogar vorgeworfen wurde, sie würden die Gefahrenlage emotional schüren oder Desinformationen aufsitzen, übernehmen die Sportmedien wieder bereitwillig ihren angestammten Part und setzen Ablenkungsthemen und Normalisierungsfiktionen in die Welt. So sind die zeitnahen Sportevents in Japan wie die Formel-1-Weltmeisterschaft oder die Turn-WM von geradezu dissoziativen Stimmungsumschwüngen in der Sportberichterstattung begleitet. Im Deutschlandfunk wurde der Korrespondent Peter Kujath gefragt, ob sich mittlerweile auch in Japan "die totale sportliche Normalität" eingestellt habe. Der ARD-Experte bestätigte dies mit den Worten, daß die "Normalität wirklich zurückgekehrt" sei, man nach sechs Monaten wieder jubeln dürfe und daß die Japaner nach der dreifachen Katastrophe "so ein bißchen aus dieser Depression" herausgekommen seien. "Da sind Sportereignisse durchaus was ganz Gutes." [5]

War bislang der Sport in Japan von den Folgen Fukushimas "überlagert" worden, wie es im Deutschlandfunk hieß, so scheint sich die mediale Rezeption vollkommen gedreht zu haben: Spätestens seit dem WM-Triumph der japanischen Fußballfrauen in Deutschland überlagern neben nationalen Begeisterungsstürmen und Heldenerzählungen auch wieder die Nebelschwaden sportreligiöser Trost-, Hoffnungs- und Heilsversprechen die schwelende Atomkatastrophe in Japan. Fraglich bleibt nur, ob Verbandsdirigismus, marketinggerechte Maulkörbe oder den kommerziellen Interessen angepaßte Solidarität die geeigneten Mittel sind, um dem japanischen Volk im Kampf gegen die Gefahrennormalisierer und Katastrophenverharmloser der Atomlobby beizustehen.

Anmerkungen:

[1] www.youtube.com/watch?v=y7aZGB6cxMo&feature=player_embedded#!

[2] www.berliner-zeitung.de. "Ehrlich ratlos". Von Sandra Schmidt. 09.06.2011.

[3] www.youtube.com/watch?v=E2gZALr3aYY&feature=related. In einem ARD-Bericht (08.04.2011) über Spitzenturnerin Elisabeth Seitz heißt es, daß die Basis ihres Erfolges ein knallhartes Trainingsprogramm sei. Zwei Stunden vor und vier Stunden nach der Schule befinde sie sich im Leistungszentrum Mannheim. Laut Seitz verbringe sie hier die meiste Zeit, "zwischen 30 und 31 Stunden die Woche".

[4] www.schattenblick.de/infopool/medizin/fakten/m2er1115.html

[5] www.dradio.de/dlf/sendungen/sport/1573745/ "Die sportliche Normalität ist zurückgekehrt". Peter Kujath im Gespräch mit Philipp May. 08.10.2011.

14. Oktober 2011