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KOMMENTAR/142: "General-Revision des Leistungssports" angekündigt - noch mehr Gelder ins Medaillengeschäft? (SB)



Nach all den Leckereien über die Festtage bekam der wohlgenährte Sportkonsument dann auch noch diese Kröte zu schlucken: Für die deutsche Olympiamannschaft werden die Sommerspiele 2012 in London "noch sehr viel härter als Peking 2008", kündigte Dr. Thomas Bach an. In verschiedenen Interviews machte sich der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) "große Sorgen um unsere Gold-Chancen für die Zukunft". In der Bild-Zeitung sprach Bach davon, daß der Kampf um die Medaillen "mit nichts vorher vergleichbar" sei. "Noch nie wurde so viel Geld und so viel Wissenschaft in den Sport investiert. Überall gibt es Sonderprogramme: In Russland, China, Großbritannien, den USA, in Australien, Frankreich, Kanada, Japan, Südkorea." [1]

Zugleich ließ Bach durchblicken, daß unter diesen Umständen fraglich sei, ob die deutsche Mannschaft, die 2008 in Peking nach 16 Siegen mit insgesamt 41 Medaillen Fünfter im Medaillenspiegel wurde, die Position halten könne. "Am Ende können ein oder zwei Goldmedaillen mehr oder weniger darüber entscheiden, ob man Vierter oder Neunter im Medaillenspiegel wird", erklärte der Wirtschaftsanwalt dem Sport-Informations-Dienst (SID) [2]. "Wenn wir die finanzielle Basis nicht verbessern, besteht die Gefahr, dass wir mittelfristig nicht mehr in der internationalen Spitze mithalten können."

Welch grausige Vorstellung - "Deutschland" könnte bei der internationalen Medaillenproduktion nicht mehr "mithalten". "Wir" würden "hinterherhinken", "zurückfallen" oder im "Mittelmaß" versinken, wie Bild und Bach als "Gefahr" herausstellen. Funktioniert der Appell des obersten Medaillenzählers an Politik und Wirtschaft, mehr Gelder für den internationalen Rüstungswettlauf im Spitzensport zur Verfügung zu stellen, tatsächlich so einfach? Wie "systemrelevant" ist der "Profi- und Spitzensport", um den es hier ja vor allem geht, wirklich? Würde der Breitensport zugrunde gehen, wenn es den medaillenträchtigen Spitzensport als Werbemotor des industriellen Sport-Medien-Komplexes nicht mehr gäbe, wie dies die nutzverstrickten Sportfunktionäre nahelegen? Würden die Kinder und Jugendlichen antriebslos, desorientiert oder niedergeschlagen durch die Gegend irren, weil sie keine erfolgreichen "Vorbilder" und "Helden" mehr in den Sportarenen oder im Fernsehen zu sehen bekämen, denen sie nacheifern oder mit denen sie sich identifizieren könnten? Hätten die Menschen im Alltag nichts mehr zu reden, zu wetten oder zu lachen, wenn Steffen, Hambüchen und Co. unter fernerliefen blieben? Würden die Topsportler in Erstarrung verfallen, wenn sie nüchtern realisieren müßten, daß persönliche Medaillengewinne aufgrund des weltweit nahezu ausgeglichenen technischen und methodischen Knowhows ohnehin mehr vom Zufall denn von eigener Befähigung abhängen? Verlöre der Wirtschafts- und Technologiestandort Deutschland an Boden, wenn er im Kampf um die letzten Vorteils-Millimeter, -Zehntel oder -Gramm die anderen Nationen nicht mehr erfolgreich niederkonkurrieren könnte? Und wie ist es um die Menschen der Länder bestellt, die seit jeher keinen Blumentopf im internationalen Vergleich gewinnen - sind die alle unglücklich, unmotiviert und ohne Selbstachtung, weil sie sich nicht im Medaillenspiegel wiederzuerkennen vermögen, vielleicht aber auch nie darauf dressiert wurden? Welchen Bären wollen die Verkäufer des Spitzensports dem Massenkonsumenten auf die Nase binden?

Auf die Frage der Bild-Zeitung, wie er verhindern wolle, daß "wir zurückfallen", kündigte Bach nach den Spielen in London eine "General-Revision des Leistungssports" an. "Wir werden alles auf den Kopf stellen und analysieren! Von Olympiastützpunkten bis zur Förderung der Athleten."

Mit "General-Revision des Leistungssports" ist sicherlich nicht die heilsame Ignoranz von Medaillen und Bestplazierungen gemeint, welche staatlicherseits gefordert und im Rahmen der "Zielvereinbarungen" in geheimen Kungelrunden zwischen DOSB, den Fachverbänden und dem Bundesinnenministerium ausgehandelt werden. Genausowenig dürfte damit eine Abkehr vom kommerziellen Hochleistungssport gemeint sein, für dessen Erhalt und expansives Vorwärtsstreben die Funktionseliten sogar bereit sind, ihr wertvolles Humankapital zu knebeln und zu knechten, während sie gleichzeitig die Moral- und Fairneßstandarten hochhalten. Auch die Streiter wider Doping, Wettbetrug, Korruption, Schiedsrichtermanipulation usw. sind eher bereit, die Sportindustrie zu verpolizeilichen, als die Axt an die Wurzel des Übels zu legen und den kommerziellen Hochleistungssport als gescholtenes und umhegtes Stiefkind kapitalistischer Vergesellschaftung mit konsequentem Liebesentzug zu strafen.

Auch die Sportsoziologie, die sich mitunter durchaus kritisch über die Rollen der Akteure im Sportzirkus ausläßt, auf dem Beobachtertrapez hoch über den Köpfen des gemeinen Publikums aber gern die eigene, systemkonforme Rolle zu unterschlagen pflegt, neigt zu dem Schluß, daß die Betrugsproblematik im Sport von komplexerer Natur ist, als es die Theorie von den schwarzen Schafen, die man nur beim Namen nennen und zur Abschreckung aller kräftig bleuen müßte, glauben machen will. Die strukturellen, genaugenommen systemimmanenten Bedingungen für normabweichendes Verhalten im Hochleistungssport sind so offenkundig, daß selbst der Soziologieprofessor und Leichtathletikfunktionär Helmut Digel kürzlich anmahnte, die Handlungsverstrickungen für "Betrug im Sport" weiter zu fassen, nämlich vom Athleten, dem Trainer, dem Cheftrainer, dem Arzt, dem Verbandsarzt, dem Manager, dem Verbandssportdirektor, dem Direktor Leistungssport im Dachverband bis hin zum Ministerialbeamten in der Sportabteilung des Bundesinnenministeriums. Eben dort werden die eng an Medaillenerwartungen gekoppelten Förderprojekte ausgedealt und die erfolgsfixierten Daumenschrauben angezogen. Man muß nicht die drakonischen Ratschlüsse der Sozialwissenschaftler teilen, die in der Regel darauf hinauslaufen, die repressiven Stellschrauben auf allen gesellschaftlichen Verantwortungsebenen noch unerbittlicher zu bedienen, um zu erkennen, daß der Fisch vom Kopf her stinkt. Die Leitorientierungen des Spitzensports - Leistung und Konkurrenz um den Preis der sozialen Ungleichheit - sind herrschaftlichen Charakters und werden über die gesellschaftlichen Träger- und Vermittlungsfunktionen (Leistungssport, Politik, Wissenschaft, Medien etc.) von oben nach unten delegiert.

Wenn der oberste Sportverweser Thomas Bach, der bekanntlich mit den politischen, wirtschaftlichen und juristischen Funktionseliten des Sports eng vernetzt ist, nun in verschiedenen Interviews für einen forcierten Geldmitteleinsatz im Spitzensport wirbt, damit "wir" in der Nationenwertung nicht zurückfallen, zugleich von mehr Dopingkontrollen als jemals zuvor spricht (mit noch mehr Blutkontrollen, die wesentlich teurer als Urinproben sind), der widerrechtlichen "Osaka-Regel" [3] nachtrauert und eine "General-Revision" des Leistungssports ankündigt, die vermutlich den Sport als Wirtschaftsfaktor und unverzichtbaren Sozialkitt anpreisen sowie eine Neujustierung der von Medaillengewinnen abhängigen Prämienverteilung für Trainer einschließen wird, dann ist damit zu rechnen, daß sich die Probleme und Widersprüchlichkeiten des weltweit entfesselten Hochleistungssports noch weiter verschärfen werden. Offensichtlich muß es erst zum sozialen Supergau kommen, ehe der Ausstieg aus dem Medaillengeschäft auch nur erwogen wird.

Anmerkungen:

[1] http://www.bild.de/sport/mehr-sport/thomas-bach/olympia-boss-schlaegt-alarm-21760432.bild.html

[2] http://www.fr-online.de/sport/thomas-bach-im-interview--london-wird-haerter-als-peking-,1472784,11358046.html

[3] Siehe SCHATTENBLICK > INFOPOOL > SPORT > MEINUNGEN > KOMMENTAR/140: Widerrechtliche "Osaka-Regel" soll hintenherum wieder eingeführt werden

4. Januar 2012