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KOMMENTAR/191: Gurkenmaske Tokio - Olympia und Fukushima (SB)


Nukleare Weißwäsche: Tokio soll 2020 die Olympischen Spiele ausrichten



Werden die Olympischen Spiele 2020 in Tokio vor dem Hintergrund des dreifachen Super-GAUs im Nuklearkomplex Fukushima neue Maßstäbe bei der sozialen Verdrängung und medialen Verharmlosung von atomaren Katastrophen setzen? Bei der geheimen Abstimmung auf der 125. Vollversammlung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) in Buenos Aires setzte sich die japanische Hauptstadt mit 60:36 Stimmen gegen Istanbul durch, nachdem sich die Türken im ersten Wahlgang gegen den spanischen Mitbewerber Madrid knapp behaupten konnten.

Ausgerechnet Tokio, rieben sich zahlreiche Beobachter verdutzt die Augen, während die "strahlenden Sieger" den Erfolg ihrer Kampagne unter dem Slogan "Entdecke das Morgen" frenetisch feierten. Japan hatte die wirtschaftlich stärkste Bewerbung von allen Kandidaten offeriert, was bei einem auf Sicherheit, Wachstum und Profite setzenden Weltunternehmen wie dem IOC zweifellos schlagende Argumente sind. Daß sich nur knapp 250 Kilometer von Tokio entfernt im havarierten Kernkraftwerk Fukushima Daiichi eine atomare Katastrophe ungewissen Ausgangs abspielt, konnte die Bewerbung nicht anfechten. Warum sollten sich die erlauchten Herrschaften auch ernstlich für die von der japanischen Regierung, den Behörden und der Akw-Betreibergesellschaft Tepco schon seit langem heruntergespielte Umweltkatastrophe interessieren - könnte man mit einiger Berechtigung fragen. Schließlich hat sich das IOC auch nicht darum geschert, als im Vorfeld der Olympischen Spiele 2012 in London zahllose Menschen auf der ganzen Welt, darunter auch Sportlerinitiativen, gegen das Sponsoring von Dow Chemical protestiert hatten. Der US-amerikanische Chemieriese war u.a. Hauptlieferant des von der US-Armee eingesetzten Kampfstoffes Agent Orange/Dioxin sowie Produzent von Napalm, das sich während des "Amerikanischen Krieges", wie die Vietnamesen den "Vietnamkrieg" nennen, in siedendheißen Feuerwalzen über die Einwohner ergoß. Sofern sie überlebten, erlitten Millionen von Menschen schwerste gesundheitliche Schäden durch den Einsatz der Kampfstoffe. Noch heute leiden etwa vier Millionen Vietnamesen an den Spätfolgen des Chemiewaffeneinsatzes. Doch was zählen die Opfer, wenn Dow Chemical bis 2020 rund 100 Millionen US-Dollar auf das Konto des IOC überweist, damit die Party weitergehen kann?

In Japan, der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt, winkt nun ein weiterer Big Deal in Sachen Weißwäsche. Schon am Wahlabend in Buenos Aires, als sich Tokio gegen Istanbul und Madrid durchsetzte, nickten die IOC-Delegierten ab, was ihnen Premierminister Shinzo Abe an offenkundigen Märchen auftischte: "Lassen sie mich Ihnen versichern: Die Situation ist unter Kontrolle. Sie hat noch nie und wird nie Schaden in Tokio anrichten." Das gefährdete Gebiet um Fukushima würde sich auf eine Fläche von 0,3 Quadratkilometer beschränken, und die sei abgesichert. [1] Tokios Gouverneur Naoki Inose kündigte sogar an, daß der olympische Fackellauf auch durch das betroffene Gebiet führen werde.

Ein Blick in die Zeitungen oder ins Internet hätte genügt, um die Delegierten vom Gegenteil zu überzeugen. Während der Bewerbungsshow ergossen sich Tausende Liter radioaktiv verseuchter Brühe aus den havarierten Atomanlagen in den Pazifischen Ozean. Experten gehen von 300 bis 400 Tonnen verstrahlten Kühl- und Grundwassers pro Tag aus, ohne daß im Augenblick absehbar ist, wie die lebensgefährlichen Leckagen und die anwachsenden Mengen verseuchten Wassers in puncto Lagerung oder Entsorgung in den Griff zu bekommen sind. Für sämtliche Anrainerstaaten besteht schon jetzt das nicht mehr wegzudiskutierende Risiko, mit kontaminiertem Wasser und verseuchter Nahrung in Berührung zu kommen. Daß nicht nur einheimischen Fischern von japanischen Behörden verboten wurde, ihre Netze in den Küstengewässern vor Fukushima auszuwerfen, sondern auch Südkorea Einfuhrverbote verhängt hat, spricht ebenfalls dafür, daß sich die Kontamination nicht, wie von Minister Abe behauptet, auf einen Kreis von 550 Meter rund um die havarierten Atomreaktoren beschränkt. Da während und nach den Super-GAUs immer wieder kräftige Wetterfronten über Japan hinweggefegt sind, muß davon ausgegangen werden, daß es zu einer weiträumigen Verteilung radioaktiver Partikel auch über Land gekommen ist.

Das japanische NOK (JOC) hatte nie einen Hehl aus den Beweggründen für die Bewerbung gemacht. Schon im Juli 2011, vier Monate nach den durch Erdbeben und Tsunamis ausgelösten Reaktorunfällen, bestätigte das JOC seine Kandidatur mit dem Argument, über die Folgen der Fukushima-Katastrophe hinwegkommen zu wollen. "Als wir das letzte Mal Gastgeber Olympischer Spiele waren, konnten wir der Welt zeigen, wie gut wir uns von einer Katastrophe erholt haben", sagte JOC-Präsident Tsunekazu Takeda. 19 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Tokio 1964 als erste Stadt in Asien Olympische Spiele ausrichten dürfen. "Wir möchten dieses Ereignis zu einem ähnlichen Symbol für den Wiederaufbau machen nach der großen Katastrophe, die wir erlitten haben." [2]

Bekanntlich hatten die US-Amerikaner 1945 Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. Anschließend unternahmen die USA im Pazifischen Raum bis 1958 noch 66 oberirdische Kernwaffentests mit einer Sprengkraft von insgesamt 3.200 Hiroshima-Bomben, die zu radioaktiven Niederschlägen bis weit über die unmittelbar betroffenen Atolle und Inseln hinaus führten.

Unmittelbar nach dem Showdown in Buenos Aires bekräftigte Japans Premier Shinzo Abe: "Wir brauchen Träume und Hoffnung, um unseren Wiederaufbau voranzutreiben." Wahrscheinlich soll auch der Sicherheitsmythos von Atomkraftwerken wiederaufgebaut werden, denn die Regierung von Abe und die japanische Atomwirtschaft drängen darauf, daß so bald wie möglich die stillgelegten Akws mit verbesserten Sicherheitsauflagen wieder hochgefahren werden (aktuell liegen Anträge auf Wiederinbetriebnahmen von 12 Meilern vor), zumal Japan nicht darauf verzichten möchte, Nuklearanlagen in Schwellen- und Entwicklungsländer zu exportieren. Daß Hunderttausende Menschen in die zuvor evakuierten Gebiete rund um Fukushima zurückgelassen wurden, obwohl Dekontaminierungsmaßnahmen allenfalls notdürftig durchgeführt worden waren, und das Risiko, Schilddrüsenkrebs oder andere Strahlenerkrankungen zu erleiden, nach wie vor hoch ist, spricht ebenfalls dafür, daß der "Wiederaufbau" mit Hilfe der Sommerspiele wohl eher der Gewöhnung an die prekären Umstände nach dem Motto "Das Leben muß weitergehen" dient. Wie so oft werden die namenlosen Opfer dann als bloße Zahl in der Statistik verschwinden, über deren Signifikanzen sich später die Experten streiten können.

Die Rechnung könnte aufgehen. Denn was sich in Kriegs- und Krisengebieten wie in Afghanistan zur "Ablenkung von Sorgen, Bomben und Raketen" [3] bereits bewährt hat, könnte auch in nuklearen Katastrophengebieten zum Einsatz kommen. Die Aufbau- und Entwicklungsprogramme des Sports haben da einiges im Angebot, um den zu Schicksalsgemeinschaften erklärten Opfern ziviler oder militärischer Katastrophen "ein Stück Normalität", "Abwechselung vom Alltag" oder schlicht "eine bessere Zukunft" in Aussicht zu stellen. Die dicht an der Ablenkung siedelnde Zerstreuungs- und Unterhaltungsfunktion von Sport und Spielen hat seit jeher die Massen in den Bann zu schlagen vermocht.

Darauf, daß unter den strengen Blicken der Weltöffentlichkeit die japanische Regierung gezwungen sein wird, den betroffenen Menschen reinen Wein einzuschenken, sollte man allerdings nicht hoffen. Die internationalen Medien hatten schon bei der Fußball-Europameisterschaft 2012 in der Ukraine kein sonderliches Problem damit, daß sich beispielsweise der Endspielort Kiew nur 150 Kilometer von Tschernobyl entfernt befand. 1986 war es dort zu einem großen Reaktorunfall mit erheblichen Strahlenbelastungen bis weit nach Mittel- und Westeuropa hinein gekommen. Noch heute leiden viele Menschen an den gesundheitlichen Langzeitfolgen, die erhöhten radioaktiven Belastungen sind weithin meßbar. Anläßlich der Fußball-EM war es in den westlichen NATO-Staaten jedoch politisch viel opportuner, am Rückenleiden der schwerreichen "Gasprinzessin" Julia Timoschenko anteilzunehmen und ihre Inhaftierung in der Ukraine zu brandmarken, als sich Sorgen um die Auswirkungen des radioaktiven Fallouts in der Region zu machen, der nach aktueller Einschätzung die Ausmaße von Fukushima noch überstiegen hatte.

In Anbetracht all der Hiobsbotschaften kurz vor der Kür Tokios zur Olympiastadt erklärte der japanische Ministerpräsident Shinzo Abe Fukushima kurzerhand zur Chefsache. Schon aus Gründen der nationalen Außendarstellung dürfte Japan kein Interesse haben, sich in Sachen nuklearem Katastrophenmanagement als "failed state" (gescheiterter Staat) zu präsentieren. Die Vergabe der Sommerspiele nach Tokio wird die Verharmlosungspolitik um die andauernden Kernschmelzen in den Fukushima-Reaktoren 1 bis 3 und die heißen Brennstäbe in dem "wackligen" Abklingbecken des Reaktors 4 noch um das an Beschönigungsstrategien reiche Instrumentarium des Eventsports erweitern. Es hat in der Geschichte der Olympischen Spiele noch keinen Ausrichter gegeben, der zur Repräsentation nationaler Stärke statt auf Inszenierung und Imagepolitur auf ungeschminkte Transparenz gesetzt hätte. Tokio ist ein Volltreffer für die Atomstaaten, die im von energiehungrigen Weltkonzernen und Wirtschaftslobbyisten gelenkten IOC einen kongenialen Partner haben. Die eigentliche Botschaft des olympischen Rührstückes lautet: Die Atomtechnologie ist beherrschbar, auch die lebensbedrohlichen Auswirkungen nuklearer Störfälle lassen sich auf sportliche Weise managen.

Fußnoten:

[1] http://www.sueddeutsche.de/sport/ioc-abstimmung-in-buenos-aires-tokio-darf-olympische-spiele-ausrichten-1.1765068. 07.09.2013.

[2] http://www.spiegel.de/sport/sonst/olympische-sommerspiele-2020-tokio-kuendigt-kandidatur-an-a-774836.html. 16.07.2011.

[3] Siehe auch Schattenblick-Kommentar: "Okkupation der Herzen - Sport vernebelt Schreckensbilanz der Kriegskoalition in Afghanistan"
http://www.schattenblick.de/infopool/sport/meinung/spmek190.html

17. September 2013